Uns einer höheren Macht hingeben – eine Methode, die wir oftmals in ausweglosen Situationen nutzen. Im Yoga-Sutra hingegen transformiert Patanjali Ishvara pranidhana – die Hingabe an das Göttliche – von diesem „letzten Ausweg“ zu einer essenziellen Praxis. Sie beruhigt den Geist und schafft tiefe Verbundenheit.
Als Ashtanga-Schülerin in Pattabhi Jois Yoga-Shala, in Mysore, ging ich die wenigen Blocks zur Schule am liebsten zu Fuß. Die erste Klasse begann bereits um halb fünf Uhr morgens, und in der dunklen Stille vor Sonnenaufgang säumten bereits mit Saris bekleidete Frauen die Seitenstraßen der Nachbarschaft. Auf dem Boden vor ihren Häusern kniend, erschufen sie so genannte Rangoli, indem sie Reismehl durch ihre Finger rieseln ließen. Die so entstandenen heiligen Zeichen sind auch als Yantras bekannt. Einfach aber auch sehr detailreich gestaltet, strahlten diese Opfergaben an Lakshmi, die Göttin des Glücks und des Wohlstands, stets vor Lebendigkeit – um mit dem Einsetzen des morgendlichen Straßenverkehrs jedoch unweigerlich wieder zerstört zu werden. Die Hingabe, die Kreativität dieser Frauen und nicht zuletzt ihre Bereitschaft, die wunderschönen Werke loszulassen, inspirierte mich stark. Ich freundete mich mit einigen von ihnen an. Als sie mir ein paar einfache Rangoli beibrachten, begriff ich, dass diese Opfergaben nicht bloß eine Pflichtübung oder reine Dekoration darstellen. Vielmehr verbirgt sich dahinter eine kreative Art und Weise zu meditieren, eine Praxis, um sich mit dem Göttlichen in uns allen zu verbinden. Oder wie mir eine der Mütter mit einem Lächeln erklärte: „Diese Opfergaben erinnern mich an das große Ganze, was mir dabei hilft, mich um die kleinen Dinge zu kümmern.“ Wie so viele alltägliche Rituale in Indien, sind diese morgendlichen Opfergaben als Teil der Yogapraxis des Ishvara Pranidhana zu sehen – die Hingabe (Pranidhana) an eine höhere Macht (Ishvara). Ishvara pranidhana ist das Yoga des „Großen Ganzen“: Es stößt einen heiligen Perspektivenwechsel an, der uns hilft, uns der Anmut des reinen Daseins zu erinnern.
Auf moderne Westler mag diese Idee der Hingabe merkwürdig wirken. Uns einer höheren Macht hinzugeben, kennen wir in der Regel als allerletzten Ausweg. Wenn wir unüberwindbar erscheinenden Problemen gegenüberstehen oder wir die Grenzen unseres Willens und unserer Fähigkeiten aufgezeigt bekommen. Im Yoga-Sutra hingegen transformiert Patanjali Hingabe von diesem „letzten Ausweg“ zu einer essenziellen, fortwährenden Praxis. Er stellt Ishvara pranidhana immer wieder als eines der fünf Niyamas (Verhalten sich selbst gegenüber) des achtgliedrigen Pfades heraus (YS 2.32). Zusammen mit Tapas (Disziplin, Ausdauer) und Svadhyaya (Selbstreflexion) ist Hingabe ein Teil des Kriya Yoga (YS 2.1.). Für Patanjali stellt Ishvara pranidhana eine wirksame Methode dar, die ständige Unruhe des Geistes aufzulösen, und damit einen Weg zu Samadhi, einem Zustand der tiefen Verbundenheit. Wie ist das zu erklären? Ishvara pranidhana löst unseren Blickwinkel vom „Ich“. Es löst uns von all den engstirnigen Belangen und Ansichten, die oftmals die Quelle ständiger Ablenkung sind und dazu beitragen, dass wir uns vom Göttlichen abgeschnitten fühlen. Indem wir durch Ishvara pranidhana vom Ego abrücken und uns stattdessen auf die Heiligkeit des Seins konzentrieren, verbinden wir uns mit unserem wahren Selbst. „Durch die Hingabe wird das Ego des Übenden ausgelöscht, und Gnade ergießt sich wie ein Sturzbach auf ihn“, stellt B.K.S. Iyengar in „Licht auf Yoga“ fest. Genau wie das Absteigen durch verschiedene Phasen der Spannung bis zur Entspannung in Shavasana, bietet Ishvara pranidhana einen Weg durch die Hindernisse unseres Egos hin zu unserer göttlichen Natur. Dieser Weg führt schließlich zu Anmut, Frieden, bedingungsloser Liebe, Klarheit und Freiheit.
Verbindung schaffen
Um Ishvara pranidhana zu üben, müssen wir zunächst mit unserer eigenen Verbindung zum Universum beginnen. Im Yoga sprechen wir in diesem Zusammenhang von Ishta-Devata. Die yogische Vorstellung von Ishta-Devata geht davon aus, dass wir alle unsere eigene, persönliche Verbindung zum Göttlichen haben und diese einen mächtigen Weg zum Yoga, zur Einheit darstellt. In der indischen Tradition verehren viele Sadhus (Mönche) Shiva in seiner Funktion als Ur-Yogi. Andere verehren Vishnu, vor allem in seinen Inkarnationen Rama oder Krishna. Aber auch weibliche Göttinnen erfahren eine solche Verehrung, wie etwa Lakshmi, Kali oder Durga.
Der bedeutende Lehrer Sri T. Krishnamacharya war hingegen der Ansicht, dass Yogaübende aus dem Westen besser ihre eigene Sprache, ihre eigenen Vorstellungen vom Heiligen und Göttlichen verwenden sollten, um ihre Verbindung zu Ishvara zu vertiefen.
Ich fühlte mich schon immer zur indischer Kultur hingezogen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass selbst meine katholische Großmutter und ihre Hingabe an die heilige Maria Einfluss auf mich hatten. Als junges Mädchen beobachtete ich meine Oma oft beim Beten. Sie lag dabei auf ihrem Bett unter einem Maria-Bildnis und betete den Rosenkranz. Ishta-Devata kann jedoch auch andere Formen annehmen: Mein Vater ist Künstler und er sieht beispielsweise im Licht das Göttliche, in der Natur, in den Augen der Menschen, in der Kunst. Im Yoga begreift man Ishvara jenseits bestimmter Formen, vielmehr drückt sich Ishvara in allen Erscheinungen aus. Dafür steht die heilige Silbe Om, Ishvara versteht man hier als reine Schwingung. Ishta-Devata ist die Form, die diese Schwingung im Herzen annimmt.
Im Yoga-Sutra beschreibt Patanjali diese innere Anwesenheit von Ishvara als unseren wichtigsten Lehrer (YS 1.26.). Indem wir aufmerksam unserer inneren Stimme lauschen, begeben wir uns in eine Beziehung mit ihr, die sämtliche Aspekte unseres Lebens betrifft. Denke ich an meine Lehrer, zu denen auch meine Eltern gehören, dann erkenne ich: Sie lehrten mich nicht nur die großen Lektionen des Lebens, sondern auch tausende kleine. Immer wieder zeigten sie mir, ob ich mich auf dem richtigen oder auf dem Holzweg befand. Sie öffneten mir die Augen für neue Perspektiven und ermahnten mich, wenn ich mich vor dem Leben verschloss. Ähnlich geht es mir mit meinem inneren Lehrer: Je mehr ich mit diesem Wegweiser übereinstimme, desto mehr leitet er mich in meinen Gedanken, Worten und Taten.
Die Idee der Opfergabe
Wenn Ishvara den inneren Kompass darstellt, dann bedeutet Pranidhana das Bewusstsein dafür, stets mit dieser Essenz verbunden zu bleiben – nicht nur hin und wieder, sondern den ganzen Tag. Eine Übersetzung für Ishvara pranidhana lautet: „die Früchte seiner Taten dem Göttlichen opfern“. Wollen wir Ishvara pranidhana zu einem vitalen Bestandteil unserer Yogapraxis machen, lohnt es sich, einen Blick nach Indien zu werfen. In ein Land, in dem die Idee der Opfergabe die gesamte Kultur durchdringt. Trotz all der damit verbundenen Herausforderungen half mir mein Aufenthalt dort zu verstehen, wie ich Ishvara pranidhana in den Alltag integrieren kann. In ganz Indien sind Darstellungen des Göttlichen zu finden. Menschen jeden Alters bringen dort regelmäßig Opfergaben wie Früchte und Weihrauch dar. Sie widmen den Gottheiten aber auch ihre Yogapraxis – etwa in Form des Anjali Mudra (die Handflächen werden dabei vor dem Herzen zusammengebracht) oder von Asanas, die sie vor den göttlichen Darstellungen praktizieren. Der Verkäufer am Obststand opfert den ersten Umsatz des Tages auf dem Altar seines Karrens. Der Riksha-Fahrer berührt die Füße einer Krishna-Darstellung, bevor er losdüst. Die Mutter aus der Nachbarschaft opfert den ersten Löffel des Mittagessens auf ihrem Küchenaltar. Wenn der Ashtanga-Yogameister Sri K. Patthabi Jois den Yogaraum betrat, trug er auf seiner Stirn stets sein Tilak – ein Zeichen, das seine morgendliche Puja (Opfergabe) darstellte. All diese Praktiken fördern eine grundlegende Verbindung mit dem Göttlichen. Das Ich bewegt sich dabei in den Hintergrund, das Spirituelle tritt in den Mittelpunkt.
Bewusstsein etablieren
Wir Westler, die in der Regel nicht mit solchen Ritualen aufgewachsen sind, benötigen für den Aufbau von Ishvara pranidhana wohl ein wenig mehr Aufmerksamkeit für unsere innere Stimme. Vergleichbar ist dieser Prozess mit dem Erlernen des langsamen und konstanten Atmens während der Asanapraxis. Weder der tiefe Atem, noch Ishvara pranidhana sollten sich seltsam oder unangenehm anfühlen. Obwohl dieser Ansatz bekannt ist, kann sich die Praxis zunächst ein wenig ungewohnt anfühlen. Jeder kann Ishvara pranidhana üben, jede Tat kann dadurch aufgewertet werden – und das unabhängig von der jeweiligen spirituellen Ausrichtung. Es gibt keinen inneren Zustand, kein Gefühl, kein Hindernis, das den positiven Einfluss von Ishvara pranidhana überragt. Unabhängig davon ob Sie ein hingebungsvoller Bhakti-Yogi oder ein völliger Skeptiker sind, ob Sie sich einer einfachen Aufgabe wie dem Kochen widmen oder ein kompliziertes Gespräch führen, ob Sie voller Freude oder verwirrt sind – Ishvara pranidhana erstreckt sich über das gesamte Mandala des Lebens.
Da Ishvara pranidhana sehr umfassend ist, erscheint es oftmals schwer einen Punkt zu finden, an dem man mit der Praxis beginnen kann. Mir persönlich hilft Ishvara pranidhana in schwierigen Situationen, um den Blickwinkel zu verändern. Es hilft mir als Methode, um die einfachen Alltagshandlungen bewusst zu erleben. Die Yogamatte eignet sich dabei bestens als „Sicherheitszone“, auf der man Ishvara pranidhana einem „Testlauf“ unterziehen kann. Der Beginn der Yogapraxis hat dabei entscheidenden Einfluss auf den Verlauf, den „Flow“. Innere Einkehr, die Intention, Chanting und Visualisierung stellen formale Möglichkeiten dar, Ishvara pranidhana einzuleiten. Ich beginne meine Praxis oft ausgestreckt auf dem Bauch liegend, völlig entspannt, und visualisiere vor mir die Lotus-Füße der Göttin – meiner Ishta-Devata. Ich atme tief, lasse den Ballast des Tages hinter mir und spüre schon bald ein Gefühl von Ausrichtung, Inspiration und Klarheit in mir aufsteigen. Das ist mein innerer Kompass, ein Lehrer, dessen Anwesenheit während der Übungen spürbar an Intensität gewinnt. Auch Sonnengrüße können Ishvara pranidhana einleiten: Schließlich waren sie ursprünglich in Bewegung ausgeführte Gebete. Mit jedem Atemzug gibt der Yogi seine Energie an die Sonne zurück.
Während Sie Asanas praktizieren, versuchen Sie herausfordernde Haltungen als Miniaturausgabe der Schwierigkeiten des Lebens zu begreifen. Dies ist eine gute Möglichkeit die Kunst der Hingabe zu üben. In meiner eigenen Praxis beginne ich mehr und mehr, Anspannung als ein Signal zu begreifen. Zwanghaftes Festhalten ist ein Zeichen dafür, dass meine Verbindung zu Ishvara pranidhana schwächer wird. Indem ich meine Anspannung dem Göttlichen opfere, mich leere und hingebe, spüre ich, wie meine Kraft zurückkehrt, mein Atem tiefer und mein Körper flexibler wird. Aber was noch viel bedeutender ist: Mein kleines, aufgewühltes Inneres verschmilzt mit dem großen Ganzen. Und genau wie bei den Frauen aus Mysore und ihren Reismehl-Opfergaben, bleibt dieses Bewusstsein und die Anmut über die eigentliche Haltung hinaus bestehen. Da Ishvara pranidhana jede Tat mit ihrer göttlichen Quelle verbindet, ist es laut Krishnamacharya die wichtigste Yogaübung in dieser Ära des Kaliyuga – dem „eisernen Zeitalter“, in dem die Menschheit ihren Anmut verloren hat. Im Gegensatz zur buddhistischen Praxis der bewussten Aufmerksamtkeit, ist Ishvara pranidhana eher eine Praxis des Herzens: Es erweckt konstante Hingabe an die Quelle des Lebens und öffnet unsere Herzen in jedem Augenblick für das Göttliche – was auch immer kommen mag.
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Shiva Rea begann im Alter von 14 Jahren, sich für Yoga zu interessieren. Seit über drei Jahrzehnten beschäftigt sie sich intensiv mit den Lehren Krishnamacharyas, Tantra, Ayurveda, Bhakti Yoga, Tanz sowie der Kampfkunst Kalarippayat. Sie entwickelte Prana Vinyasa Flow Yoga und Yoga Trance Dance – beides unterrichtet sie weltweit im Rahmen von Teacher Trainings, Workshops und Retreats.