Afghanistan: Yoga leben im Krisengebiet

Was geschieht mit der Menschlichkeit, wenn die Seele an einem der gefährlichsten Orte der Welt unter Dauerbeschuss gerät? Die Yogalehrerin und Anwältin für Menschenrechte Marianne Elliott war zwei Jahre für die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan. Ihre Erfahrungen hat sie in einem Buch verarbeitet. „Zen Under Fire“ ist ein bewegender Bericht über die widrigen Umstände, denen humanitäre Mitarbeiter in Krisen- und Kriegsgebieten ausgesetzt sind.

Die internationale Gemeinschaft verabschiedet sich etappenweise aus Afghanistan. Frankreich und Australien haben damit begonnen, ihre Truppen abzuziehen. 2014 soll die Aufgabe der Sicherheitswahrung an die Afghanen übergehen. Wohin steuert das Land bezüglich Demokratie, Menschenrechte und Sicherheit? In einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov glauben 58 Prozent der Befragten, dass das Land danach wieder in Chaos und Bürgerkrieg versinkt.

Die Neuseeländerin Marianne Elliott kämpft sich gegen den Strom der Ausreisenden nach Afghanistan zurück. Sie ist Anwältin für Menschenrechte und gerade von einem mehrwöchigen Aufenthalt am Hindukusch zurückgekehrt, wo sie sich ein Bild von der Menschenrechtssituation gemacht hat. Zum ersten Mal kam sie 2005 nach Afghanistan, um für eine Menschenrechtsorganisation zu arbeiten. Im Anschluss erhielt sie eine Position als Human Rights Officer für die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) in Herat. Dort sollte sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentieren und untersuchen. Eine Aufgabe, an der sie beinahe zerbrach. Darüber schreibt sie in „Zen Under Fire“. Wie übersteht man die tägliche Konfrontation mit Tod, Elend und Zerstörung? Für die engagierte Yogalehrerin wurde damals ihre tägliche Yoga- und Meditationspraxis zur seelischen Überlebensstrategie in Afghanistan. Für den Körper mussten Sicherheitswesten und gepanzerte Land Rover herhalten. Mariannes Bericht über diese Zeit geht unter die Haut: Als Anwältin ist sie spezialisiert auf Frauen- und Kinderrechte in Konfliktsituationen. Neben der Untersuchung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie unrechtmäßige Verhaftungen, Gewalt gegen Frauen oder die Vertreibung von Familien von ihrem Land, organisiert sie Workshops mit afghanischen Frauen und Männern, um die Rechte der Frauen in Afghanistan zu stärken. Bei ihrer täglichen Arbeit wird sie mit allen Facetten menschlichen Leids konfrontiert: Frauen, die sich dem Willen des Vaters oder der Familie widersetzen und deswegen halb tot geprügelt werden; ganze Familien, die im Zuge von Stammesfehden ihre Grundstücke verlassen müssen; gebrochene Mütter, deren Kinder bei diesen Stammesfehden getötet wurden; Inhaftierte, die in maroden Gefängnissen jahrelang auf ein faires Verfahren warten und häufig Misshandlung erfahren. Daneben setzte der jungen Frau die eingeschränkte Bewegungsfreiheit zu. Das UN-Personal unterliegt strengen Sicherheitsvorkehrungen. In Herat durfte sie ihre Unterkunft niemals zu Fuß verlassen, egal wie kurz die Strecke auch war. In Chaghcharan, wohin sie sich nach ihrem ersten Jahr in Herat versetzen ließ, wurde ihre Unterkunft einmal unter direkten Beschuss genommen. Zusammen mit ihren Kollegen musste sie die Nacht im Bunker verbringen.

Scheitern und Hoffnung
Sie war mit großen Hoffnungen nach Afghanistan gekommen. „Ich hatte gehofft, dass sich durch die Arbeit für die UN bessere Möglichkeiten ergeben würden, Menschenrechte zu schützen. Ich musste jedoch sehr früh erkennen, dass die Möglichkeiten der Einflussnahme in einer Konflikt- oder Gewaltsituation beschränkt waren. Meine Vorstellung davon, was sich verändern sollte und was wirklich möglich war, musste sich ändern“, so Elliott heute. Schon während ihrer ersten Arbeitswoche für die UNAMA in Herat wird sie vor eine Herausforderung gestellt. Amanullah Khan, ein Stammesführer und wichtiger Wortführer im Kampf gegen die Taliban, kommt bei einem Attentat ums Leben. Afghanistan wird zum größten Teil noch immer von Stämmen regiert. Der Frieden am Hindukusch hängt nicht nur von den Taliban ab, sondern auch davon, wie die Stämme zueinander stehen. Eine Realität, mit der Marianne gerade dann in Kontakt kommt, als sich ihr Vorgesetzter in einen einwöchigen Heimaturlaub verabschiedet hat. Noch am Morgen seiner Abreise versucht er, Mariannes Zweifel zu zerstreuen. „Alles wird gut gehen, Marianne. Solange niemand Amanullah Khan umbringt, ist alles in Ordnung“, sagt er und macht sich auf den Weg zum Flughafen. Mittags fällt Amanullah Khan einem Anschlag zum Opfer. Vermutet wird ein Racheakt eines rivalisierenden Stammes. Mariannes Aufgabe ist es nun, einen Flächenbrand der Gewalt zu verhindern. In ihren Schilderungen wird klar, wie sehr sie auf Hintergrundinformationen ihrer afghanischen Kollegen angewiesen ist, um die Lage genau erfassen zu können und die nötigen Schritte einzuleiten. Sie stehen ihr auch in schwierigen Verhandlungssituationen beiseite, in denen sie als einzige Frau unter Männern das Wort führen muss. Überhaupt werden ihre afghanischen Mitarbeiter der Schlüssel, um einen ganz anderen Zugang zu diesem Land zu erhalten, als dies üblicherweise der Fall ist.

In ihren Erzählungen verfängt sich die Neuseeländerin nicht in einer heroisch klingenden Retrospektive. Zwar meistert sie die Situation äußerlich professionell. Innerlich fühlt sie sich jedoch brüchig. Wie ein Seismograf zeichnet sie die Wechselbäder der Gefühle auf, die sie in den kommenden Tagen nach dem Attentat durchläuft. Sie versucht, die Verletzlichkeit zu ignorieren oder sie durch blanken Pragmatismus zu ersetzen. Es gelingt ihr nicht.

Der Wunsch, diese emotionale Achterbahnfahrt mit anderen zu teilen, war eine der Motivationen, warum Marianne Elliott „Zen Under Fire“ geschrieben hat. „Viele Menschen, die in humanitären Arbeitsfeldern arbeiten, haben den Anspruch, als unverwundbar rüberzukommen. Sie haben Angst, sich lächerlich zu machen oder als inkompetent zu gelten, wenn sie zugeben, dass sie die Umstände vor Ort fertigmachen“, so Mariannes Erfahrung. „Ich habe es nie gelernt, mir ein dickes Fell zuzulegen.“ Weder während ihres Arbeitseinsatzes im Gazastreifen und erst recht nicht in Afghanistan. Es ist ihr ein Rätsel, wie ihre Arbeitskollegen so kühl und besonnen wirken können. Die Arbeit scheint sie weniger emotional anzugreifen. „Setzt es euch denn gar nicht zu?“, fragt Marianne jeden, mit dem sie über die tägliche Arbeit spricht. Die meisten geben zu, dass die Arbeit hart sei. Aber sie sagen auch, dass man eine professionelle Distanz dazu aufbauen müsse. Marianne widerstrebt dieser Gedanke. „Der Teil in mir, der sich gegen diesen professionellen Abstand wehrt, ist davon überzeugt, dass es wichtig für mich ist, die Traurigkeit wirklich zu spüren“, schreibt sie. Zudem sieht sie, dass die wenigsten ihrer Arbeitskollegen wirklich Distanz halten können. Einige zeigen Anzeichen von chronischer Erschöpfung wie Gesichts-Tics oder Schlaflosigkeit. Bei anderen steht ein wöchentliches Besäufnis auf dem Plan – „um sich den ganzen Mist rauszuspülen“. Diese Bewältigungsstrategien scheinen gesellschaftlich eher akzeptiert zu sein als Mariannes ständige Heulattacken.

Letztendlich weiß die Autorin, dass sie keine andere Wahl hat, als sich ihrer eigenen Verletzlichkeit zu stellen. Auf die Frage, ob sie keine Angst hatte, durch diese offene Verletzlichkeit im humanitären Arbeitsbereich als Versagerin oder gar als Nestbeschmutzerin abgestempelt zu werden, antwortet sie: „Ich glaube, dass ich durch die Offenheit bezüglich meines emotionalen Zustandes und meiner unglücklichen Beziehung einen Dialog anstoßen kann. Nämlich darüber, was es bedeutet, in solch einem Umfeld zu leben und zu arbeiten“, erzählt sie im Interview. Damit meint sie auch ihre Beziehung zu einem Mitarbeiter während ihres Einsatzes in Afghanistan.

Die Stille finden im Kugelhagel
Yoga praktizierte sie bereits in Neuseeland – „um die Muskeln zu lockern“. Aber als die Verzweiflung kaum mehr auszuhalten ist und Marianne nur noch mit Hilfe von Schlafmitteln nachts zur Ruhe kommt, rollt sie die Yogamatte auch täglich in ihrer kargen Unterkunft aus. Durch Zufall entdeckt sie eine Meditations-CD der buddhistischen Nonne Pema Chödrön. Die Erkenntnisse spenden Marianne Trost. „Während ich die CD höre, habe ich das Gefühl, dass Pema direkt zu mir spricht. Sie beschreibt meine Gefühle und Ängste so akkurat, dass man glauben könnte, sie hätte das ganze Buch einzig und allein für einen niedergeschlagenen, verwirrten Human Rights Officer in Afghanistan geschrieben“, schreibt Marianne.

Sie erkennt, dass der Zweck der Meditation nicht ist, sich gut zu fühlen. Meditation, so Pema Chödrön in ihren Büchern, sei kein Prozess der Selbstoptimierung, sondern ein Prozess der Selbstakzeptanz. „Ein radikaler Gedanke für mich. Mir war vorher nicht bewusst, wie tief ich in der Idee verhaftet war, mich ständig verbessern zu müssen“, schreibt Marianne. Die CD und die morgendliche Meditations- und Yogapraxis werden zu einem unverzichtbaren Bestandteil ihres Arbeitstages. An manchen Tagen fühlt sie sich ruhig und geborgen auf ihrem Meditationskissen – an anderen, als befände sich das Schlachtfeld direkt in ihrem Kopf. „Egal, welcher Zustand sich gerade in den Vordergrund stellt, ich sage mir: Bleib einfach sitzen.“ Allmählich lernt sie auszuhalten, was nicht zu ändern ist: die elenden Umstände, in denen viele Menschen in Afghanistan leben, die Gewaltopfer, die Sicherheitsrisiken und die Traurigkeit. Statt ständig gegen das, was ist, anzukämpfen, akzeptiert sie.

Yoga und Meditation werden für Marianne kein Zaubermittel für ein sorgen- und schmerzfreies Happy End. Sie helfen ihr, besser mit den Aufs und Abs vor ihrer Bürotür umzugehen. Zwar kann sie den Krieg in Afghanistan nicht stoppen, aber dem eigenen in ihrem Kopf ein Friedensabkommen anbieten.

Die eigene Machtlosigkeit akzeptieren
Sie hat keine andere Wahl, als zu lernen, sich inmitten der Realitäten Afghanistans zu entspannen. „Ein Grund dafür, warum meine afghanischen Kollegen die Umstände so akzeptierten, wie sie sind, ist, dass sie diese als gottgegeben ansehen“, erzählt sie. Die Anwältin sieht darin eine Methode, sich der eigenen Machtlosigkeit anzuvertrauen, ohne dabei verrückt zu werden. „Das ist eine Überlebenstechnik. Im Westen wird uns glauben gemacht, dass wir unser Leben genau so gestalten können, wie wir es uns wünschen. An Orten wie in Afghanistan stellte sich dieser Mythos als das heraus, was er ist: nämlich ein Mythos.“ Ist es dieser Mythos, den so viele westliche Menschenrechtler und Entwicklungsarbeiter im Gepäck und im Kopf haben, wenn sie sich in solche Gebiete aufmachen – und der sie frustriert zurückkommen lässt? „Wir halten es für normal, dass die Welt so funktioniert, wie wir sie sehen. Da, wo ich aufgewachsen bin, glaubt man, dass wir zu jeder Zeit die Dinge im Griff haben können. Wenn wir auf Reisen oder aufgrund unserer Arbeit ans andere Ende der Welt gehen, dann nehmen wir diese Sicht zwangsläufig mit.“ In Afghanistan musste sie lernen, die beiden Konzepte vom Glauben an absolute Kontrolle und ihre Machtlosigkeit für die eigene Entwicklung zu nutzen. „Als ich nach Afghanistan kam, kam ich von der einen Seite des Glaubensspektrums. Meine Erfahrungen lehrten mich jedoch, dass man die Dinge auch anders betrachten kann. Jetzt nehme ich mir von beiden Sichtweisen das, was ich gerade benötige.“

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