Dr. Ronald Steiner: Ashtanga Yoga goes West

Dr. Ronald Steiner erklärt, wie Ashtanga Yoga in den Westen kam, wie es mit Patanjali Yoga verbunden ist und wie man die Praxis von der Matte ins Leben bringt.

Du hast Teil 1 der Ashtanga-Serie überlesen? Kein Problem: Hier geht’s zum ersten Teil des Artikels “Dr. Ronald Steiner: Was ist Ashtanga Yoga

Ashtanga Yoga goes West

Im Jahr 1964 fand der Belgier André van Lysebeth als erster Westler seinen Weg in Pattabhi Jois’ kleine Yogaschule in Mysore. Erst knapp zehn Jahre später folgten weitere Schüler aus Europa und Amerika, um Ashtanga Yoga von Pattabhi Jois und B. N. S. Iyengar zu lernen. Dadurch war im Westen die Ära des dynamischen Yoga eingeläutet. Ashtanga Yoga wurde weitergegeben, praktiziert, erfahren. Die rohe Form aus Indien wurde um Details erweitert und verfeinert. Techniken für Hilfestellungen und die anatomische Ausrichtung wurden perfektioniert. Verschiedene Lehrer gaben dem Übungssystem unterschiedliche Schwerpunkte.

Dr. Ronald Steiner: “Ashtanga Yoga verbindet”

Vielschichtig und schillernd, wie ein mehrdimensionales Gewebe, umspannt Ashtanga Yoga heute den Globus und verbindet Yogis auf der ganzen Welt miteinander. Vielleicht ist Ashtanga Yoga wie Joghurtferment. Wenn man zu Milch ein wenig Ferment hinzufügt, werden die darin befindlichen Bakterien die Milch in Joghurt umwandeln. Egal in welchem Land Ferment mit Milch vermengt wird, es wird immer dasselbe passieren. Dennoch wird der Joghurt jedes Mal etwas anders schmecken. Das Ferment ist dasselbe, aber die Milch ändert sich. So hat auch Ashtanga Yoga überall einen etwas anderen Geschmack, aber es bleibt immer Ashtanga Yoga.

Besondere Magie des Ashtanga Yoga

Wer einmal das dynamische Übungssystem erlernt hat, kann auf der ganzen Welt in Ashtanga-Yogaschulen üben. Das ist eine schöne Erfahrung und fühlt sich ein bisschen so an, wie auf der ganzen Welt zu Hause zu sein. Nebenbei wird man immer kleine Unterschiede bemerken, die wertvolle Hinweise für die Praxis sein können. Diese Universalität des Ashtanga Yoga, kombiniert mit individuellen Besonderheiten von Lehrer und Schüler, ist Teil seiner besonderen Magie. Ashtanga Yoga gehört heute zu den bekanntesten und am meisten praktizierten Yogatraditionen der Welt. Neben der traditionellen Übungsform entstand im Westen eine Vielzahl von Abwandlungen und Abspaltungen. Diese Sprößlinge des Ashtanga Yoga sind unter Namen wie Vinyasa Yoga, Power Yoga, Jivamukti Yoga oder Dynamic Yoga bekannt geworden.

Patanjali Yoga

Forscht man nach dem philosophischen Fundament des Ashtanga Yoga, stoßen wir unweigerlich auf das Yoga-Sutra des Patanjali. “This is Patanjali Yoga” (“Dies ist Patanjali Yoga”), pflegte mein Lehrer Pattabhi Jois zu sagen. Genau wie Pattabhi Jois verweisen erfahrene Lehrer der Tradition immer wieder auf das Yoga-Sutra von Patanjali. Die physische Praxis des Ashtanga Yoga wird als Kommentar zu der darin enthaltenen Philosophie verstanden. Erst damit wird ein direkter, auf eigene Erfahrung beruhender Zugang zu den zunächst abstrakt erscheinenden philosophischen Konzepten möglich. Für jeden einzelnen Satz des Sutra gibt es eine Entsprechung in der Praxis.

Der achtgliedrige Pfad

Der Name Ashtanga Yoga selbst nimmt Bezug auf einen von Patanjali beschriebenen achtgliedrigen Pfad. Die ersten beiden Glieder verlangen nach der praktischen Umsetzung in unserem täglichen Leben, die letzten beiden entwickeln sich spontan auf den vorherigen aufbauend. Dazu ist allerdings die Praxis auf der Yogamatte nötig – die vier mittleren Glieder. Im Ashtanga Yoga werden diese vier mittleren Glieder zu einer einzigen verbundenen Praxis zusammengefasst. Es gilt Harmonie in physischen (Asana), energetischen (Pranayama), emotionalen (Pratyahara) und mentalen (Dharana) Aspekt unseres Menschseins herzustellen.

Von der Matte ins Leben

Trainierte Körper, anstrengende Positionen und akrobatische Bewegungsabfolgen – mit dieser Beschreibung wird Ashtanga Yoga oft auf das rein Körperliche reduziert. Hinter der Oberfläche übersehen wir leicht, dass die physische Praxis lediglich unser Übungsfeld ist, um eine Weisheit zu erfahren, die schließlich das gesamte Leben durchdringt. Das Leben stellt uns beständig vor neue Aufgaben und Herausforderungen. Es gilt, immer wieder das richtige Maß zu finden und die innere Harmonie zu erhalten. Ist unsere Praxis auf der Yogamatte zu einfach, wirkt sich das im Alltag so aus, dass wir unvorbereitet an Aufgaben herantreten. Erst die intensive, fordernde Körperpraxis kann ein Trainingsfeld für diese Anforderungen werden.

Maßgeschneiderte Übungsserien

Wir können beruhigt sein: Ashtanga Yoga bietet für jeden immer wieder eine Bewegung oder Position, in der es schwer wird, die innere Balance zu finden. Seine Übungsfolgen sind darauf ausgerichtet, uns an einen Punkt der körperlichen Grenze und scheinbaren Unmöglichkeit zu führen – hier beginnt die Arbeit auf dem Yogaweg. Dabei sind die Möglichkeiten, eine Herausforderung zu finden, unendlich: “Jeder Mensch kann Yoga üben – solange er atmen kann”, so formulierte es Krishnamacharya. Einen erfahrener Lehrer schneidert aus den sechs traditionellen Übungsserien einen perfekt passenden Maßanzug für jeden seiner Schüler, egal ob dieser jung oder alt, sportlich oder unsportlich, gesund oder körperlich eingeschränkt ist.

Philosophischer Hintergrund: Von der Erfahrung der Rishis

Vor vielen tausenden Jahren, so berichtet eine Sage aus Indien, tauchten einige Menschen hinter den äußeren Schein unserer physischen Welt. Diese Rishis, wörtlich “Seher”, erfuhren eine ewige, göttliche Wahrheit. Inspiriert von dieser alles verändernden, neuen Sicht auf die Welt, suchten sie nach Wegen, ihre Erfahrung mit anderen Menschen zu teilen. Jedoch liegt die Essenz jenseits des Intellekts und Worte vermögen sie nicht zu beschreiben. Die Rishis begannen die Rhythmen der Welt zu Gesängen verdichtet an eine neue Generation von Menschen weiterzugeben. Auf diese Weise entstanden die Wurzeln der Traditionslinien des Yoga.

Der Tanz des Atems mit dem Körper

Mit der Zeit verfestigten sich einige Rhythmen und Gesänge zu den Texten der Veden. Viele andere wurden nie schriftlich festgehalten. Sie wurden ausschließlich mündlich überliefert – und die mystische Erfahrung des Yoga wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Manche der Rhythmen und Gesänge bedienten sich nicht einmal der Sprache, da die eigentliche Erfahrung nicht in Worten ausgedrückt werden kann. Wer in die Praxis des Ashtanga Yoga eintaucht, steht in dieser lebendigen Tradition. Die dynamische Praxis des Ashtanga Yoga ist ein mit Körper und Atem ausgedrückter Gesang, der den Rhythmus der Welt widerspiegelt. Durch konstante Praxis wird der Schlüssel zu dieser unmittelbaren Erfahrung weitergegeben. Tausende von Yogis erfuhren im Laufe der Zeit die Weisheit hinter dem Tanz des Atems mit dem Körper.


Der Sportmediziner Dr. Ronald Steiner zählt zu den bekanntesten Praktikern des Ashtanga Yoga. Die von ihm begründete AYInnovation®-Methode baut eine Brücke zwischen der Tradition und progressiver Wissenschaft, zwischen präziser Technik und praktischer Erfahrung. www.AshtangaYoga.info

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