Übungen: Das Atemspüren

Nicht umsonst kennen wir den Atem als eines der wichtigsten traditionellen Meditationsobjekte: Er fördert die Konzentration und schenkt uns das Gefühl, ruhig, geerdet und verbunden zu sein.

TEXT: RICHARD MILLER

„Indem Sie Ihren Atem achtsam wahrnehmen, entwickeln Sie mit der Zeit eine tiefe Beziehung zu ihm – ein Fluss von Empfindungen, Energien und Signalen.”

DER ATEM IST eine der kraftvollsten Quellen für innere und äußere Heilung. So kann beispielsweise eine tiefe, lang­ same und rhythmische Atmung, die den gesamten Körper umfasst, Ängste, Schmerzen und Depressionen lindern. Gleichzeitig erhöht sie die Konzentra­ tionsfähigkeit und schüttet „Wohlfühl­ hormone“ wie Serotonin und Oxytocin aus. Das hängt unter anderem damit zu­ sammen, dass die verlangsamte Atmung den Parasympatikus aktiviert. Dieser Teil des Nervensystems triggert eine Ruhe­Er­neuerungs­Heilungs­Reaktion, die Ihnen das Gefühl vermittelt, Ihre Erfahrungen bewältigen zu können und mit sich selbst und der Welt verbunden zu sein.

Diese Wirkung wollen wir diese Woche in unserer Reihe über eine nachhal­tige Meditationspraxis nutzen und zwar mit einer Technik, die ich „Atemspüren“ nenne: Dabei lernen Sie, Ihre Atemmus­ter zu beobachten und sanft zu regulie­ren. Indem Sie Ihren Atem auf diese Wei­se achtsam wahrnehmen, entwickeln Sie mit der Zeit eine tiefe Beziehung zu ihm und lernen ihn schätzen als einen von einem Moment zum nächsten gleiten­ den Fluss von Empfindungen, Energien und Signalen. Im Gehirn bewirkt diese Aufmerksamkeit für den Atem, dass das sogenannte Default­ Netzwerk deakti­viert wird, über das Sie sich in Raum und Zeit einordnen. Ist dieses Netz „abgeschaltet“, fällt es Ihnen leichter, aus obsessiven Gedankenschleifen auszu­ steigen. Statt dessen kann der Parasym­patikus dafür sorgen, dass Körper und Geist sich entspannen und Sie tiefer in die Meditation finden.

Das dabei mit der Zeit wachsende Bewusstsein für die eigenen Atemmuster erleichtert es Ihnen auch, diese Muster zu verändern und zu mehr Balance zu finden. Bekanntestes Beispiel dafür ist die im Verhältnis zur Einatmung sanft verlängerte Ausatmung: Mit ihrer Hilfe können Sie die Arbeit von Sympatikus (zuständig für Aktivität in bedrohlichen Situationen) und dem beruhigenden Parasympatikus besser ins Gleichgewicht bringen. Das wiederum hilft Ihnen, sich ausgeglichener und gelassener durch Ihren Alltag zu bewegen. So können Sie die vielfältigen Informationen, die der Körper unablässig ans Gehirn sendet, besser wahrnehmen und beantworten. Sind Sie nämlich auf Ihren Atem einge­stimmt, dann registrieren Sie auch feine Empfindungen von Gereiztheit, Ermü­dung oder Ähnlichem, die Ihnen an­sonsten entgehen würden. Oft sind diese Empfindungen frühe Warnzeichen dafür, eine Grenze zu ziehen, sich auszuruhen, oder sich überhaupt so zu verhalten, dass Sie nicht in Stress geraten.

Heute erklärt Ihnen Richard Miller wie Sie das Atemspüren in die ersten Minuten Ihrer täglichen Meditationspraxis integrieren können. Erst wenn Ihnen die erste Übung vertraut ist und Sie ganz friedlich mit ihr sind, versuchen Sie die etwas anspruchsvollere zweite und schließlich die dritte Stufe. Später weben Sie das Atemspüren in Ihren Alltag ein, indem Sie sich – spontan oder zu regelmäßigen Zeiten – an Ihre Atemmuster erinnern und beobachten, ob Ihre Ausatmung geschmeidig, regelmäßig und ein kleines bisschen länger ist als die Einatmung.

Vorbereitung

Richten Sie sich eine bequeme Position im Sitzen oder Liegen ein. Die Augen können offen oder geschlossen sein. Scannen Sie nach und nach Ihren gesamten Körper und lösen Sie jegliche unnötige Anspannung. Dann richten Sie die Aufmerksamkeit auf den Atem.

1 Ein- und Ausatmung beobachten

Versuchen Sie, das Denken außen vor zu lassen und nur zu spüren. Nehmen Sie die Empfindungen in jeder einzelnen Einatmung und Ausatmung wahr. Beobachten Sie, wie sich einatmend der Bauch ausdehnt und wie er sich ausatmend wieder löst. Spüren Sie, wie Sie mit jedem Atemzug bei sich ankommen, sich entspannen und loslassen. Wenn die Gedanken abschweifen, bringen Sie die Aufmerksamkeit sanft und ohne zu werten zu den vom Atem ausgehenden Bewegungen Ihres Bauchs zurück.

Freuen Sie sich an den dabei ganz natürlich aufsteigenden Gefühlen von Wohlbefinden, Frieden und Erdung. Bleiben Sie so lange beim Atemspüren, wie es Ihnen angenehm ist. Um die Übung abzuschließen, öffnen und schließen Sie Ihre Augen mehrfach sanft und kehren zurück in einen hellwachen Zustand von Körper und Geist.

2 Fließende Energien und Empfindungen beobachten

Nehmen Sie sich für diese Übung etwa 10 Minuten Zeit. Sie beginnen wieder mit der Beobachtung der sanften Atembewegung im Bauch und nehmen wahr, wie Sie mit jedem Atemzug etwas mehr bei sich ankommen, sich entspannen und loslassen.

Dann richten Sie die Aufmerksamkeit auf den durch den Körper kreisenden Strom von Empfindungen und Energien: Mit jeder Einatmung fließen sie an Ihrer Körpervorderseite vom Kopf zu den Füßen hinab, mit jeder Ausatmung an der Körperrückseite von den Füßen bis zum Kopf empor. Während die Empfindungen und Energien weiter fließen, erlauben Sie jeder Zelle Ihres Körpers, sich für Leichtigkeit und Wohlbefinden zu öffnen.

Um die Übung abzuschließen, öffnen und schließen Sie Ihre Augen mehrfach sanft und kehren zurück in einen hellwachen Zustand von Körper und Geist.

3 Atemzüge zählen

Beobachten Sie den natürlichen Fluss der Empfindungen: Mit jeder Einatmung dehnt sich der Bauch aus, mit jeder Ausatmung löst er sich. Dann beginnen Sie, während des Spürens zugleich Ihre Atemzüge zu zählen: Einatmen, der Bauch hebt sich, 1. Ausatmen, der Bauch senkt sich 1. Einatmen, Bauch hebt 2, Ausatmen, Bauch sinkt 2 – und so weiter bis 11.

Das kann zu Anfang schwierig sein, etwa so, wie wenn man sich gleichzeitig mit einer Hand den Bauch reibt und auf mit der anderen den Kopf tippt. Aber lassen Sie sich nicht entmutigen und bleiben Sie möglichst sanft und beständig bei der Praxis.

Jedes Mal, wenn Gedanken aufsteigen, kehren Sie freundlich und ohne zu werten zur Übung zurück und beginnen das Zählen von Neuem bei 1. Mit jeder Rückkehr zur Konzentration stärken Sie Ihre Fähigkeit, sich nicht ablenken zu lassen. Während Sie spüren und zählen, beobachten Sie auch, ob sich irgendwo im Körper Spannungen bilden, die Sie wieder loslassen können. Um die Übung abzuschließen, öffnen und schließen Sie Ihre Augen mehrfach sanft und kehren zurück in einen hellwachen Zustand von Körper und Geist.

SO GEHT’S WEITER

Wie nehmen Sie Ihren Körper und Ihren Geist nach dem Atemspüren wahr? Vielleicht sind Sie erstaunt, wie erfrischt und zugleich geerdet Sie sich schon nach wenigen Minuten fühlen – bereit, jedem Moment zu begegnen, egal, was er bringen mag. Genau das können Sie sich in Ihrem Alltag zunutze machen. Nehmen Sie sich dafür vor, das Atemspüren immer dann zu üben, wenn Sie Entspannung, Ruhe und Erfrischung nötig haben. Mit meditativen Praktiken wie dieser legen Sie das Fundament dafür, Ihr Leben zu bestehen und zu genießen. Machen Sie sich dabei bewusst, dass es etwas ganz Natürliches ist, die Empfindungen, die im Körper präsent sind, auch wahrzunehmen und zuzulassen.

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