Faszinierendes Netzwerk: Unter der Haut

In der Wissenschaft hat man sich über Jahrzehnte nicht sonderlich für Faszien interessiert, aber das ändert sich derzeit grundlegend. Dazu beigetragen hat maßgeblich der Faszienforscher Dr. Robert Schleip, der an der Universität Ulm das „Fascia Research Project“ leitet.

Faszien sind überall in unserem Körper und dennoch sind sie den meisten weitgehend unbekannt. Faszien geben uns Halt und Form und bilden ein gigantisches Netzwerk. Dabei handelt es sich um Schichten, Hüllen und Stränge aus faserigem Bindegewebe, die alle miteinander verbunden sind. Sie umhüllen einzelne Muskelfasern genauso wie die ganzen Muskeln, Organe, Blutgefäße und Nerven. Die Gesundheit und die Spannungsverhältnisse in diesem Netzwerk sind entscheidend dafür, wie geschmeidig unsere Muskeln arbeiten, wie Knochen, Wirbel und auch Organe positioniert sind, wie unsere Gelenke belastet werden. Mit anderen Worten: Ohne Faszien geht gar nichts!

Robert, warum wurden Faszien so lange nicht beachtet – in der Wissenschaft und der Medizin?
Einerseits weil Faszien in den Anatomiekursen der Mediziner nicht sonderlich ästhetisch aussehen – anders als beim lebendigen Körper, bei dem Faszien wunderschön aussehen. Und dann ist es so, dass der männliche Verstand immer etwas zerlegen will, in zählbare Einheiten, um es dann zu verstehen. Und das kann man mit den Faszien nicht machen. Das hat man bei den Muskeln geschafft, sie in zählbare Einheiten zu zerlegen und ihnen dann Namen zu geben. Das hat man mit dem Skelett geschafft. Mit den Faszien scheitert man bei diesem Versuch sofort. Denn dabei kommt man nur zu dem Ergebnis, dass es sich um ein einziges zusammenhängendes Gewebe handelt – alles hängt mit allem zusammen. Bei den komplementärmedizinischen Therapeuten sind die Faszien ja schon lange bekannt, aber das war nahezu gänzlich außerhalb der akademischen Forschung. Diese Brücke ist jetzt geschlagen.

Wie kam es dann dazu, dass die Faszien aus ihrem Schattendasein hervorgetreten sind?
Heute hat man Möglichkeiten und Denkmodelle, eine Ganzheit präzise zu beschreiben, ohne sie in Einzelteile zerlegen zu müssen. Mit digitalen Methoden ist eine dreidimensionale Modellierung möglich. Außerdem kann man Fasziengewebe heute quantifiziert messen. Für das Skelett hatte man schon lange die Röntgenstrahlen, für die Muskeln das EMG, aber für die Faszien gab es nichts Geeignetes. Man konnte lediglich auf subjektive Empfindungen zurückgreifen: Wenn ich mich hier dehne, zieht es bei mir dort, bei einem anderen aber woanders. Und man hatte den subjektiven palpatorischen Befund der Osteopathen und Rolfer. Aber beides ist nicht befriedigend, weil viel Subjektives und möglicherweise Vorerwartungen mit hineinspielen.
Erst seit sechs bis zehn Jahren gibt es Ultraschall in Zehntel-Millimetern und eine solch feine Auflösung braucht man für Faszien. Wenn die Rückenfaszie verdickt ist bei Menschen, die chronischen Rückenschmerz haben, konnte man das früher nicht feststellen. Die Rückenfaszie selbst ist nur 1 bis 1,5 Millimeter dick. Wenn sie um 25 Prozent verdickt ist, ist das zwar funktionell bedeutsam, man konnte es früher aber nicht sehen – jetzt geht das.

Du warst auch einer der Initiatoren des ersten Internationalen Faszienkongresses in Harvard 2007, wo erstmals Wissenschaftler und Therapeuten interdisziplinär ihre Erkenntnisse austauschten. Mittlerweile gab es bereits den dritten Kongress.
Ja, der Faszienkongress an der Harvard Medical School 2007 war ein Paukenschlag. Er hat viel bewegt zusammen mit einem ausführlichen und positiven Artikel darüber, der kurz danach im renommierten Journal „Science“ erschien. Das beides hat die Tür geöffnet. Gute Teamarbeit, die richtige Idee zur richtigen Zeit – und eine gute Portion Glück! Jetzt sind wir sozusagen „parkettreif“ geworden in der wissenschaftlichen Forschung. Wenn man jetzt an einer renommierten Tür anklopft mit dem Thema Faszien, dann hören die Leute zu. Das war vorher nicht der Fall.

Was macht die Faszien zu einem solch faszinierenden Gewebe in unserem Körper?
Die Tatsache, dass es sich um ein ganzkörperweites System handelt, das alles mit allem verbindet. Speziell für Methoden, die mit Dehnung und Körperwahrnehmung arbeiten, eignet es sich wunderbar als Zielorgan. Wenn man die Wade oder die Plantarfaszie dehnt, wirkt sich das auf den Rücken und auf die Hüftgelenksbeugung aus. Das kann man mit den langen myofaszialen Ketten wunderbar erklären und bezüglich individueller Abweichungen jetzt detailliert untersuchen. Von der Biomechanik her hat sich mehr und mehr die Erkenntnis durchgesetzt: Wie beweglich ich bin, hängt gar nicht so sehr von den Muskelfasern ab und auch nicht ausschließlich von den Gelenkkapseln, sondern vor allem vom Fasziennetzwerk. Das ist für die beweglichkeitsorientierten Therapiemethoden sowie für Yoga natürlich hochspannend. Und das Fasziennetzwerk wird hauptsächlich durch Dehnung sowie Scherkräfte trainiert und stimuliert, weniger durch Kompression.

Eines deiner ersten viel beachteten Forschungsergebnisse war, dass Faszien die Fähigkeit besitzen, sich unabhängig von Muskeln zu verspannen und zu lösen. Kannst du die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammenfassen?
Erst in den letzten Jahren hat man erkannt, dass die Faszien auch ein Sinnesorgan sind. Dazu gehört die Eigenschaft, dass sie selbst Schmerz auslösen können – vermutlich viele Arten von Weichteil-Schmerzen. Ganz besonders interessant ist das zum Beispiel bei lumbalen Rückenschmerzen. Ein Großteil kommt hier nicht von den Bandscheiben, sondern höchstwahrscheinlich von den Faszien. Die Lendenfaszie ist sehr dicht mit freien Nervenendungen besiedelt, die auch Schmerz signalisieren können; zudem zeigt sie bei Rückenschmerzpatienten zahlreiche Zeichen von Einrissen, Narben und Entzündungsprozessen.
Faszien sind das wichtigste Organ für Propriozeption, das heißt die Wahrnehmung der eigenen Körperhaltung und Bewegung, die Körper-Innenwahrnehmung. Sogar in den oberflächennahen Faszien-Membranen gibt es eine dichtere Besiedelung mit pro-priozeptiven Nerven als in Muskelspindeln und Gelenkkapseln. Bezogen auf Yoga bedeutet das: Die Feinwahrnehmung des eigenen Körpers wird vor allem durch diese Rezeptoren gewährleistet, und zwar bei Gleit- und Scherbewegungen von Faszienschichten in Relation zueinander.

Inwieweit wirkt sich Yoga aus der Sicht des Wissenschaftlers positiv auf die Faszien aus?
Förderlich ist es vor allem, wenn es ein mit Achtsamkeit verbundenes Yoga ist und die Betonung nicht auf der leistungsorientierten Sportlichkeit liegt wie zum Beispiel bei einigen Formen des Ashtanga Yoga. Wenn also das achtsame Spüren ein wesentlicher Wert ist, dann ist Yoga eine geniale Methode, um die in den Faszien angesiedelte Propriozeption weiter zu verfeinern. Und da hat die neue Forschung ergeben, dass sich über das Rückenmark die Propriozeption und die Schmerzempfindsamkeit gegenseitig hemmen. Also: Wenn jemand myofasziale Schmerzen hat, geht seine Körperwahrnehmung leider in den Keller. Wenn umgekehrt die Körperwahrnehmung gesteigert wird, hat der Schmerz keine Möglichkeit mehr. Aus dieser Dynamik heraus hat man jetzt einen wunderbaren therapeutischen Ansatz, um zu sagen: Schmerz, geh weg, indem man dem Rückenmark mehr Propriozeption gibt. Und wenn man weiß, dass die Faszien die Hauptquelle für Propriozeption sind, kann man das wunderbar machen – das ist wie eine Medizin.

Du hast einmal gesagt: Gesunde Faszien sind fest und elastisch zugleich, biegsam wie Bambus und reißfest wie ein Zugseil aus Seide. Was kann ich dafür tun, dass meine Faszien so gesund bleiben?
Wir haben jetzt sogar Messinstrumente an der Uni Ulm, um die Weichheit der Faszien und ihre Elastizität zu messen. Aufgrund dieser Forschungen hat sich angedeutet, dass eine langsame „Faszienpflege“ à la Yoga zum Neubau der Faszien führt. Von ihrer Struktur her sind jugendliche Faszien eher scherengitterartig angeordnet. Gleichzeitig sind die einzelnen Kollagenfasern gewellt und dadurch federnder und verletzungsfreier. Bei älteren Leuten dagegen und natürlich auch bei jugendlichen Stubenhockern ist das Gewebe mulitidirektional verfilzt und hat seine Wellung verloren. Wenn jemand dann aber wieder gesunde Faszienpflege betreibt, bildet sich das kollagene Gewebe neu, die Kollagenfasern erneuern sich mit der Zeit, so dass das Fasziennetz insgesamt elastischer, belastbarer und nicht mehr so verletzungsanfällig ist. Die Halbwertszeit liegt etwa bei einem Jahr. Mit einem jugendlich-erneuerten Fasziennetzwerk kann man dann von einer Leiter springen und dabei reißt die Achillessehne weniger leicht als in dem vormals spröden und verfilzten Zustand.
Bei ganz langsamen Dehnungen wie im Yoga wird vorübergehend aus dem Fasziengewebe – wie aus einem Schwamm – Flüssigkeit herauspresst. So kann neue, frische Flüssigkeit aus dem Blutplasma der kleinen Kapillaren ins Gewebe aufgenommen werden. Das ist wie eine Dehydration und eine Rehydration. Erst vor kurzem hat man festgestellt, dass hier eine besonders langsame Flüssigkeitsverschiebung beim Abbau von überschüssigem Kollagen nachhelfen kann. Kollagen in einem harten, verklebten Bindegewebe wird in den nachfolgenden Stunden abgebaut und das Gewebe wird dadurch weicher. //

Foto: www.fascialnet.com

 

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