6 Schritte in Savasana

Hast du seine großartige Dokumentation “Der atmende Gott” gesehen? Dann weißt du, dass Jan Schmidt-Garre damit nicht nur cineastisches Neuland betreten hat. Sondern er konnte auch seiner persönlichen Yoga-Praxis neue Impulse geben. In diesem Beitrag reflektiert er die Bedeutung der Totenstellung und leitet uns persönlich durch die 6 Schritte in Savasana.

Einer der großen Topoi der Yogaphilosophie, der mir während der Arbeit am “Atmenden Gott” immer wieder begegnet ist, ist der achtgliedrige Weg des Patanjali. Auch Ashtanga-Weg (von Sanskrit ashta: acht, anga: Glied). Patanjali ist eine Schlüsselfigur in der Geschichte des Yoga. B. K. S. Iyengar widmete ihm einen Tempel in seinem Geburtsdorf. Pattabhi Jois nannte seine Yogaschule ihm zu Ehren Ashtanga Research Institute. Die Patanjali zugeschriebenen Yoga-Sutren, in denen sich der Gedanke des Ashtanga findet, sind ein philosophisches Traktat über Technik und Ziel des Yoga. Möglicherweise sind diese von verschiedenen Autoren zwischen dem 2. Jahrhundert vor Christus und dem 4. Jahrhundert nach Christus tradiert und zunächst nur mündlich überliefert.

Der achtgliedrige Pfad

Der Vers über den Ashtanga-Weg lautet in einer eindrucksvollen Begriffsballung “yamaniyamasanapra- nayamapratyaharadharanadhyanasamadhayostavangani”. Dieser benennt die acht Glieder des Yogawegs: seelische Reinheit, körperliche Reinheit, Körperbeherrschung, Atembeherrschung, Sinnesbeherrschung, Konzentration, Meditation und Erleuchtung. Üblicherweise identifiziert man diesen Yogaweg mit dem Lebensweg. Ist der Fokus auf das Positive am Beginn der Yogastunde nur billiger Ablasshandel odernarzisstischer Eskapismus. Aber die Yogaphilosophie lehrt, dass gute Gedanken nicht ohne Wirkung bleiben (ebenso wenig wie böse). Und seien es auch nur die wenigen am Anfang der Praxis. Das wäre das Yama, die erste Stufe des Yogawegs.

Es folgt Niyama, die Reinigung des Körpers. In der Krishnamacharya-Tradition zum Beispiel die Übung Kapalabhati, bei der mit heftigen Atemstößen Nase und Nebenhöhlen gereinigt werden. In diese Phase fällt interessanterweise auch das Gebot der Heiterkeit. Erst an dritter Stelle kommt das, was unter Yoga heute vor allem verstanden wird. Die körperliche Praxis der Asanas in statischer oder dynamisierter Form. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Asana ist “Sitz”. Denn ihre Funktion ist traditionell die Einübung der rechten Haltung für die höheren Stufen des Yogawegs. Nur der in den Asanas geschmeidig. Als moralisch gute und äußerlich reine Menschen vervollkommnen wir in der Jugend unseren Körper mit Yogaübungen. Wenden uns als Erwachsene anschließend unserem Inneren zu. Blenden die Außenwelt schließlich aus. Sammeln uns im Alter in Meditation und Hingabe, um am Lebensende die vollkommene Erkenntnis zu erfahren.

Der Weg von Außen nach Innen

Während der Arbeit am “Atmenden Gott” vertiefte ich mich immer mehr in die Yoga-Praxis. Dabei versuchte ich die Anweisungen von Pattabhi Jois, Iyengar und Sribhashyam umzusetzen. Zudem tat sich mir noch eine andere Interpretation auf. Vielleicht ist der Yogaweg nicht nur der Lebensweg eines jeden von uns. Sondern auch der Weg jeder einzelnen Yoga-Praxis. Alle Lehrer bestehen am Anfang der Praxis auf der inneren Sammlung des Schülers, sei es in der in Indien üblichen Form des gesungenen Mantras. Der Yogi vermag den Meditationssitz “zugleich fest und leicht” (sthirasukha) zu halten.

Stufe 4 ist danach das faszinierende Gebiet der Atemübungen (Pranayama). Es handelt sich dabei um das nach den Asanas das am weitesten verbreitete Glied des Yogawegs. Sie lenken die Aufmerksamkeit nach innen, wo das Bewusstsein nun mittels Pratyahara, einer geheimnisvollen, wenig erforschten Yogatechnik. Diese verschließt die Sinne als Fenster zur Außenwelt, sodass sich nach den rein geistigen Übungen Dharana (Konzentration) und Dhyana (Meditation) schließlich Samadhi einstellen soll. Das sagenumwobene Ziel des Yoga. In der Yoga-Praxis entspricht die fünfte Phase (Pratyahara) der Totenstellung (Savasana). Währenddessen liegt der Schüler regungslos auf dem Rücken und lässt die körperliche und geistige Praxis der vorausgegangen Minuten wirken. In den Yogastudios des Westens spricht man hier auch von Tiefenentspannung, die nach der oft körperlich fordernden Yogastunde höchst willkommen ist. Savasana heißt die schwerste Asana, wie oft zur Verwirrung der Schüler behauptet wird. Ich allerdings möchte Savasana jedoch nicht der Phase der Asanas, sondern des Pratyahara zuordnen. Denn hier lerne ich die Zurücknahme der Sinne. Oder noch zutreffender das Verschmelzen meiner mit der Außenwelt, so dass die Sinne ihre vermittelnde Funktion verlieren. Von den vielen beglückenden Erfahrungen und Erkenntnissen, die ich dem Yoga verdanke, ist Savasana die geheimnisvollste. Dazu braucht es 6 Schritte in Savasana.

6 Schritte in Savasana

1. Sinken

Ich lege mich auf den Rücken, die Arme neben den Körper. Ohne irgendetwas zu korrigieren, nehme ich die intuitive Position meines Körpers an. Ich registriere außerdem, wie die Schwerkraft ihre Arbeit tut und allmählich alle Glieder ins Gleichgewicht bringt. “Wir sollten in uns selber bequem sein, statt unsere Möbel bequem zu machen”, sagt Moshé Feldenkrais in einem seiner Vorträge nach Andrew Lutz. Deshalb vertraue ich darauf, dass ich das “zugleich fest und leicht” finde. Auf der Matte ist diese Phase nicht spektakulär, weil die Variationen begrenzt sind. Im Bett oder auf einem Stuhl ist es schon anders. Zuhöchst mag es sogar im Stehen möglich sein, sich hinzugeben, ohne zu fallen.

2. Wahrnehmen

Ich durchwandere dann meinen Körper im Geiste, erspüre seine Grenzen und lege eine innere Landkarte an. Schmerzt die Schulter, spüre ich Zugluft am Fuß? Wo liegt das Bein auf, wo nicht, liege ich gekrümmt oder gerade? In welcher Haltung befinden sich Kopf, Mund, Zunge? Wo ende ich?

3. Lösen

Ich nehme nun jegliche Spannung aus den Muskeln, aus Stirn, Augen, Mund, Hals, Rumpf, Armen, Beinen. Mit einiger Übung gelingt es mir sogar, die Gedanken zu entspannen. Immer weiter spüre ich in die Enden des Körpers hinein. Dabei entdecke ich tiefer liegende, Anspannungen, die ich lösen kann. Ich begegne Echos früherer Entscheidungen, die sich im Körper abgelagert haben. Auch hier ist Form “sedimentierter Inhalt” (Theodor W. Adorno). Es zeigt sich, dass diese Felder oder Knoten der Anspannung meine Individualität bilden. Und meine Geschichte, jenes Netz von Abgrenzungen, das mich im Wortsinn konturiert und mir Profil gibt. Indem ich sie löse, gebe ich meine Subjektivität auf und gewinne dafür die Teilhabe an etwas Größerem. Ist dieses Loslassen ein Ausfließen, ein Mich-Verlieren? Wahrscheinlich kann man es so empfinden. Ich aber erlebe das Loslassen als ein Angefüllt-Werden mit Nektar, der in mich strömt.

4. Schmelzen

Wo es mir gelingt, alle Spannung zu tilgen, lösen die Grenzen meines Körpers sich auf. Außen und Innen verschwimmen. Ich verschmelze mit Matte, Bett, Stuhl. Wie auf einem alten Geisterfoto, das denselben Körper in Doppelbelichtung zeigt, schwebe ich über mir. Was vorher Knie und Mund und Hände waren, ist jetzt ein einziger friedlicher Organismus. Und auch der nicht mehr, sondern nur noch eine Art Kraftfeld im Übergang vom Ich zur Welt. Jetzt werde ich nichts ändern. Jede Bewegung wäre überflüssig, was den Fluss zum Stocken brächte. Ich fiele zurück ins Individuelle, und augenblicklich würden sich die gefallenen Grenzen wieder aufrichten.

5. Zusehen

Gerade nach einer anstrengenden Asana-Praxis kann es schwerfallen, regungslos in der einmal eingenommen Haltung zu verharren. Und besonders auch dem verführerischen Impuls kleinster Bewegungen zu widerstehen. Gerade habe ich noch geschwitzt, und das Salz juckt auf der Haut. Ich versuche, den Reiz weder auszublenden, noch ihn in den Vordergrund treten zu lassen. Ich betrachte ihn gleichmütig. Wissend, dass er flüchtig ist. Und tatsächlich gibt er den Versuch nach einiger Zeit auf. Er lässt nach und löst sich schließlich ganz auf. So betrachte ich Wolken, die kommen und gehen. Und jede dieser Wolken lässt mich tiefer sinken und rückstandsloser schmelzen.

6. Anvertrauen

Es gibt seltenen Fällen, wo ich mich wirklich tief fallen lassen kann. Dann komme ich in einen Zustand tiefen Eins-Seins mit der Welt, in dem ich mich getragen weiß. Getragen wovon? Das ist wieder eine Deutung, sehr persönlich und wohl nicht übertragbar. Bei mir ist es ein Bild. Ich liege auf einem Blatt, einem großen Eichenblatt vielleicht, in der Hand Gottes. Diese Füllung meines Bildes verdanke ich dem Religionsphilosophen und Anthropologen Jörg Splett. Schildere ich hier, was Patanjali unter Pratyahara, dem fünften Schritt des Yogawegs versteht? Wörtlich bedeutet Pratyahara “fasten”. Desikachar übersetzt es in seinem Buch “Yoga – Tradition und Erfahrung” mit “sich von dem zurückziehen, was einen ernährt”. Patanjali überträgt diesen Begriff auf das Verhältnis von Bewusstsein und Bewusstseinsgegenstand und definiert Pratyahara als das Zurückziehen der Sinne von der Außenwelt.

Unsere Sinne “lassen sich nicht mehr von ihren Gegenständen füttern” (Desikachar). In Patanjalis Worten: “Im Pratyahara wenden die Sinne sich von ihren ureigenen Objekten in der Sinneswelt ab und nehmen stattdessen die Form des Bewusstseins an” (Patanjali: Yoga-Sutren, Vers II, 54). Mit diesem Gedanken sind wir im Zentrum des Yoga, dessen Ziel es ist, das Denken von der kontingenten Welt der Erscheinungen zu emanzipieren. Nach Auffassung des Yoga verbirgt sich unter dem Anschein des Denkens “ein unbestimmtes ordnungsloses Flimmern, das sich aus den Empfindungen, den Worten und dem Gedächtnis speist. Die erste Pflicht des Yogi ist zu denken, das heißt, sich nicht denken zu lassen.” (Mircea Eliade: “Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit”). In der vollkommenen Yogahaltung wird nun nach Patanjali “das Bewusstsein nicht länger durch die Anwesenheit des Körpers gestört” (Patanjali: Yoga-Sutren, Vers II, 48). Und sein Kommentator Vyasa (7. bis 8. Jahrhundert) schreibt dazu in den Yoga-Sutren in Vers II, 47. Die “Asana wird vollkommen, wenn die Anstrengung bei seiner Ausführung verschwindet und es keine Bewegung im Körper mehr gibt. Seine Vollendung wird erreicht, wenn der Geist sich ins Unendliche verwandelt, das heißt, wenn er die Idee des Unendlichen sich selbst zum Inhalt macht”.

Wenn ich in den 6 Schritten in Savasana, mit der Außenwelt verschmelze. Was tut dann noch mein Tastsinn? Er markiert eine Grenze, die sich aufgelöst hat. Wenn Innen und Außen eins sind und meine Sinne nicht mehr fokussieren, weil nichts mehr da ist, woran sie haften bleiben könnten. Was sind dann noch mein Tasten, Riechen, Hören? Ob ich höre oder nicht wird einerlei. Die Sinne werden zwar nicht ausgeschaltet. Aber sie werden aufgehoben. Ich ziehe sie im Sinne Patanjalis auf mich zurück. Wobei ich mich selbst zugleich in die Außenwelt hinein auflöse. Sie nehmen also “die Form des Bewusstseins an”. Dieses ist mit seinem Gegenstand eins geworden. Ein Bewusstsein, das keiner Sinne mehr bedarf, weil es selbst sinnlich geworden ist. Und die es umgebende Welt zugleich ganz und gar geistig.

Yoga als Überwinden von Grenzen

Einer der Zwecke der Yoga-Praxis ist das tägliche Überprüfen, Überwinden und Verschieben von Grenzen. Die Matte ist ein Probeschauplatz der Kämpfe des Lebens. Um welche Grenze geht es in Savasana? Solange wir jung und vital sind, stoßen wir an keine körperlichen Grenzen. Meist erkennen wir erst, wenn wir alt und schwach sind die Wahrheit. Dass die Kraft unserer Muskeln und auch die unseres Geistes nur scheinbar von uns stammen. Dass wir bei jedem unserer Schritte in Wirklichkeit geführt und getragen werden. Und es auch früher schon wurden, als wir uns stark wähnten.

Das absolute Getragen-Werden ist der Tod. Deshalb sind die 6 Schritte in Savasana die “schwerste Asana”. Nämlich das Einfühlen in den Tod. Das ist die tiefere Wahrheit des Namens Totenstellung. Er leitet sich nur äußerlich davon ab, dass wir wie ein Leichnam daliegen. Heinrich Zimmer schreibt dazu in “Yoga und Buddhismus”. “Ein Zustand des Unbewusstseins tritt ein, in dem Welt und Ich schwinden: sie sind nicht mehr. Ein Zustand vergleichbar dem traumlosen Schlafe ist willentlich hergestellt: alles als Gestalt individuell Umrissene, alles als Vorgang vergänglich Verfließende löst sich auf, zerschmilzt in seinem Gegensatze: einem Ungreifbaren, Gestalt- und Vorgangslosen. Das ist der physiologische Sprung ins innere Sein hinter der Individuation.” In Savasana üben wir uns darin, “das Tor zum inneren Jenseits zu entriegeln”. Dadurch erfahren wir, dass Leben und Tod dialektisch ein und dasselbe sind: ein einziges. Dieses selige Getragen-Werden kann uns Yoga lehren.

Du hast die 6 Schritte in Savasana schon umgesetzt? Vielleicht bist du Yogalehrerin und willst du eine Massage im Savasana anwenden?


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