Hormon-Yoga: Was es kann und was nicht

„Ich bin gar nicht mehr ich selbst!“ Besonders während der Wechseljahre haben viele Frauen das Gefühl, ihren Hormonen vollkommen ausgeliefert zu sein. Doch auch bei PMS, Stress oder Kinderwunsch würden wir diese heimlichen Herrscher manchmal gern besser zügeln können. Kann Hormon-Yoga helfen?

Hormone sind ganz schöne Schlingel. So klein und doch so mächtig stellen sie unser Leben oft ganz schön auf den Kopf, die ZEIT nannte sie einmal gar „Dirigenten unseres Lebens“. Ob sie mit Yoga in den Griff zu bekommen sind, sich anregen oder bändigen lassen? Immer mehr Frauen (und mitunter auch Männer) schwören auf das von Dinah Rodrigues in den 1990ern entwickelte und von der Yogalehrerin und -referentin Lalleshvari „Lalla“ Turske verfeinerte sogenannte Hormon-Yoga. Worum es in dieser speziellen Praxis geht, dazu später mehr.

Was hat es mit Hormonen auf sich?

Doch zunächst: Was hat es mit diesen mysteriösen Dingern überhaupt auf sich? Hormone sind biochemische Botenstoffe, körpereigene Informationsübermittler, die in den Drüsenzellen bestimmter Organsystem gebildet werden (Nebenniere, Hirnanhang-, Zirbel-, Schild- und Bauchspeicheldrüse) und von dort ins Blut und damit den Körperkreislauf gelangen. Nachgewiesen wurden im menschlichen Körper bislang rund 150 davon, Wissenschaftler schätzen ihre Zahl allerdings auf über 1000.

Zu den bekanntesten zählen neben den Geschlechtshormonen (Testosteron, Östrogen und das Gestagen Progesteron) die sogenannten „Stresshormone“ Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin, das „Schlafhormon“ Melatonin sowie die „Glückshormone“ Dopamin, Serotonin und Oxytocin. Letzteres wird manchmal auch „Kuschelhormon“ genannt, weil es zum Beispiel bei Umarmungen oder beim Sex ausgeschüttet wird und soziale Nähe und Bindung fördert. Der Internist Dr. Berndt Rieger nennt Hormone in seinem gleichnamigen Ratgeber nicht umsonst „Die heimlichen Chefs im Körper“, und auch die Ayurveda-Therapeutin Laura Krüger schreibt in ihrem gerade erschienen Buch In Balance mit Ayurveda: “Wie du deine Hormone natürlich regulierst und dich ins Gleichgewicht bringst“: „Es gibt so gut wie nichts, was unsere Hormone in unserem Leben nicht beeinflussen. Durch ihre wichtige Rolle in unzähligen körperlichen Funktionen können schon kleine Dysbalancen große negative Effekte auf unseren Körper und unser Gemüt haben.“

Hormone und die Verbindung von Körper und Seele

Wie eng körperliche und psychische Funktionen zusammenhängen, rückt seit einigen Jahren zwar verstärkt ins Bewusstsein, immer noch wird dieser Zusammenhang aber gerne heruntergespielt, etwa dann, wenn wir über die Ursache eines Leidens sagen, sie sei „nur“ eine psychische. Hormone sind das beste Beispiel dafür, dass diese strenge Trennung und Hierarchie eigentlich keine sein sollten, dass Körper und Seele miteinander Hand in Hand gehen: eine letztlich sehr yogische Erkenntnis, die mittlerweile auch in der Wissenschaft immer mehr Gehör findet. Zuletzt machten etwa Ende Juni Experten der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) auf eine möglichen Zusammenhang zwischen Covid-19 und Cortisol aufmerksam, das bei mentalem oder körperlichen Stress aus der Nebennierenrinde vermehrt freigesetzt wird und an vielen Stoffwechselprozessen beteiligt ist. Unter anderem hat es Einfluss auf den Blutzucker, den Fettstoffwechsel und das Herz-Kreislaufsystem. Menschen mit chronischen Krankheiten etwa gerieten als Corona-Risikopatienten schnell in einen „Teufelskreis aus Angst, Stress und schlechter Stoffwechsellage, was zu besonderen gesundheitlichen Herausforderungen führt“, so der Mediensprecher der DGE, Professor Dr. med. Matthias M. Weber.

Stresshormone – eine gesunde Balance

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die sogenannten Stresshormone Adrenalin,
Noradrenalin und Cortisol erfüllen grundsätzlich durchaus sinnvolle Funktionen, aus
evolutionsbiologischer Sicht sollen sie uns bei Kampf- oder Fluchtsituationen unterstützen.
Denn sie sorgen unter anderem für einen höheren Blutdruck und Puls, beschleunigen die
Atmung und geben den Muskeln Spannung, was uns dabei hilft, schneller und besser zu
reagieren. Ein permanentes Zuviel davon ist allerdings kontraproduktiv und kann unter anderem zu Herzschwäche, Magen-Darm-Problemen und Schlafstörungen führen sowie unser Immunsystem nachhaltig schwächen.

Yoga gegen Stress: Ein nützlicher Begleiter?

Dass Yoga dabei helfen kann, Stress abzubauen, ist eine subjektive Empfindung von Praktizierenden, die mittlerweile durch diverse Studien untermauert wird – recht anschaulich zeigt das etwa das auf YouTube zu findende Video Yoga wissenschaftlich belegt der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim, in dem sie unter anderem den Medizin- und Yogaforscher Dr. Holger Cramer zu Wort kommen lässt und zu dem Schluss kommt, dass Yoga bei diversen Beschwerden und Krankheiten eine sinnvolle begleitende (!) Therapie sein kann; in dem sie aber auch auf die Unzulänglichkeiten vieler Studien hinweist. Nichtsdestotrotz attestiert Nguyen-Kim vielen Studien sauberes wissenschaftliches Arbeiten und kommt zu dem Schluss, dass die stressreduzierende Wirkung von Yoga belegt sei.

Hormon-Yoga und seine Anfänge

Wie sehr uns neben den Stress- auch unsere Geschlechtshormone beeinflussen, davon können viele Frauen (und oft auch deren Umfeld) ein Lied singen, man denke nur an die weit verbreiteten enormen Stimmungsschwankungen in den Tagen vor den Tagen oder das
Durcheinander in Kopf und Körper während der Wechseljahre. Besonders diese anstrengende Zeit, die normalerweise zwischen dem 40. und 55. Lebensjahr stattfindet, steht beim Hormon-Yoga im Fokus. Empfohlen wird es für Frauen ab etwa 35, denn ab dann beginnt der natürliche Östrogenspiegel abzusinken. Allerdings können ein unerfüllter Kinderwunsch oder starke Menstruationsbeschwerden auch jüngere Frauen auf diese spezielle Form des Übens aufmerksam machen. Begründerin dieser Praxis ist die eingangs bereits genannte, mittlerweile 93-jährige Psychologin und Philosophin Dinah Rodrigues aus Brasilien, die mit ihrer erstaunlich vitalen Ausstrahlung selbst die beste Werbung dafür ist.

Den Anstoß, einen Yogastil zu entwickeln, der speziell die Produktion von weiblichen Hormonen anregt, gab ihr vor 30 Jahren ihr Gynäkologe, der ihr einen ausgezeichneten Gesundheitszustand und Top-Hormonspiegel attestierte. Das verdanke sie wohl dem Hatha-Yoga, meinte sie damals beiläufig und entwickelte im Gespräch die Idee für die Yogaform, die seitdem mit ihrem Namen in Verbindung gebracht wird und die sie selbst „hormonelle Yogatherapie“ nannte. Eine Hormon-Yogastunde beginnt mit einer energetischen Aufwärmphase, auf die eine etwa 30-minütige Übungsreihe folgt, den Abschluss bildet eine geführte Meditation.

Hormon-Yoga: Das wird geübt

Viele der Asanas sind aus dem Hatha-Yoga bekannt (etwa herabschauender Hund, Taube, Drehsitz oder Schulterstand), die Ausführung erfolgt dynamisch und zügig. Begleitet wird sie von speziellen Pranayama-Übungen wie der Ujjayi-Atmung oder der aus dem Kundalini-Yoga bekannten Bhastrika, der „Blasebalg“-Atmung, die das Prana aktiviert. Weitere Hormon-Yogaelemente sind Bandhas, bewusst ausgeführte Muskelanspannungen, mithilfe derer die Energie an bestimmte Orte im Körper gelenkt wird; außerdem die Tibetische Energielenkung, bei der aktiv bestimmte Drüsen angesteuert werden. Durch Visualisierungübungen soll ein tieferes Bewusstsein für den eigenen Körper geweckt werden. Dieser sehr energetische Yogastil braucht Übung. Anfängerinnen sollten sich unbedingt persönlich von einer ausgebildeten Lehrerin anleiten lassen und sich nicht auf Lernvideos allein verlassen, da die Energien sonst in die falschen Bahnen gelenkt werden könnten.

Hormon-Yoga ist geeignet für:
– Frauen im Klimakterium mit typischen Beschwerden wie Schweißausbrüchen, Libidoverlust, Reizbarkeit etc.
– Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch
– Frauen, die unter Menstruationsbeschwerden leiden (PMS, Unterleibsschmerzen)
– Frauen, die oft gestresst sind und z.B. Schlafprobleme haben

Auf keinen Fall Hormon-Yoga üben sollten:
– Frauen mit Brustkrebs oder einer anderen hormonbedingten Krebsart
– Schwangere
– Frauen mit Endometriose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Myomen, Osteoporose und/ oder Schilddrüsenüberfunktion
– Nicht oder nur sehr sanft sollte Hormon-Yoga während der Menstruation praktiziert werden.

Hormon-Yoga in der Kritik

Allerdings: Hormon-Yoga hat durchaus auch Kritiker, unter anderem weil es bislang keine
unabhängigen klinischen Studien gibt, die einen Zusammenhang mit einem verbesserten
Hormonhaushalt und diesem Stil belegen (allerdings auch keine, die ihn widerlegen). Die
eingangs genannte Hormon-Yoga-Expertin Lalla Turske erklärt diesen Umstand unter anderem mit der Schwierigkeit, eine solche Studie durchzuführen. Man bräuchte mindestens 150 Teilnehmerinnen, die wirklich diszipliniert täglich üben. Zudem sei der Hormonspiegel sehr volatil, könne sich von einem Tag auf den anderen ändern, eine Messung sei lediglich eine Momentaufnahme und daher nur bedingt aussagekräftig.

Hormon-Yoga ist kein Zaubermittel

Die Kritik wird aber sicher auch deswegen laut, weil die Lobeshymnen mancher Anhängerinnen (und zum Teil auch Anbieterinnen) teilweise klingen, als habe man es hier mit einer regelrechten Wunderheilmethode zu tun. Solche Heilsversprechen sind unseriös. Hormon-Yoga ist keine Zauberei und ersetzt keinen Arztbesuch, es kann ihn aber ergänzen. Es ist ein Werkzeug, mit dem wir arbeiten können: kraftvoll, aber behutsam und stets mit dem eigenen Wohlbefinden im Blick. Tut es uns spürbar gut, dann müssen wir uns nicht von Kritikern durcheinanderbringen lassen. Fühlen wir uns unwohl, dann passt wahrscheinlich ein anderer Yogastil besser.

Erfahrungen mit Hormon-Yoga

So gibt es etwa auf dem Ü40-Lifestyle-Blog nowshine.de den recht amüsant zu lesenden Beitrag Wie Hormon-Yoga mein Leben (nicht) verändert hat. Darin beschreibt Dorotha Retterath ihre enttäuschenden Erfahrungen mit Hormon-Yoga, das sie mit einer ungesunden Besessenheit und ohne Erfolg betrieben hatte, bis sie zu ihren „normalen“ Yogastunden zurückkehrte und dadurch mit ihrem sich durch die Wechseljahre verändernden Körper Frieden schloss – auch wenn sich an ihrem Hormonspiegel nichts geändert hatte.

Anders ging es der Yogalehrerin, Psychologin und Bloggerin Helen Ergeç: Ihr half schon
„normales“ Yoga bei der Regulation ihrer Hormone, unter anderem bekam sie damit ihre
Hypothalamische Amenorrhoe (Ausbleiben der Regelblutung) in den Griff. Sie hatte früh
weibliche Rundungen entwickelt und aus Angst vorm Zunehmen lange versucht, ihren Körper streng zu kontrollieren: mit „gesunder“ Ernährung und jeder Menge Sport. Auch ihre Yoga-Praxis war lange eine sehr herausfordernde, weil sie meinte, sich das entspannende Shavasana erst „verdienen“ zu müssen. Seit sie diesbezüglich umgedacht, den Fokus mehr auf Entspannung und Meditation gelegt und damit den Stress reduziert hat, habe sich, so erzählt sie, ihr Körper hormonell erholt. „Yoga führt zu mehr Körperbewusstsein und -akzeptanz und kann so zu einem entspannteren Umgang mit dem eigenen Körper beitragen“, ist ihre Erfahrung, der sie sogar ihre Masterarbeit gewidmet hat. Demnächst erwartet sie ihr erstes Kind.

Der aufgrund solcher Erfolgsgeschichten immer wieder aufkommenden These, dass im Grunde jedes Yoga auch Hormon-Yoga ist, widerspricht Lalla Turske allerdings entschieden: Ihre „normale“ Praxis habe ihr bei ihren Hormonproblemen überhaupt nicht geholfen. Welches Fazit lässt sich nun ziehen? Vielleicht dasselbe wie eigentlich immer beim Yoga: Wichtig sind zwei gute Lehrer – zum einen der- beziehungsweise hier meist diejenige, die uns anleitet und unsere Übungen kontrolliert: die fundiert ausgebildete, aufmerksame Yogalehrerin also. Zum anderen der, auf den wir immer hören sollten: unser eigener Körper mit all seinen individuellen Bedürfnissen, Stärken und Schwächen.


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