Ein Ritual für Neujahrsvorsätze

Schaffe Raum für das neue Jahr(zehnt) und lasse Vergangenes los. Am Besten funktioniert das mit dem folgenden Ritual für Neujahrsvorsätze.

Häufig schon habe ich in meinem Leben den Beginn des neuen Jahres zelebriert. Dazu habe ich eine Liste mit allen guten Vorsätzen für meine Zukunft erstellt. Ich habe all das aufgeschrieben, was ich für mich selbst möchte und dabei eine affirmative Sprache verwendet: “Im neuen Jahr werde ich meinen Schülern mit Freude dienen. Ich werde in meinem spirituellen, emotionalen und materiellen Dasein Fülle erfahren.”

Wieso ich diese Übung mache? Ein solcher Vorsatz lässt einen das Ziel anvisieren und den Pfeil auf die Zielscheibe ausrichten. Wenn deine Ausrichtung klar genug ist, gibt sie allem, was du tust, eine fokussierte Richtung. Du wirst dadurch solche Entscheidungen treffen, die dich auf natürliche Weise auf deinem Weg begleitest. Allerdings ist das bloße Setzen deiner Ausrichtung noch keine Garantie dafür, dass du deine Ziele auch verwirklichst. Falls sich versteckte Widerstände unter der Oberfläche deiner Psyche befinden, können sie den Pfeil deiner Absicht auch gehörig sabotieren. Das trifft zu, ganz egal, ob deine Intention nun ist, den perfekten Partner anzuziehen oder deine Yogapraxis zu vertiefen. Daher ist es zu Beginn, wenn du deine Vorsätze entwickelst, notwendig, dass du dir deine Vorbehalte bewusst machst – vielleicht ein verstecktes Gefühl, das Gewünschte eigentlich gar nicht zu verdienen oder schlicht unverarbeitete Emotionen.

Der Schlüssel dazu ist ein Prozess, den ich als “Rekapitulation” bezeichne – eine formelle Rückschau auf die größten Hits und Flops deiner jüngsten Vergangenheit. Während dieses Prozesses holst du dir das gesamte Gepäck, das du mit sich herumschleppst, ins Bewusstsein und damit alles, was deiner Absicht auf subtile Weise im Weg stehen könnte.

Erleichternde Karma-Arbeit

Vor einigen Jahren am Silvesterabend führte ich mein erstes Ritual durch, mit dem ich Bilanz ziehen wollte über meine Vergangenheit. Es war eine Bestandsaufnahme aller großen Veränderungen im vergangenen Jahr. Ich lud ein paar enge Freunde zum Abendessen ein, um gemeinsam am Feuer zu sitzen und über unser Leben nachzudenken. Wir erstellten jeweils eine Liste mit allen emotionalen Momenten des letzten Jahres, an die wir uns erinnern konnten. Die Ziele, die wir erreicht hatten, und die Veränderungen, die wir durchlebt hatten. Alle Handlungen, auf die wir stolz oder über die wir glücklich waren. Alle Momente, in denen wir uns jemandem nahe und geliebt gefühlt hatten.

Anschließend schrieben wir alle Handlungen und Worte auf, die wir bereuten. Wir dachten an Konflikte und reflektierten über Verhaltensweisen, die Leid bei uns selbst oder anderen erzeugt hatten. Wir zogen alle Erinnerungen an Momente hervor, an denen wir nicht unser bestmögliches Selbst gelebt hatten.

Meine positiven Errungenschaften aufzulisten, fühlte sich großartig an. Doch der andere Teil ließen mich immer schwerer fühlen. Normalerweise zog ich es vor, mich selbst als immer freundlich, mitfühlend und sozial kompetent wahrzunehmen, anstatt mir bewusst zu machen, wann ich meine starke Mitte verloren, gemein gesprochen und andere missachtet hatte.

Die Gefühle befreien

Nicht nur ich konnte dieses Gefühl der Schwere wahrnehmen konnte, aber wir blieben jedoch weiter dabei. Für jedes einzelne Ereignis oder jeden erinnerten Moment des vergangenen Jahres schrieben wir ein paar Worte nieder. Jemand schlug vor, dass wir uns alle einen Augenblick Zeit nehmen sollten, um glücklich über alle positiven Momente und traurig über all unsere Fehler zu sein. Jeder las eine positive Errungenschaft auf seiner Liste vor. Von “Ich habe eine 50 Kilometer lange Fahrradtour gemacht” bis hin zu “Ich habe meiner Mutter verziehen” kam so ziemlich alles vor. Dann teilten wir den anderen – etwas verhaltener – eine Sache mit, die wir bereuten. Meine war, dass ich schlecht über andere geredet hatte. Jemand warf ein, wir sollten spezifischer werden. Also erinnerte ich mich an eine bestimmte Situation und wiederholte, was ich damals gesagt hatte. Tatsächlich fühlte es sich befreiend an, dieses Geständnis zu machen, besonders in einem neutralen wertfreien Raum. Nacheinander warfen wir unsere Listen ins Feuer und sagten dabei laut:

“Ich gebe alles, was in diesem vergangenen Jahr geschehen ist, egal ob positiv oder negativ, an das heilige Feuer ab. Möge alles, was ich erreicht habe, gute Früchte tragen. Mögen mir all meine Fehler vergeben werden. Möge alles Karma dieses Jahres aufgelöst werden. Ich bin dankbar für mein Leben.”

Wir sahen zu, wie das Papier in den Flammen verschwand. Am Ende verbrachten wir noch einige Minuten in Meditation die das Herz heilt und sprachen anschließend darüber, wie das Ritual sich angefühlt hatte. Eine Frau namens Jenny sagte, dass sie sich definitiv leichter fühle.

Im Anschluss befassten wir uns mit unseren Vorsätzen für das kommende Jahr. Dabei orientierten wir uns an folgenden Fragen: “Was möchte ich am allerliebsten erreichen? Wie möchte ich mein Leben leben? Welche Qualitäten in mir würde ich gerne stärker hervorbringen?” Auch diese Antworten teilten wir miteinander und warfen anschließend die Listen ins Feuer. Als ich meiner Liste beim Brennen zusah, fühlte ich in mir eine tiefe Freude über das neue Jahr, das ich erleben durfte.

Eine meiner Absichten war, mir darüber klar zu werden, was meine Aufgabe als Lehrerin war. Im Laufe des Jahres konnte ich feststellen, dass ich Events und Programme in einem nie zuvor dagewesenen Maß in die Tat umsetzen konnte. Der Prozess des Rekapitulierens schien mich zu befreien, indem er karmische Rückstände beseitigte, die vielleicht sonst zu Verwirrung oder versteckter Schuld geführt hätten.

Die Tradition dieses Rituals

Seither habe ich an jedem Silvesterabend etwas Zeit damit verbracht, mir die Ereignisse des vergangenen Jahres ins Gedächtnis zu rufen, mal mit Freunden, mal alleine. Es ist zu einem der wichtigsten Rituale in meinem Leben geworden. Seit führe Kurzem sogar mehrmals im Jahr ein solches Ritual durch – ganz besonders dann, wenn sich mein Leben im Wandel anfühlt oder wenn ich alte Projekte abschließe oder neue beginne. Diese kraftvolle Übung, sich Zeit zu nehmen, um sich über Worte und Taten der Vergangenheit klar zu werden, halten viele traditionelle Lehrer für eine Voraussetzung für echtes persönliches Wachstum.

Manche Lehrer raten sogar dazu, dass man sich die Übung mindestens einmal pro Woche oder sogar täglich vornimmt! Swami Sivananda beispielsweise, einer der größten Yogameister des 20. Jahrhunderts, nahm das Rekapitulieren in seine Liste der zwanzig spirituellen Unterweisungen auf. Er schlug vor, man solle ein spirituelles Tagebuch zur “Selbstverbesserung” führen und täglich hineinschreiben. Er warnte aber auch: “Grübele nicht über deine Fehler aus der Vergangenheit nach.”

Zuerst fragte ich mich, ob es nicht eine Form des Brütens über Vergangenem ist, wenn man Listen darüber anfertigt, was man alles gerne anders gemacht hätte. Als ich es jedoch selbst ausprobiert hatte, realisierte ich, dass genau das Gegenteil der Fall war: Der Prozess des Rekapitulierens ist die Vorstufe auf dem Weg zum Loslassen aller Negativität und Selbstverurteilung, die in die Erinnerung an die negativen Handlungen eingebettet sind. Man kann nicht bewusst in eine neue Lebensphase eintreten, wenn man nicht zuvor Bewusstheit in seine Vergangenheit gebracht hat. Das Leben ist so schnell, dass wir die positiven Momente aus den Augen verlieren, und häufig unbequeme Gefühle vergraben. Oder aber, wenn wir uns doch daran erinnern, dann machen wir uns selbst fertig oder versuchen, einen anderen Schuldigen zu finden. Jede dieser Reaktionen hämmert das Unbehagen nur noch tiefer in unser Unterbewusstsein.

Die Macht unbearbeiteter Gefühle über unser Leben

Wenn deine Gefühle verletzt wurden oder du eine andere Person unglücklich gemacht hast, registriert dein Körper dies und hält daran fest. Die Erinnerung daran wird in deinen Neuronen und eventuell sogar in deinen Muskeln abgespeichert. Rücken- und Nackenschmerzen stehen offenkundig in Zusammenhang mit unverarbeiteten Informationen wie Angst oder Ärger.

Unbearbeitete Gefühle häufen sie sich an wie Schlamm. Deshalb spüren wir häufig ein seltsames Gefühl des Unbehagens, Nervosität oder scheinbar grundlosen Ärger. Wenn du dazu neigst, belastende Gefühle und Gedanken zu vergraben, brechen sie häufig an anderer Stelle aus. Sie sabotieren deine guten Vorsätze, verursachen Schmerzen im Körper und beeinflussen deine Art zu sprechen und zu handeln.

Dieses Rekapitulieren unterscheidet sich von Psychotherapie. Anstatt sich mit den Gründen und Ursachen aus der Vergangenheit zu beschäftigen, betreiben wir einfach Hausputz auf mentaler und emotionaler Ebene. Indem du deine Erfolge anerkennst und deine Fehler zugibst, hast du nicht nur die Chance, aus den Erlebnissen und Erfahrungen zu lernen, sondern auch die Möglichkeit, sich von den emotionalen Rückständen zu befreien.

Ein ehrlicher Blick auf sich selbst

In der Yogatradition entspricht die Übung des Rekapitulierens “Vichara”, der Selbstergründung oder -reflexion. Dieses Ergründen basiert auf Fragen. Diese Fragen können spontaner Natur sein, wie “Weshalb fühle ich mich gerade unwohl?”, oder etwas radikaler: “Wer bin ich wirklich?” Tatsache ist jedenfalls, dass jede Tradition eine Form der Rekapitulierung anbietet – von der Beichte, über Karma-Auflösung bis hin zur moralischen Inventur.

Der Zweck ist immer derselbe: Es ist eine Möglichkeit, das Unkraut aus unserem inneren Feld zu entfernen. Uns selbst ehrlich zu betrachten, ist für die meisten von uns nicht einfach. Häufig ist es schlichtweg unangenehm. Unsere Gewohnheit, uns selbst zu verurteilen, schuldig zu fühlen oder Unerfreuliches zu leugnen, ist oft tief verwurzelt. Vielen Menschen fällt es schwer, Erfolge anzuerkennen. Den meisten fällt es allerdings noch schwerer, Fehler zuzugeben. Ein Grund liegt darin, dass wir uns häufig so sehr mit unserer gewohnten Art zu handeln identifizieren und glauben, uns nicht ändern zu können. Manchmal wollen wir es auch gar nicht!

Durch Reflexion zur Transformation

Je mehr du dich daran gewöhnst, auf deinen Tag, deine Woche oder deinen Monat zurückzublicken und dein Unbehagen aus dem Weg zu räumen, desto automatischer läuft dieser Vorgang ab. Irgendwann wird der “Selbstreinigungs”-Prozess etwas sein, das du regelmäßig praktizierst. Ebenso wie das Gefühl, in einem frisch überzogenen Bett zu liegen, werden wirst du mit der Zeit auch die Offenheit und Freiheit lieben lernen, die sich einstellt, wenn du dir die Rückstände aufgeladener Ereignisse bewusst gemacht und losgelassen hast.

Ein Ritual des Loslassens

Ein Geheimnis beim Erinnern ist, dass es möglichst in einem sicheren Raum der Selbstakzeptanz stattfinden sollte. Gemeinsam mit anderen Menschen kann es ein sehr kraftvolles Ritual sein, wenn die Gruppe fähig ist, einen gemeinsamen Raum mitfühlenden Beobachtens zu schaffen. Die Gruppenmitglieder sollten als klarer Spiegel für die anderen fungieren können und keinesfalls zu Richtern der Fehltritte oder gar zu Neidern der Erfolge werden. Es hat aber auch Kraft und ist manchmal einfacher, diese Zeremonie mit sich alleine durchzuführen. Der Prozess verläuft in vier Schritten:

Die vier Schritte des Reinigungs-Rituals

1. Verbringe anfangs ein paar Minuten damit, in deinem Inneren ein Gefühl liebender Akzeptanz zu entwickeln. Du kannst dich beispielweise an einen Moment erinnern, in dem du dich vollkommen angenommen gefühlt hast – entweder von einer anderen Person oder in der Natur. Fühle dieses Gefühl des Angenommenseins in deiner Erinnerung und lass dich in dieses Gefühl hineinsinken.

2. Schreibe sämtliche Erlebnisse, Worte und Ideen auf, die für du mit Emotionen beladen bist. Die wahre Herausforderung liegt darin, sich die negativen Erlebnisse bewusst zu machen. Schreibe entweder ein paar Worte dazu oder schreibe die ganze Geschichte auf, indem du auch erwähnst, was du oder die andere Person gesagt und getan hast. Tue dies möglichst objektiv und beschreibe deine Gefühle dazu mit derselben Objektivität – warst du stolz, ärgerlich, angsterfüllt?

3. Lies dir die Liste durch. Falls es etwas gibt, wofür du dich entschuldigen solltest oder das du irgendwie in Ordnung bringen musst, mache dir eine Notiz. Beschließe, dass du alle notwendigen Handlungen unternehmen wirst, um die Energie zu befreien, die sich in dem vergangenen Erlebnis angestaut hat. Und entscheide dich dafür, dass du künftig dein Bestes tun wirst, um diesen Fehler nicht zu wiederholen.

4. Der nächste – und wesentliche – Schritt ist, die Negativliste zu zerreißen, zu verbrennen oder anders zu vernichten. Während du das dies tust, denke bewusst: “Mögen diese negativen Vorfälle, Gefühle und Handlungen sich auflösen. Möge kein Wesen durch sie verletzt werden.” Du kannst auch die positive Liste verbrennen und sich dabei wünschen, dass deine Erfolge und guten Taten zum Wohle anderer Lebewesen sein mögen. Mach es sofort. Verwandele die Dokumentation in ein Befreiungritual.

Die Veränderung neuronaler Verknüpfungen

Es handelt sich keineswegs um ein bedeutungsloses Ritual: Die Gehirnforschung weiß, dass es wichtig ist, bewusst einen anderen neuralen Pfad zu wählen, wenn man eine Gewohnheit oder eine Denkweise verändern möchte. Dazu dient es, einen Gedanken mit einer symbolischen oder tatsächlichen physischen Aktion zu verknüpfen. Der einfache Vorgang, zu sammeln und dann symbolisch loszuwerden, was einen beschäftigt, führt dazu, dass du tatsächlich den negativen Gedanken oder die negative Tat, die du loswerden willst, vernichtest.

Jake, der im ersten Jahr an dem Neujahrsritual teilnahm, fühlte sich schlecht aufgrund eines Streits.  Beinahe ein Jahr herrschte Funkstille zwischen ihm und seinem Bruder. Er nahm sich Zeit, um den Streit nochmals zu rekapitulieren und schrieb auf, was er gesagt und gefühlt hatte, als er die Beherrschung verloren hatte. Sobald er alles aufgeschrieben und das Papier zerrissen hatte, bemerkte er, dass er keinen Groll mehr in sich trug. Am nächsten Tag rief er seinen Bruder an, die beiden vereinbarten ein Treffen. So konnten die beiden damit beginnen, ihre Beziehung zu reparieren.

Rekapitulation ist der Schlüssel zur Veränderung. Es ist das Geheimnis, effektive Absichten zu kreieren. Und eines der mächtigsten Werkzeuge im Yoga.

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