Avidya identifizieren: Wer bin ich wirklich?

Weil die Gewohnheit, sich mit dem Gedankenstrom zu identifizieren, so tief in uns wurzelt, muss man sich schon etwas anstrengen, um den wahren inneren Vorgang zu erkennen. Tust du es dennoch, wirst du feststellen, dass die Mechanismen der Selbst-Definition im Autopilot ablaufen. Diese sind genau wie der Ticker, der am unteren Bildschirmrand von Nachrichtensendern mit läuft: Gefühle und Gedanken und sogar das Selbstgefühl in Endlosschleife. Manches kommt immer wieder, anderes wird ausgetauscht, aber in jedem Fall zieht es einfach vorbei. Du sagst dir aber nicht, “hier gibt es Traurigkeit”, sondern “ich bin traurig”. Du denkst nicht, “das ist eine brillante Idee”, sondern “ich bin brillant”.

Falsche Identifikation

Wir erinnern uns: “Avidya hält das Unbeständige für ewig und das Unreine für rein, Avidya verwechselt Leid mit Glück und Nicht-Selbst mit wahrem Selbst.” In unserem Inneren bedeutet das, dass man eine Idee oder ein Gefühl für “ich” oder “meines” hält. Und als Folge daraus beurteilt man sich selbst als gut oder schlecht, rein oder unrein, glücklich oder unglücklich. Dabei ist keines dieser Gefühle “ich”. Sie ziehen nur vorüber. Es stimmt, dass sie tiefe Wurzeln haben können. Schließlich hat man sich oft schon seit Jahren mit ihnen identifiziert.

An einem dieser trüben Morgen beschloss ich, mit meinem Gefühl zu arbeiten (was ich vermutlich nicht getan hätte, wäre ich mit einem fröhlichen Gefühl aufgewacht). Ich schloss die Augen, atmete in den unteren Bauch, spürte das sinnliche Vergnügen der Atemwahrnehmung im Körper und beobachtete meine Gefühle. Dann vergegenwärtigte ich mir, dass ich nicht meine Gedanken bin. Ich nahm wahr, dass die Traurigkeit wie eine dunkelblau getönte Brille wirkte, die jede Wahrnehmung einfärbte. Der ausbleibende Rückruf einer Freundin wirkte wie eine Zurückweisung, dabei war sie nur sehr beschäftigt wegen einer Deadline. Die Blätter der Eiche vor meinem Fenster schienen traurig nach unten zu hängen, obwohl mir an einem sonnigen Tag sicher aufgefallen wäre, dass sie kräftig himmelwärts sprießen.

Trügerisches Glück und Unglück

Dann kam tatsächlich die Sonne hervor. Sofort löste sich meine Traurigkeit auf. Jetzt war der Identifikationsmechanismus sofort damit beschäftigt, mir zu erzählen: “Ich bin glücklich. Das war alles nur eine Reaktion auf das trübe Wetter. Mir geht’s eigentlich wunderbar. Ich bin nämlich im Grunde ein positiver Mensch. Gut dass ich die Achtsamkeitsmeditation gemacht habe. Es hat funktioniert.” Eine Falle. Denn eigentlich war mein Geist im selben Prozess gefangen wie zuvor. Er schnappte sich die Stimmung und identifizierte sich damit, er beschrieb sie als “glücklich” und folgerte “ich bin glücklich”. Um mich von Avidya zu lösen, muss ich mich also auch von der Identifizierung mit der glücklichen Stimmung lösen. Das führte einerseits zu Aversion, andererseits zu Anhaftung. Diese Gefühle lösen Ängste aus. In diesem Fall die Befürchtung, die Traurigkeit sei dauerhaft, schwerwiegend und unausweichlich.

Den Schleier lüften

Avidya aufzulösen, ist ein vielschichtiger Prozess. Da verschiedene Aspekte von Avidya auf verschiedene Typen der Praxis ansprechen, empfiehlt die indische Tradition mehrere Arten von Yoga. Liebevolle Devotion (Bhakti Yoga) bekämpft die Unwissenheit des Herzens, selbstloses Handeln (Karma Yoga) richtet sich gegen die Tendenz, Lob und Lohn zu erwarten und daran anzuhaften, Meditation (Raja Yoga) soll den rastlosen Geist bändigen. Meditation hilft, die tieferen Schichten der Unwissenheit aufzulösen, die zur Idenitfikation mit deinem Körper, deinen Stimmungen, Gedanken oder Wesenszügen führen. Tag für Tag kannst du immer neue Aspekte und Nuancen von Avidya zu durchbrechen. Jedes Mal, wenn du deine Aufmerksamkeit nach innen richtest und die tiefere Bedeutung eines Gefühls reflektierst. Aber egal, auf welcher Ebene du ansetzt. Es wird sich etwas verändern.

WIR SOLLTEN FORSCHEND HINTER DAS BLICKEN, WAS UNSERE SINNESORGANE, UNSERE VORURTEILE ODER UNSERE VOM EGO GESTEUERTEN GLAUBENSSTRUKTUREN UNS MITTEILEN.

Sitzen mit dem Selbst

Jedes Mal, wenn wenn du in einer schwierigen Situation bewusst bleibst, befreist du dich mehr. Das kann auf zig verschiedene Arten geschehen. Zum Beispiel wenn du dein Bewusstsein für deine Verbindung mit anderen Menschen schärfst, indem du besonders gut zuhörst und einen liebevollen Umgang pflegst. Du erhöhst dein Bewusstsein für dich selbst, indem du deine blinden Flecken wahrnimmst oder indem du deine Emotionen und deren Effekte auf den Körper beobachtest. Das ist nicht nur eine Schlüsseltechnik der spirituellen Praxis, sondern auch eine Selbsthilfemaßnahme.

Zum Beispiel indem sich Georg fragt: “Stimmt es wirklich, dass die Affäre meiner Frau mein Selbstgefühl beeinflusst?” Das Verhalten seiner Frau verändert nicht, wer er ist. So kann er nach vorne blicken. Wenn er wahrnimmt, wo genau in seinem Körper Traurigkeit sitzt. Durch das Hineinspüren kann er auch der Wurzel seiner Ängste auf die Spur kommen. Er erkennt, dass er Überzeugungen in sich trägt (etwa: “ich bin nicht liebenswert”) und dass diese aus der Kindheit stammen, aber nichts mit dem Jetzt zu tun haben. Dann kann er mit den Gefühlen arbeiten. Sie ausatmen oder durch positive Gedanken ersetzen und beobachten, welche Wirkung diese Techniken haben. So könnte die Selbsterforschung ihm helfen, sich darüber klar zu werden, wie er mit dem Wunsch nach einer offenen Beziehung umgehen möchte.

Avidya ist eine tief verwurzelte Gewohnheit des Geistes. Gewohnheiten kann man aber auflösen. Patanjalis Sutra über Avidya ist nicht nur eine Definition der Unwissenheit. Sondern auch der Schlüssel zur Lösung. In dem Moment des Hinterfragens beginnst du, den wundersamen Fluss des Lebens zu begreifen. Wenn du dich fragst: “Was ist die eigentliche Quelle des Glücks?”, erweiterst du deinen Fokus und gelangst über die äußerlichen Glückstrigger hinaus zum eigentlichen Glück. Durch das Streben nach der Unterscheidung zwischen Nicht-Selbst und Selbst wird sich der Schleier vielleicht vollständig heben. Dann erkennst du, dass du nicht nur der oder diejenige bist, der du glaubst zu sein, sondern ein Teil vom Großen, vom Ganzen. Hell, weit und frei.


SALLY KEMPTON ist eine international bekannte Meditationslehrerin und schreibt seit vielen Jahren im YOGA JOURNAL über Yogaphilosophie und Persönlichkeitsentwicklung. Einige ihrer Bücher wie ihr Ratgeber für Meditation liegen auch auf Deutsch vor.


Titelbild: Canva

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