Woher kommst du und wohin fliesst du?

Ebenso wie der heilige Ganges im Himalaya dem Gletschertor Gaumukh entspringt und beständig seinen Lauf zum Ozean hin nimmt, fließt Vinyasa wie ein Strom von seinem Ursprung bis in die Gegenwart. Woher aber kommt Vinyasa Flow Yoga und wohin fließt es?

Die Legende über die Entstehung des Hatha Yoga entspringt dem Reich der Mythen: Der Yoga- und Tantrameister Matsyendra belauschte Shiva in Form eines Fishes Shiva, als dieser in vermeintlich intimer Atmosphäre seiner Gefährtin Parvati Fragen über Yoga beantwortete. Unser westlich rationales Denken mag den Wahrheitsgehalt solcher  Geschichten in Frage stellen, allerdings geht es in Ursprungsmythen stärker um die Symbolkraft, Weisheit und versteckte Botschaften als um den historischen Realitätsgehalt. Der mythische Ursprung von Ashtanga Vinyasa Yoga ist nicht ganz durchsichtig und teils umstritten, eine klassische Traditionslinie ist nicht auffindbar. Dennoch lohnt sich der Blick auf den Urgroßvater der modernen Yogastile: T. Krishnamacharya. Krishnamacharya sorgte Anfang des letzten Jahrhunderts für eine Wiederbelebung des Yoga auf der Basis von Hatha Yoga. Zuvor war Yoga in Indien über die Jahrhunderte beinahe verschwunden. Krishnamacharya war Lehrer für Sanskrit, Yoga und Gymnastik an der Knabenschule am Palast des Maharadschas von Mysore. In wissenschaftlichen Ansätzen geht man davon aus, dass er in den dreißiger Jahren Ashtanga Vinyasa entwickelte – mit Fremdeinflüssen aus dem Wrestling und der Gymnastik, jedoch nach yogischen Prinzipien.

Krishnmacharya selbst war in dieser Anfangszeit sehr um die Verbreitung des Yoga bemüht. B.KS. Iyengar und Pattabhi Jois, Indra Devi und sein eigener Sohn Desikaschar waren seine direkten Schüler. Er selbst lernte bei einem Himalaya Yogi namens Yogeshwara Ramamohana Brahmachari, über den jedoch kaum etwas bekannt ist.

Vi-Nyasa

Diesem Wort kommt eine besondere Rolle zu: Im yogischen Denken zeigt es die Idee und ihre Verwirklichung an. Die Vorsilbe ‘vi’ bedeutet „auf bestimmte Art und Weise“. Das Wort ‘nyasa’, „Platzieren von Energie“, bezeichnet im Tantrismus die Verbindung des eigenen Körpers mit der äußeren Welt oder dem kosmischen Körper. Im tantrischen Ritual, der Pooja, geht es darum (wie im Yoga eigentlich auch), den eigenen Körper in einen göttlichen Körper zu verwandeln. Die Eigenschaften einer Gottheit oder des Universums werden symbolisch und mit Hilfe von Aufmerksamkeitslenkung,  Mantra und Yantra auf den eigenen Körper übertragen. Es gibt zahlreiche Arten von Nyasa, unter anderem Heilungs-Nyasas. Dabei wird der betroffene Körperbereich mittels Aufmerksamkeitslenkung und Mantra energetisiert. Das Ziel ist das Wiederherstellen des Energieflusses und eine ganzheitliche Harmonisierung zwischen menschlichem und kosmischem Körper. Dadurch soll die Gesundheit wieder hergestellt werden.

Ein vereinfachtes Nyasa ist Yoga Nidra, die Tiefenentspannung in der Yogastunde. Dabei werden einzelne Körperbereiche angesprochen und in die totale Entspannung begleitet. Dabei gibt es gemäß Nyasa sowohl eine bestimmte Reihenfolge als auch Art und Weise des Vorgehens.

Ein weiteres Beispiel für ein Nyasa ist die Verbindung von Asana und Chakra in den klassischen indischen Yogastilen. Auch hier wird in einer bestimmten Reihenfolge vorgegangen, beginnend am Muladhara Chakra an der Basis der Wirbelsäule und dann Schritt für Schritt nach oben bis zum Kronen Chakra (Sahasrara). Jedem Chakra sind eine oder mehrere Yogahaltungen zugeordnet, die auf eines der sieben Energiezentren wirkt. Von unten nach oben entsteht ein „Upward Flow“, von oben nach unten ein „Downward Flow“.

Vinyasa2

Die Kunst der Sequenzierung:
Das moderne Vi-Nyasa

Der ukrainische Yogalehrer Andrey Lappa verglich verschiedene klassische Yogastile miteinander und erstellte eine allgemeine Lehre für den Stundenaufbau nach energetischen Kriterien: die Art of Sequencing. Diese Methode eröffnet angehenden Lehrern durch das Platzieren der Energien und die Erfahrung des Kundalini Flow entlang der Wirbelsäule ein körperliches Verständnis des Energie-Flows im Vinyasa Yoga.

Über verschiedene Nyasas im Körper, durch Asana, Mantra und Pranayama eröffnet die Kunst der Sequenzierung neue innere Erfahrungsräume. Es gibt den Upward Flow, Downward Flow, das Surya Candra Balancing durch Energieverlagerungen in die rechte und linke Körperseite, Vinyasa Flows anhand der fünf Elemente oder den Bewegungsrichtungen der Gelenke oder Mandala Vinyasa in alle Himmelsrichtungen – dem Flow werden keine Grenzen gesetzt. Dennoch sind diese Kombinationen keineswegs beliebig, sondern stehen in Harmonie mit den universalen Prinzipien. Art of Sequencing ist eine Methode für die eigene Praxis und das Unterrichten von modernen Vinyasa-Flow-Klassen. Die Yogastunde kann als Sadhana, als tantrisches Ritual, erfahren werden, worin der eigene feinstoffliche, energetische Körper und der kosmische Körper in Verbindung treten und der Yogazustand im Selbst erfahren wird.

Vinyasa Krama

Ein wichtiges Prinzip im Vinyasa leitet sich aus dem von Krishnamacharya geprägten Begriff „Vinyasa Krama“ ab. Vinyasa Krama ist der stufenweise Aufbau – es bestimmt, was wir wann, wie und in welcher Reihenfolge tun. Im Vini Yoga versteht man darunter den stufenweisen Aufbau einer Sequenz entsprechend der individuellen Konstitution. Bei Shiva Rea findet sich Vinyasa Krama als Modifikation oder Alternativübung wieder. Allerdings bezieht sich der Begriff nicht ausschließlich auf Körperpositio-nen. Für den stufenweisen Aufbau innerer Prozesse ist es ebenso wichtig. Im Pranayama etwa gibt es bestimmte Übungen, die für Anfänger geeignet sind. Andere, teils intensivere, teils subtilere Übungen, setzen einen Reinigungsprozess voraus. Im Kundalini-Prozess, einer Pranayama-

Praxis mit Bandhas und Mudras, bedeutet Vinyasa Krama richtiges Timing. Jede Übung, vor allem jede neue Übung, sollte zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt werden, vor allem nicht zu früh. Überengagierter Ehrgeiz oder kopflastige Entscheidungen können dazu verleiten, fortgeschrittene Übungen zu Beginn zu machen. Doch dann eröffnet sich womöglich kein neuer Raum, sondern es bricht emotionales Chaos aus oder das Ego wird eher verstärkt. Deshalb: Alles zu seiner Zeit und aus einer guten Intuition heraus – wie eine Welle, die in Schwingung versetzt wird. Eine Welle ist per Definition Bewegung purer Energie. Das Wasser bleibt an der gleichen Stelle und ist als solches der Energieträger. Dementsprechend ist Vinyasa Krama die führende Energie und der Körper derjenige, der folgt.

Flow

Von zentraler Bedeutung im körperlichen Yoga ist der mittlere Energiekanal Sushumna. Er verbindet das Energiezentrum im Becken mit dem Kopfraum. Wird hier der Energiefluss angeregt, erfährt man im Kundaliniprozess intensive und transformierende Bewusstseinszustände. Das Auf und Ab der Energie entlang des mittleren Energiekanals entspricht dem Energiekreislauf im Yoga: Die Verbindung zu Sushumna erzeugt in uns ein Flowgefühl. Dies geschieht beispielweise durch die Wirbelsäulenatmung, bei der die Aufmerksamkeit mit der Einatmung nach oben und mit der Ausatmung nach unten wandert. In Kali Rays Triyoga Flows wird die Wirbelsäule in den Übergängen Wirbel für Wirbel bewegt, so dass die Energie entlang der Wirbelsäule von unten nach oben fließt. Das Wechselspiel von Rück- und Vorbeuge in den Übergängen heißt im Vinyasa Flow „Wavemotion“. Bauchkraft (Core Integration) zieht Energie im Zentrum zusammen und Rückbeugen dehnen die Energie hin zum Herzen und zur Kopfregion aus.

Quo vadis? Offen und verknüpft zwischen Himmel und Erde

Vinyasa Flow nimmt in der Yogaszene eine besondere Stellung ein. Sequenzen werden kreativ kombiniert, Asanas neu erfunden. Es gibt keinen Guru an der Spitze, ebenso wenig eine hierarchische Organisation oder eingrenzende Trademarks. Vinyasa Flow Yoga ist frei und definiert sich aus sich selbst heraus – eine Art „Open Source“ moderner Yogastile. Der Erfahrungshorizont der Schüler/innen und Lehrer/innen bestimmt, was darunter verstanden wird und wie es ausgeführt wird. Es gibt zahlreiche Variationen. Ein sportliches Verständnis zeigt Vinyasa als Fitnesssystem, weil die dynamischen Übungen besonders gut erlauben, Kraft und Ausdauer zu trainieren. Sie lassen sich zudem ästhetisch als Tanzchoreografien komponieren, daher eignet sich Vinyasa Flow auch als Yoga für Tänzer.

Im yogischen Sinne bezeichnet Vinyasa Flow jedoch die Verbindung mit dem eigenen Zentrum im Körper und zum Kosmos. Hierbei wird Vinyasa Flow zur direkten Erfahrung des Durchströmtwerdens von purer Energie. Es ist das Verschmelzen mit der Einheit, die wie ein kosmischer Puls die Vielfalt aus sich heraus erschafft und diese wieder in sich absorbiert. Unendlich und unaufhörlich.

Tatsächlich verbindet Vinyasa Flow die indische Tradition mit der westlichen Kultur. In Indien wird die Spiritualität des Westens als Herzkultur verstanden und das Herz steht für innere ethische Qualitäten, aber auch für positive Handlungen. Vinyasa Flow kann über die Verbindung von Innen und Außen, Oben und Unten, Energie und Bewusstsein, Herz und  Flow der Liebe seinen eigenen Ursprung  finden.

 


Von Eva und Henning Moog

Eva und Henning Moog leiten 200h & 500h Vinyasa Yoga Teacher Trainings (YA) in der Shala Berlin und 4-wöchige Intesivausbildungen in der Türkei, Marokko und Indien. Nähere Infos unter yogalehrerausbildung.info

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