Mark Stephens: Mit Yoga die Lebensaufgabe Dharma entdecken

Wer bin ich? Was ist meine Bestimmung? Und wie kann Yoga mir bei diesen Fragen helfen? In diesem Teil seiner Artikelreihe beleuchtet der “Lehrer der Lehrer” Mark Stephens die Bedeutung der Lebensaufgabe Dharma. Und er schildert, wie dieses Prinzip der Yoga-Praxis mehr Tiefe und Bedeutung verleihen kann.

Wenn man sich für ein bewusstes Leben entscheidet, tauchen viele Fragen auf. Wer bin ich? Warum bin ich hier? Wieso stelle ich bestimmte Dinge in den Mittelpunkt? Was ist meine Bestimmung? Was treibt mich an? Welcher ist mein Weg? Die Yoga-Praxis spricht jenseits der Worte zu uns, aber trägt Botschaften mitten ins Herz. Diese Botschaften helfen, Fragen wie diese zu beantworten. Damit geben sie uns Auskunft über die Lebensaufgabe Dharma.

Durch Yoga die Bestimmung finden

Dieser Sanskrit-Begriff bezeichnet zum einen die kosmische Ordnung, zum anderen aber auch den tieferen Lebenszweck, eine persönliche Berufung. Durch Yoga erkennen wir diese Bestimmung mit der Zeit. Sich selbst klarer zu sehen und auch in seinen Beziehungen zur Umwelt klarer zu werden. In dieser Klarheit fällt es leichter, seinen eigenen Weg zu erkennen und zu verfolgen. Einen Weg, der an persönlichen Werten und Zielsetzungen ausgerichtet ist. Stark vereinfacht: Yoga hat das Potenzial, das Leben besser zu machen. Gesünder, klarer, freudvoller und tiefer.

Dieses Versprechen bringt uns zurück auf die Matte. Um sich zu spüren, Neues zu erforschen und um sich auf dem Weg zu einem besseren Leben zu machen. Dennoch geschehen diese Entdeckungen nicht automatisch. Die Komplexität von Lebensgeschichten, Beziehungen, kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen, die ganzen Themen rings um Lebensunterhalt und Liebe. All das erlebt man häufig als viel zu viele und schwer miteinander vereinbare Teile. Das Bewusstsein über die Vielfältigkeit macht die Dinge nicht leichter, sondern im Gegenteil noch verwirrender. Wir werden sogar unter Umständen noch anfälliger für Schwierigkeiten.

Wie also verbinden und integrieren wir die Teile am besten? Wie kultivieren wir einen ganzheitlicheren Lebensstil, erkennen ein klareres Lebensziel und einen bewussteren Lebensweg? Und als Yogalehrer: Wie können wir im Unterricht einen Raum öffnen und bewirken, dass unsere Schüler diese tieferen Entdeckungen über sich machen und ihr Leben wirklich verbessern?

Die Lebensaufgabe Dharma entdecken

Befreiung von existenziellem oder spirituellem Unwohlsein: In der Geschichte des Yoga ist das ein durchgängiges Thema. Egal ob man sich der tieferen Bedeutung von Yoga durch das Studium der Schriften nähert. Oder ob man auf der Suche nach Anleitung und Inspiration zeitgenössische Quellen anzapft. Die Bewusstseinsschärfung und das Ziel der Erleuchtung oder eines gesünderen Lebens sind Konstanten. In der Bhagavad Gita begegnen wir dem Prinzen Arjuna, der am Rande eines Schlachtfeldes in völliger Handlungsunfähigkeit erstarrt ist. Arjuna leidet, weil er seine wahre Natur verkennt. Erst durch Gottergebenheit findet er die Lebensaufgabe Dharma. Er hat ein klareres Bewusstsein und kann dadurch im Einklang mit seiner Bestimmung handeln.

Im Yoga Sutra bezeichnet auch Patanjali die Unkenntnis der eigenen wahren Natur (Avidya) als die Ursache des menschlichen Leidens (Klesha). Und auch sein achtgliedriger Yogaweg dient dazu, ein klareres Bewusstsein zu entwickeln. Hier geschieht das durch ethische Lebensführung, Körper- und Atemübungen, Konzentration und Meditation. Etwa im frühen 15. Jahrhundert, schlägt das Hatha Yoga Pradipika eine Selbstreinigung vor. Darunter fünfzehn Asanas, Atemübungen, Mudras und Bandhas. All das dient dazu, Körper und Gesundheit zu kräftigen, Verwirrung zu mindern und sich der Befreiung (Moksha) zu öffnen.

Viele antike oder moderne Yogalehren sind geprägt von Tantra. Dieses sagt, dass wir die Realität und ein Gefühl der Verbindung mit dem großen Ganzen dann am besten spüren, wenn wir besonders intensive Erfahrungen machen. Sehr häufig ist das der Fall in den Extremen von Freude und Leid. In seinem Buch “Das große Werk deines Lebens” verbindet Yogalehrer Stephen Cope das mit christlicher Spiritualität. Dabei zitiert er das Thomas-Evangelium. “Wenn du das hervorbringst, was in dir ist, wird das, was du hervorbringst, dich retten. Wenn du nicht das hervorbringst, wird das, was du hervorbringst, dich zerstören.” Und was ist “in” einem Menschen? Alle Lebenserfahrungen mitsamt Ängsten, Wünschen und Träumen.

Cope zitiert des Weiteren Thomas Merton, einen Theologen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. “Was du fürchtest, ist ein Hinweis auf das, was du suchst.” Ängste, Leidenschaften oder Träume zurückzuhalten, kann demnach Spannungen erzeugen und sogar krank machen. Indem wir diese Gefühle ins Bewusstsein bringen, transformieren wir die unterschwelligen Kräfte, die unser Leben beeinflussen. So nehmen wir unsere Bestimmung und unseren Weg wahr. Das ist der Sinn von Yoga: Asana, Pranayama und Meditation sind Werkzeuge für Selbsterforschung, Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung.

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Asana-Praxis als Spiegel

Manchmal könnte man meinen, dass ein Yogalehrer nichts anderes ist als ein Fitness-Trainer. Er leitet seine Schüler auf einer körperlichen Ebene an und vermittelt dabei Grundsätze von gesunder Ausrichtung, von Energielenkung und einem Gleichgewicht aus stabiler und leichter Haltung. Dabei geht es um mehr als Körpertraining.

Die Asanas lassen uns die eigenen Reaktionsmuster erkennen, die uns einschränken und behindern. In der Tiefe entdecken wir einen wichtigen Teil von Yoga. Jede Asana zeigt andere Spannungen und Empfindungen auf. Wenn wir genau hinspüren, erkennen wir, dass verschiedene Asanas unterschiedliche emotionale und mentale Reaktionen hervorrufen. So ist jede Übung ein Spiegel dafür, wie wir das sind, was wir sind, wozu wir neigen, wogegen wir Widerstände haben.

Wenn wir uns bei den Asanas auf persönliche Einsichten einlassen, dann gehen wir weit über Körperhaltung und Bewegung hinaus.  Die Praxis von Virabhadrasana I (Krieger I) ist ein Werkzeug zur Erdung und um in schwierigen Situationen in sich selbst Halt zu geben. Durch Surya Namaskar (Sonnengruß) spüren wir den Wandel des Lebens und wie wir dabei unseren Zielen treu bleiben. Mit Urdhva Dhanurasana (nach oben zeigender Bogen) erkennen wir, dass Weichheit machtvoller ist als Kraft. Besonders, wenn es darum geht, sein Herz weit zu machen und es für mehr Liebe zu öffnen. Pashchimottanasana (Vorwärtsbeuge im Sitzen) lädt uns schließlich zur Selbstbetrachtung ein. Wir sinken in uns selbst ein und machen uns auf den Weg zu Savasana.

Pranayama zum Leben erwecken

Jede Asana wirkt nicht nur für sich selbst, sondern beeinflusst auch den Atem. Indem wir während des Übens den Atem beobachten, atmen wir bewusst in den Körper und lenken den Atem zu bestimmten Regionen. Zum Beispiel an Stellen, wo Spannungen sitzen. So erfahren wir von innen, wie der Atem körperliche Empfindung und emotionale Regungen verändert. Dadurch entwickeln wir ein Bewusstsein für unsere Reaktionsmuster, weil Atemmuster die zugrunde liegenden Bewusstseinszustände spiegeln.

Ich lade sich ein, dich der Welt der Pranayama-Praktiken zuzuwenden. Beginne damit, einfach den Atem wahrzunehmen. Ujjayi Pranayama lässt dich bewusster, feiner und tiefer zu atmen. Zudem beruhigt das Rauschen Nerven und Geist. Dieses Geräusch nutzt man, um den Atem gleichmäßiger werden zu lassen (Samavritti Pranayama) und dadurch den Energiefluss auszubalancieren. Kapalabhati (scheinender Schädel) lässt dich die Intensität erhöhter Energie wahrnehmen und präsent bleiben. So lernst du wie man seine Handlungen so mäßigt, wie man sich leicht fühlt, wenn die Umstände einen ängstlich und unruhig stimmen könnten.

Meditation vom Herzen aus

Atemübungen sind in Verbindung mit Herzmeditation noch wirksamer. Dabei visualisiert man den Atemkreislauf im Herzen. Nutzt man den Atem wie ein Mantra, versinkt man vollständig. So kann man Angst oder Unruhe in die unendlich weite Liebe des eigenen Herzens hinein visualisieren und die Hindernisse verschwinden mit jeder Ausatmung. Diese Herzmeditation klärt Emotionen, ganz egal ob sie nun Freude oder Wut hervorrufen. Das hilft uns, nach und nach unserer Lebensaufgabe Dharma näher zu kommen.

Klarheit über Werte und Ziele

Als Yogalehrer unterstützen wir das, indem wir zum Nachdenken animieren. Was begeistert sie in ihrem Leben am meisten? Welche Gabe betrachten sie als ihr einzigartiges Geschenk an die Welt? Was erfüllt sie mit Neugier und Hingabe? Während der Herzmediation kann man dann diese Lebensaufgabe Dharma ins Herz einatmen und ausatmend die Widerstände loslassen. Die Samen dieser Selbstreflektion sät man schon zu Beginn einer jeden Yogastunde (oder jeder privaten Praxis), indem man mit einem Moment der Stille beginnt und eine klare Intention für das Üben setzt. Erinnere deine Schüler (oder sich selbst) daran. Während des Übens hilft ein ruhiger Blick, den Geist besser an die Bewegungen zu binden. Atme tief und gleichmäßig und erlaube den Gefühlen zu fließen.

Sei deiner Lebensaufgabe Dharma treu

In Shakespeares Drama Hamlet gibt Polonius seinem Sohn den Rat: “Dies über alles: Sei dir selber treu. Und daraus folgt: Du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.” Als Yogalehrer fühlt man sich manchmal gezwungen, bestimmte Prinzipien zu unterrichten, vielleicht sogar eine bestimmte Spiritualität. Doch es gibt keine einheitliche Yogaphilosophie, keine spezifische Spiritualität. Viel eher handelt es sich um ein ganzes Universum von Ideen, Überzeugungen und Vorstellungen über die Natur von Realität.

Was also soll ein Yogalehrer an Spiritualität und dem tieferen Sinn von Yoga unterrichten? Die Antwort lautet: Sei dir selber treu. Wenn du gerne indische Mantras singst, weil du dich dadurch verbunden fühlst, dann freue dich daran und lass andere daran teilhaben! Und wenn es andere Sinn-Quellen in deinem Leben gibt, dann teile diese. Und zwar so, wie es dein Herz erfreut. Wichtig ist nur, dass du dabei Raum lässt für andere Überzeugungen, sodass jeder sich frei fühlt.

Der tiefere Sinn von Yoga muss sich nicht in Sanskrit-Begriffen, der Anrufung von Hindu-Göttern oder alten philosophischen Konzepten ausdrücken. Sehr viel wahrscheinlicher ist er präsent in den konkreten, authentischen Erfahrungen der Praxis machen. Wo jeder Atemzug und jeder Moment ermöglicht, sich für die Unmittelbarkeit und Wahrheit des eigenen Lebens zu öffnen. Genau hier, genau jetzt.


Mark Stephens hat bereits mehrere internationale Bestseller über den Yogaunterricht geschrieben. Sein neuestes Lehrbuch über Yogatherapie mit dem Schwerpunkt “Schlaf” erschien 2019 im Riva-Verlag. Er lebt in Kalifornien und unterrichtet weltweit, häufig in Deutschland, Österreich und der Schweiz. markstephensyoga.com

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