Yoga-Welle: Warum Yoga sich immer wieder erneuert

In den 40 Jahren, in denen ich nun schon Yoga lehre, werde ich regelmäßig gefragt, was diese Yoga-Welle ist. Die Antwort ist ganz einfach: Es ist gar keine Welle! Die Natur einer Welle ist es, auf- und wieder abzuschwellen. Aber in all diesen Jahren habe ich tatsächlich noch kein wirkliches Abschwellen mitbekommen. Im Gegenteil: Ich würde behaupten, dass diese YogaWelle seit meiner Kindheit unablässig und stetig wächst. Damals ging meine Mutter Anfang der 60er Jahre an der Volkshochschule zum Yoga.

Als ich 1972 selbst intensiv mit der Yoga-Praxis begann, stieß ich auf großes Unverständnis. Viele dachten, Yoga sei eine Sekte. Deshalb würde ich nun Vegetarierin, dann Hindu und dann ganz bald nicht mehr ganz von dieser Welt sein. Tatsächlich konnten die Skeptiker*innen jedoch beobachten, dass ich langsam mein handfestes Schmerzsyndrom infolge eines Wirbelbruchs hinter mir ließ. Ich gewann in jeder Beziehung Boden unter den Füßen. Endlich ließ sich mein Leben so einrichten, dass ich zu der Person wurde, die ich heute bin.

Zu fremd für den Alltag?

Wie die meisten Menschen begann ich mit einer körperbezogenen Praxis, also Asana und Pranayama. Mir war klar, dass es mehr gab, nämlich Meditation und vor allem eine reich entwickelte Yoga-Philosophie. Aber die fand ich zu diesem Zeitpunkt noch sehr befremdlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mir in meinem Leben hier in Deutschland jemals von Nutzen sein könnte. 1974 bekam ich erstmals die Gelegenheit, Yoga zu unterrichten. Während meines Kurses an der Freien Universität Berlin wurde schnell deutlich, dass mir eben dieser Hintergrund fehlte. Um dem mehr Perspektive und Methode zu verleihen, interessierte ich mich zuerst für die Hintergründe der Anatomie. Anschließend für die Yoga-Philosophie. Ich begann das Studium des Yoga.

Etwa zur gleichen Zeit kam ich in Kontakt mit der Europäischen Yoga-Union. Und damit mit dem Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland, dem BDY. Damals veranstalte die Europäische Yoga-Union bereits zu dieser Zeit einen jährlichen Kongress im schweizerischen Zinal. Dort lernte ich die “High Society” der Yoga-Welle kennen, sowie ihre Gründungsväter und –mütter. In den folgenden Jahren wurde ich dort Stammgast. So bekam ich hautnah mit, wie sich der Yoga von Jahr zu Jahr entwickelte. Die alten Traditionslinien passten sich in ihrer Übungspraxis den westlichen Bedürfnissen an. Die indische Philosophie wurde in Beziehung zur westlichen und islamischen Mystik gesetzt. Hinduist*innen, Yogi*nis, Zen-Buddhist*innen, Christ*innen, Jud*innen und Moslim*innen saßen am runden Tisch. Dabei entwickelten sie neue Modelle, wie Menschen zu sich finden, und reflektierten über die Natur unseres Seins.

Überschwappen der Yoga-Welle

Daneben begann man sich überaus ernsthaft Gedanken über die Qualitätssicherung von Yoga-Unterricht und Yoga-Lehrausbildungen zu machen. Dadurch legte man viele Grundsteine, auf denen die heutigen Ausbildungskonzepte basieren. Die nationalen Traditionslinien entdeckten sich gegenseitig, denn es stellte sich heraus, dass jedes Land bestimmte Yogaformen bevorzugte. So kamen unter anderem der Yoga der ­Energie, der Yoga in der Tradition Krishnamacharyas und der Bihar-Stil nach Deutschland.

In den frühen 90er Jahren begann die deutsche Yogaszene in Kontakt mit der “Rückenschule” zu treten. Die Ausbilder und Ausbilderinnen des BDY konnten damals eine entsprechende Zusatzqualifikation erwerben, in der sie Grundlagen der Biomechanik lernten. Infolgedessen passten die meisten ihre Unterrichtskonzepte den Bedürfnissen der westlichen (Sitz)Kultur an.

Gleichzeitig fand eine weitere umwälzende Erneuerung statt: In Frankreich, Deutschland und Großbritannien etablierte sich durch die Vermittlung seines Sohnes T.K.V. Desikachar der Vini-Yoga in der Tradition von Krishnamacharya. Damit einher ging die Verbreitung des didaktischen Konzepts dieser Schule unter dem Namen “Vinyasa Krama“. Zusammengefasst ist dies eine Übungspraxis, die auf intelligente Weise den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Übenden angepasst ist. Man ging zunehmend dazu über, das Asana dem Menschen anzupassen und nicht mehr das Umgekehrte zu verlangen. Qualifizierter Einzelunterricht und persönliche Übungsprogramme erhielten neue Bedeutung. Aus dieser Strömung erwuchs der therapeutische Yoga. Dieser befreite das System endgültig vom Image der esoterischen Schwärmerei. Die Krankenkassen begannen, Yogakurse zu bezuschussen. So begann die Entwicklung des Yoga zum Massenphänomen.

Das “globale Yogadorf”

Seit einigen Jahren können wir von einem “globalen Yogadorf” sprechen. Die großen Lehrenden Indiens, der USA und Europas reisen durch die Welt. Dabei unterrichten sie an den allerorts ­sprießenden Yogazentren und Yogakongressen eine ständig wachsende Teilnehmer*innenzahl. Augenblicklich entdeckt China den Yoga für sich, was ­sicher einen Yoga-Boom in den Städten auslösen dürfte. So wie es vorher schon in Russland zu beobachten war. Jede Kultur, in der sich die Yogalehre etablieren kann, bringt etwas von ihrer eigenen Sichtweise mit ein. Dadurch stellt sich diese alte Wissenschaft vom Menschen heute in unglaublicher Vielfältigkeit und Reichhaltigkeit dar.

Viele Yoga-Übende erfahren ihre tägliche Praxis als eine verlässliche Verbindung mit einem großen Erbe der Menschheit. Das erlaubt es ihnen, ihre Zukunft bewusster und verantwortlicher zu gestalten. Zur Zeit wird sich die globale Yogaszene zunehmend ihrer sozialen und ökologischen Verantwortung bewusst. Dadurch erneuert sie die uralte Weisheitslehre gerade ein weiteres Mal. Und das wird nicht die letzte Erneuerung sein.

Lies weiter: Spiritueller Aktivismus


Anna_Trökes

Die Autorin der “Yoga-Welle”. Anna Trökes unterrichtet seit 1974 die ganze Bandbreite des Hatha Yoga und engagiert sich seit 1983 in der Yogalehrausbildung. Zehn Jahre lang leitete sie zusammen mit Boris Tatzky und Jutta Pinter-Neise die “Deutsche Akademie des Yoga der Energie”. Sie verfasste mehr als 15 Bücher über Themen des Hatha-Yoga und der Yoga-Meditation.

www.prana-yogaschule.de

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