Ernährung: Sattva aus yogischer Sicht

Prof. Dr. Martin Mittwede, Indologe und Religionswissenschaftler, ist Studienleiter des Fachbereichs Master of Science in Ayurveda-Medizin an der Europäischen Akademie für Ayurveda. Er habilitierte 1996 mit einem Forschungsprojekt über Ayurveda und blickt auf eine langjährige Erfahrung in der ärztlichen Fortbildung sowie auf die Entwicklung eines ernährungsmedizinischen Curriculums zurück. Er lehrt an der Universität Frankfurt am Main und hat zahlreiche Arbeiten über Ayurveda-Medizin veröffentlicht. 

In der Yogatradition wird eine Ernährungsweise empfohlen, die das Sattva-Guna stärkt. Was bedeutet das?
Über Sattva gibt es viele Meinungen und auch viele Missverständnisse. Aus Sicht der klassischen Yogaphilosophie ist darunter geistige Stärke und Klarheit zu verstehen. Sie gibt dem Menschen Kraft, wechselnde Situationen des Lebens, die mit Leid und Freude verbunden sind, gut zu bewältigen. Grundlage für die Stärkung von Sattva ist in erster Linie die Integration von Intui­tion, Gefühlen, Gedanken und Handlungen. Wenn die verschiedenen Ebenen des Bewusstseins zusammenwirken, entsteht wesentlich weniger Durcheinander – das bedeutet ein größeres Maß an Sattva.

Den Einfluss der körperlichen Ebene und damit auch der Ernährung könnte man eher als indirekt bezeichnen. Das komplexe System Mensch kennt keine Eins-zu-Eins-Gleichung, die sagt: „Ich habe Zwiebeln gegessen und nun ist mein Sattva gestört.“ Es gibt zu viele Einflussfaktoren, die die letztendliche Wirkung einer Substanz beeinflussen, auch wenn natürlich jedes Lebensmittel bestimmte Grundeigenschaften besitzt. Es ist zudem wichtig, kurzfristige von mittel- und langfristigen, sowie schwache von starken Wirkungen zu unterscheiden. Wenn zum Beispiel eine Substanz wie Knoblauch, die nicht zu Sattva gerechnet wird, heilsam eingesetzt wird, sorgt sie mittelfristig für mehr Sattva, da die erzielte Heilung einen starken balancierenden Sattva-Impuls setzt.

Alles hat eine Wirkung – das ist die Überzeugung im Yoga genau wie im Ayurveda – doch man sollte die Wirkung einer einzelnen Substanz weder über- noch unterschätzen. Eine liebevoll zubereitete Mahlzeit kann Substanzen enthalten, die das Sattva eher schwächen; aber die Liebe fördert das Sattva, wenn der Empfänger dieser Liebe sie von ganzem Herzen annehmen kann. Aus ayurvedischer Sicht erfolgt die Stärkung von Sattva auf der Basis von mehr Balance. Die Balance wird durch das richtige Maß gefördert. Und das richtige Maß betrifft nicht nur die Ernährung, sondern eben auch die inneren Bereiche der Psyche. Denjenigen, die ihre Ernährung zu stark kontrollieren, möchte ich zurufen: „Kümmert euch lieber mehr um eure Intentionen, unterbewussten Gefühle und Verdrängungen.“ Und für diejenigen, die zu wenig auf ihre Ernährung achten, gilt: „Reduziert das Störende und stärkt die ausbalancierenden Qualitäten einer reinen, frischen und von Sattva bestimmten Nahrung.“

Der Verzehr von tierischen Eiweißen ist ein heiß diskutiertes Thema, speziell in Bezug auf die Yoga- und Ayurveda-Ernährung. Muss es im Ayurveda immer vegetarisch sein oder darf auch mal etwas Fleisch auf den Tisch?
Als eine ganzheitliche Gesundheitslehre ist Ayurveda nicht dogmatisch. In den klassischen Schriften werden alle Lebensmittel beschrieben und zu Gruppen geordnet. Auch die Fleischsorten werden hinsichtlich ihrer Dosha-Wirkungen beschrieben. Ärzte, die früher gleichzeitig auch Gesundheitsberater waren, hatten es mit verschiedenen Patienten zu tun, dazu gehörten auch Nicht-Vegetarier. Jeder wurde im Rahmen seines Lebensstils angemessen ayurvedisch unterstützt, um einen Weg zu mehr Balance und Wohlbefinden zu finden. Der Vegetarier kann mit Ayurveda seine Ernährung verbessern – genauso wie der Nicht-Vegetarier. Betrachten wir die Ganzheitlichkeit des Ayurveda, wird deutlich, dass diese sehr stark mit der modernen wissenschaftlichen Ökologie übereinstimmt. Es geht darum, immer die ganzheitlichen Zusammenhänge zu betrachten. Aus dieser Sicht ist der hohe Fleischkonsum der Menschheit eine ökologische Katastrophe, denn er ist die ineffektivste Form, Nahrung zu erzeugen. Ayurvedisch betrachtet müsste der durchschnittliche Fleischkonsum in den reichen Ländern um 80 bis 90 Prozent reduziert werden. Auch aus Sicht der modernen Ernährungswissenschaft würde diese Menge an tierischem Eiweiß völlig ausreichen, wenn ausreichend pflanzliches Eiweiß verzehrt wird.

Natürlich gibt es darüber hinaus gesundheitliche Aspekte, die sowohl aus modern-medizinischer als auch aus ayurvedischer Sicht gegen den vielen Fleischverzehr sprechen. Wer die schmackhafte Vielfalt der ayurvedischen Küche mit ihren vielen Gewürzen und Kräutern kennenlernt, kann leicht auf Fleisch verzichten. Aus ethischer Perspektive verletzt das Töten von Tieren zudem das Prinzip der Gewaltlosigkeit (ahimsa).

Welche Wirkung hat die tägliche Ernährung auf unser psychisches Gleichgewicht?
Ernährung ist ein wesentlicher Faktor unseres Lebens; und manchmal sitzt die Depression auch im Darm. Ernährung hilft dabei, die körperliche und psychische Balance aufrecht zu erhalten und zu stärken. Zu viele schwere Speisen machen auf Dauer auch seelisch schwer und langsam. Und manchmal sollen die vielen süßen Dinge die eigene seelische Leere füllen, was sie aber nicht schaffen. Wir können mit einer ausgewogenen ayurvedischen Ernährung viel tun, um uns zu entlasten und Leichtigkeit und Stärke auf körperlicher Ebene zu erzeugen. Dies ist hilfreich, um kraftvoll richtige Entscheidungen im Leben zu treffen und dadurch eine Basis für das psychische Gleichgewicht (Sattva) zu schaffen. Der Zusammenhang ist also nicht ganz direkt und einfach. „Iss dich glücklich“ führt wahrscheinlich häufiger zu Übergewicht als zu wirklichem Wohlfühlen. Ernährung wirkt selbstverständlich auch auf der seelischen Ebene. Das Problem ist nur, dass es heute viele Menschen gibt, die alles richtig machen wollen und sich bei dem Wunsch, „richtig“ zu essen, verkrampfen. Das führt dann eher zum Gegenteil des seelischen Gleichgewichts.

Meine Empfehlung: Schaffen Sie eine gute Balance in Ihrem Leben durch Ernährung, Bewegung und einen an Ihre Lebensweise angepassten Tagesablauf. Sorgen Sie zudem regelmäßig für tiefe Entspannung und schauen Sie sich Ihre aktuellen Lebensthemen an. Wenn die so erzeugte Basis stabil ist, dann dürfen Sie ab und zu auch alle Regeln vergessen und einfach nur genießen. Wer das nicht mehr kann, ist vom psychischen Gleichgewicht ziemlich weit entfernt.

Gibt es Ernährungsempfehlungen oder Nahrungsmittel, mit denen wir unser emotionales Wohlbefinden besonders gut steigern können?
Besonders wichtig ist die leichte Abendmahlzeit. Mit vollem Magen träumt man schwer, die gesamte Regeneration des Körpers und die Aufarbeitung des Tages ist gestört. Der Schlaf wird schlechter und der nächste Morgen beginnt ohne wirkliche Leichtigkeit und Freude. Der Tag kann dann auch nicht mehr viel besser werden.

Allgemein gesagt sorgen die wärmenden und nährenden Lebensmittel auch für emotionale Zufriedenheit. Gewürzt mit etwas Feurigem und leicht Bitterem schaffen sie zudem eine Basis für geistige Anregung und Kreativität. Eine gute Mahlzeit ist wie der Akkord eines Orchesters, es gibt die tiefen Töne und die hohen, alle zusammen fügen sich zu einem harmonischen Ganzen zusammen.

Auf diese Weise kann schon das Kochen glücklich machen, wenn sich die verschiedenen Düfte im Haus verbreiten und die Vorfreude auf das leckere Essen wächst. Wer eine balancierte, wohlschmeckende Mahlzeit gegessen und wirklich genossen hat, wird während seiner nächsten Meditation wahrscheinlich nicht viel ans Essen denken.

Für unser emotionales Wohlbefinden ist es gut, sich ab und zu eine unserer Lieblingsspeisen zu gönnen. Dabei sollten wir das beste Geschirr benutzen; denn wenn wir tot sind, ist es dafür zu spät. Ayurveda sagt „Ja“ zum Leben und fördert den balancierten Genuss. Mit Ayurveda können wir uns auf eine Entdeckungsreise begeben, die viele neue Geschmackserlebnisse eröffnet. Teilweise lernen wir überhaupt erst wieder, richtig zu schmecken, das Frische und das Natürliche zu genießen. Mit dieser Sichtweise kann uns letztlich jedes Lebensmittel ein Stückchen glücklicher machen.

Traditionelle Regeln zur sattvischen Ernährung

ZU MEIDEN:

  • Vermeide Gier beim Essen und achte auf die Reinheit deiner
    Nahrung und Gesinnung.
  • Vermeide schlechte Gesellschaft und eine negative Atmosphäre beim Essen.
  • Vermeide alle scharfen Gewürze, anregenden und fermentierten Speisen.
  • Vermeide altes, aufgewärmtes und chemisch behandeltes Essen.
  • Vermeide tote Nahrung: Fleisch, Fisch, Wurst und Eier.
  • Vermeide alle Reiz- und Suchtmittel wie Kaffee, Alkohol, Nikotin
    und schwarzen Tee.

 

ZU EMPFEHLEN:

  • Bevorzuge frische und liebevoll zubereitete Nahrung.
  • Lebe maßvoll und überlade deinen Magen nicht.
  • Deine Nahrung sollte möglichst rein und einfach zubereitet sein.
  • Im vollen Korn von Weizen, Reis, Gerste und Dinkel steckt reine
    Lebensenergie.
  • Ebenso sind alle Gemüse, Früchte und Nüsse ein Geschenk der
    Natur.
  • Unter den Hülsenfrüchten ist die Mungbohne die Königin, die alle Sinne harmonisiert.
  • Die frische Milch von Kuh oder Ziege hat erfreuende Eigenschaften.
  • Nimm deine Nahrung weder heiß noch kalt und weder nass noch trocken ein.
  • Beginne und beende jede Mahlzeit mit einem Gebet.
  • Achte auf gute Gesellschaft beim Essen oder iss alleine.

KerstinRosenberg6050_8cmPRKerstin Rosenberg bildet als Ayurveda-Spezialistin und erfolgreiche Buchautorin Ayurveda-Therapeuten, -Ernährungsberater und psychologische Berater in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus. Gemeinsam mit ihrem Mann ist sie geschäftsführende Gesellschafterin der Europäischen Akademie für Ayurveda. Mehr Infos unter: www.ayurveda-akademie.org

 

 

 

 

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