Volle Kraft voraus: Die vollständige Bootshaltung

Paripurna Navasana

paripurna = vollständig, komplett; nava = Boot; Asana = Haltung

Vermutlich haben Sie schon einmal gehört, dass Paripurna Navasana (vollständige Bootshaltung) ausgezeichnet geeignet ist, um unsere Körpermitte zu kräftigen. Dieses „Zentrum“, oder auch englisch „Core“, schließt weit mehr ein als nur die Bauchmuskulatur. Laut B.K.S. Iyengar führt uns die Praxis auf eine Reise nach innen – und zwar von der Peripherie des Körpers bis zum Zentrum oder Kern unseres Selbst. Navasana stärkt die Bauchmuskulatur, um den unteren Rücken zu unterstützen. Zudem lehrt uns die Koordination der Aktion von Armen, Beinen und Oberkörper wichtige Lektionen in Bezug auf unsere Aufmerksamkeitsspanne, Gefühle und wahre Natur. Ja, selbst eine verhältnismäßig einfache Haltung wie Navasana kann über den Weg der Muskeln, Nerven, Knochen und Organe unser wahres Selbst berühren – unseren tiefsten, innersten Kern.
Navasana ist eine kompakte Haltung, die alle Aktionen zur Körpermitte hin ausrichtet: Der untere Bauch zieht zur Wirbelsäule, die Wirbelsäule bewegt sich nach vorne, um die Vorderseite des Oberkörpers zu unterstützen, die Schulterblätter schieben nach unten und vorne in Richtung Brust, während diese sich weitet. Die Arme und Beine bleiben aktiv. Die Integration des ganzen Körpers verleiht uns ein Gefühl von physischer Stärke und Geschmeidigkeit, sowie emotionaler Ausgeglichenheit. Sobald der Geist unaufmerksam wird und die Gedanken zu wandern beginnen, schwindet diese innere Stabilität. Eine solche mentale Unausgeglichenheit äußert sich sofort in einem Mangel an Balance. Um eine gute Verbindung mit dem inneren Zentrum herzustellen und Stabilität in der  Asana zu erlangen entspannen Sie Ihr Gesicht und den Atemfluss. Der Gedanke dahinter ist: Wenn unser Geist verkrampft und unsere Augen hervortreten, verlagert sich unser Fokus nach außen. Sobald wir unsere Gesichtshaut entspannen, verlagert sich unsere Aufmerksamkeit nach innen, und wir erreichen echte Stabilität.

Wirkungen:
Stärkt die Bauch und Rückenmuskulatur
Gegenanzeigen:
– Schwangerschaft
– Menstruation

Auch wenn Navasana unsere Bauchmuskulatur trainiert, ist diese Haltung alles andere als ein direkter Verwandter des klassischen Sit-up aus dem Fitnesstraining. Anstatt die Brust so nahe wie möglich in Richtung Hüften zu bewegen und dabei die Vorderseite des Oberkörpers zu verkürzen, ziehen Sie in Navasana den Brustkorb vom unteren Bauch weg nach oben, um die Brust zu heben – während Sie auf Ihrem Gesäß balancieren. Dabei wird die Bauchregion zugleich angespannt und gedehnt. Die Körpervorderseite auf diese Weise verlängern zu können, ist eine Grundvoraussetzung für viele andere Asanas und zahlreiche Pranayama-Techniken. Dadurch wird die Brustkorbweitung gefördert (im Gegensatz zu einer verspannten, verkürzten Körpervorderseite, die Druck auf Lungen, innere Organe und den unteren Rücken ausübt). Ein gleichmäßiger und effizienter Atemfluss während der Praxis und im Alltag wird so unterstützt.

Bootshaltung_gebeugte_Knie_abb1Die vollständige Bootshaltung ist die Balance-Variante von Dandasana (Stabhaltung). Sollte es Ihnen also schwer fallen, aufgrund verkürzter Beinrückseiten in Dandasana aufrecht zu sitzen, dann werden Sie in Navasana Probleme haben, die gestreckten Beine mit geradem Rücken und gehobener Brust in Richtung Torso zu bewegen. In diesem Fall sollten Sie die Knie beugen (Abbildung 1), um die Haltung mit geradem Rücken zu üben.

 

Bootshaltung_Hände_UnterstützenFalls Ihre Bauch-, Rücken- oder Oberschenkelmuskulatur schwach trainiert ist, beginnen Sie mit der in Abbildung 2 gezeigten Variation. Beide Vorstufen der Asana ermöglichen eine graduelle Annäherung an die Endposition und schulen zugleich das essenzielle Zusammenspiel von Rücken, Beinen und Bauch. Für die Variante mit gebeugten Beinen beginnen Sie in Dandasana. Setzen Sie dann Ihre Handflächen rechts und links vom Becken auf den Boden. Pressen Sie die Oberschenkel nach unten und schieben Sie die Fersen von der Hüfte weg, um die Beine vollständig auszustrecken. Bewegen Sie den Oberkörper vom Boden weg und öffnen Sie den Brustraum. Ihr Rücken sollte sich anfühlen, als ob er sich nach vorne, in Richtung Oberkörpervorderseite schieben würde. Nun heben Sie die Körpervorderseite an – und zwar vom Beckenboden bis zum obersten Punkt des Brustkorbs. Um etwas Raum zwischen dem Oberkörper und den Beinen zu schaffen, pressen Sie die Spitzen Ihrer Oberschenkelknochen in den Boden und heben Sie die untere Bauchmuskulatur nach oben und von den Oberschenkeln weg, ohne das Gewicht auf den hinteren beziehungsweise oberen Teil des Gesäßes zu verlagern. Heben Sie den Brustkorb nach oben – vom Abdominalbereich weg – und rollen Sie die Schultern nach hinten. Als nächstes beugen Sie die Beine und setzen Ihre Füße auf den Boden. Greifen Sie die Knie mit den Händen und ziehen Sie sich leicht nach oben, indem Sie das Brustbein anheben. Heben Sie die Füße, bis die Schienbeine parallel zum Boden ausgerichtet sind, und flexen Sie dann die Füße. Die Innenseiten der Beine berühren sich. Mit immer noch gebeugten Beinen führen Sie nun die Oberschenkel näher zur Brust, während Sie diese weiter anheben.

Bootshaltung_fehler
So nicht: Vermeiden Sie einen Rundrücken und das Einfallen der Brust.

Sobald Sie stabil auf den Gesäßhälften balancieren, achten Sie darauf, den Rücken nicht rund werden zu lassen. Schieben Sie die Wirbelsäule in Richtung Körpervorderseite. Greifen Sie erneut die gebeugten Beine, um die Brust noch weiter anzuheben, und vergrößern Sie den Abstand zwischen Brustbein und Nabel. Ohne den Brustraum einsinken zu lassen, strecken Sie nun die Arme nach vorne auf eine Höhe mit den Unterschenkeln und parallel zum Boden. Die Handflächen zeigen zueinander. Nehmen Sie wahr, dass Ihre Bauchmuskulatur arbeitet, wenn Sie Ihre Oberschenkel in Richtung Oberkörper ziehen. Halten Sie den Rücken gerade, und versuchen Sie, die Oberkörpervorderseite noch stärker zu verlängern. Auch wenn Sie die Arme nach vorne strecken, ziehen Sie die Schultern zurück, und bewegen Sie die Schulterblätter nach unten und innen, in Richtung Brust. Zugegeben, gleichzeitig die Abdominalregion zu aktivieren und zu verlängern ist herausfordernd – dieser Vorgang dient jedoch der mentalen Fokussierung, indem die Aufmerksamkeit nach innen verlagert wird, hin zum Ursprung der Bewegungen. Lassen Sie den Atem ganz natürlich fließen, entspannen Sie die Kehle, und richten Sie den Blick gerade nach vorne. Halten Sie die Pose zwischen mindestens 30 Sekunden und einer Minute. Anschließend setzen Sie Ihre Füße mit einer Ausatmung zurück auf den Boden und kommen Sie zurück in Dandasana.

In der zweiten Variation (Bild s. oben) balancieren Sie in Navasana mit gestreckten Beinen, während Sie sich mit den Händen abstützen. Beginnen Sie auch hier in Dandasana. Lehnen Sie sich leicht zurück und platzieren Sie die Hände einige Zentimeter hinter dem Becken. Heben Sie die Brust an, beugen Sie die Beine, und bringen Sie die Beine so weit nach oben, bis die Unterschenkel parallel zum Boden ausgerichtet sind. Führen Sie die Oberschenkel näher zum Oberkörper, und bewegen Sie die hinteren Rippen und die Schulterblätter nach vorne. Mit einer Ausatmung strecken Sie die Beine aus, ohne den Rücken rund werden zu lassen. Beginnen Sie bei den Waden über die Fersen, bis Ihre Zehen schließlich die Höhe Ihres Kopfes erreichen. Während Sie die Leistung der Bauchmuskulatur deutlich wahrnehmen, achten Sie darauf, die Körpervorderseite nicht zu verkürzen. Stattdessen heben Sie den Nabel in Richtung Brust und die Rippen weg vom unteren Bauch. Rollen Sie die Schultern nach hinten und richten Sie den Blick geradeaus. Sie werden schnell merken, dass die Beine hart arbeiten müssen, damit Sie gerade und aufgerichtet in der Position verweilen können. Genau wie in Dandasana pressen Sie auch hier die Oberschenkelvorderseiten in Richtung Beinrückseiten, und strecken Sie die Waden in Richtung Fersen. Verlängern Sie die Beine durch die Innenseiten der Fersen und verbreitern Sie die Fußsohlen. Nutzen Sie die Hände, um im Gleichgewicht zu bleiben, ohne nach hinten zu kippen. Atmen Sie gleichmäßig, und entspannen Sie Gesicht und Kehle. Meistern Sie die Anstrengung aus der Kraft Ihres inneren Zentrums heraus, ohne äußerliche Anspannung, so dass der Geist ruhig bleiben kann. Anschließend setzen Sie die Füße mit einer Ausatmung wieder auf dem Boden ab.
Bootshaltung_richtigWenn diese Vorstufen kein Problem (mehr) für Sie darstellen, sind Sie bereit für die Endhaltung. Wenn Sie merken, dass Ihr Rücken und Ihre Beine doch noch nicht stark genug sind, um die Position mit geradem Rücken zu bewältigen, dann stützen Sie die Fersen an einer Wand oder auf einem hohen Stuhl ab. Beginnen Sie in Dandasana und stützen Sie sich hinter dem Rücken auf den Händen ab. Heben und strecken Sie die Beine – wie zuvor in Variante 2. Kommen Sie nun auf die Fingerspitzen und heben Sie den unteren Rücken, so dass sich Ihre gesamte Wirbelsäule anfühlt, als ob sie sich in Richtung Körpervorderseite schieben würde. Heben Sie die Arme und strecken Sie sie parallel zum Boden nach vorne aus. Die geöffneten Handflächen zeigen zueinander. Strecken Sie die Finger nach vorne aus, rollen Sie die Schultern nach hinten und unten, während Sie das Brustbein anheben. Behalten Sie die stabile Streckung der Kniegelenke bei, während Sie die Beininnenseiten in Richtung Ferseninnenseite verlängern. Spreizen Sie die Zehenballen – vom Großzeh bis zum Kleinzeh. Ohne die Knie zu beugen, heben Sie die Beine höher, bis die Zehen den Kopf überragen. Heben Sie die Brust, halten Sie Ihr Kinn horizontal zum Boden und entspannen Sie die Kehle. Blicken Sie geradeaus oder zu Ihren Füßen, und halten Sie die Pose zwischen 30 Sekunden und einer Minute. Dann setzen Sie Ihre Füße mit einer Ausatmung wieder zurück auf den Boden. Kommen Sie in die Rückenlage und lassen Sie den Körper mit gebeugten Beinen zur Ruhe kommen. Entspannen Sie die Bauchmuskulatur, indem Sie sie nach unten in Richtung Rücken sinken lassen. Erlauben Sie auch Ihrem Rücken, auf der Erde anzukommen. Sich in Paripurna Navasana aufrecht zu halten und Arme, Beine, Bauch und Brustbereich zu verlängern, dient auch dazu, die körperliche, geistige und emotionale Ebene zu verbinden. Diese Konzentration auf unser inneres Zentrum ähnelt einem Ruhepol inmitten eines Sturms. Trotz der vielen körperlichen Aspekte dieser Asana führt uns deren Resultat auf direktem Wege zu unserer tiefsten Quelle ruhiger Gelassenheit.


„Die Kraft der Präzision“: Unter diesem Motto unterrichtet Jason Crandell, Yogalehrer aus Francisco, Autor des amerikanischen YOGA JOURNAL, „Star“ diverser YOGA JOURNAL-DVDs und Model dieses Artikels diverse Workshops (auch in Deutschland).

 

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