Yoga in Zeiten des Krieges

Zwei Yogalehrerinnen im Nahen Osten. Die eine ist Palästinenserin und unterrichtet im Westjordanland, die andere ist Israelin und hält ihre Stunden in Tel Aviv.  Beide müssen sich im Sommer 2014 mit einer unerträglichen Situation arrangieren: dem Krieg. Wie ist es möglich, dennoch Akzeptanz und Hoffnung zu entwickeln? 

Wir kennen keinen Frieden. Die Bevölkerung hier hat das Kriegführen in den Genen. Doch selbst wenn wir solche Konflikte regelmäßig erleben, dieser Krieg war besonders beängstigend.“ Ernessa Bergman lebt in Tel Aviv und unterrichtet dort Yoga.

Aufgewachsen ist sie in New York, als Teenager zieht sie mit Vater und Schwester nach Israel. Nach dem Schulabschluss geht sie zunächst zurück in die Staaten. Wie alle Schulabsolventen in Israel, egal ob Frauen oder Männer, hätte sie sonst in der Armee dienen müssen. „Ich wollte nicht zum Militär, ich war Pazifistin.“ Doch nach dem Studium zieht es sie wieder zurück in den Nahen Osten. Sie gründet mit ihrem Mann eine Familie und fängt an, als Körpertherapeutin und später als Yogalehrerin zu arbeiten. Ihre drei Söhne werden in Israel geboren. Ihr erster Sohn hat Diabetes und muss deshalb nicht zum Militär. Ihr zweiter Sohn Daniel muss dienen und will sich seiner Pflicht auch nicht entziehen. Er bewirbt sich sogar um einen Platz in einer militärischen Spezialeinheit. Wenn er schon kämpfen muss, dann will er wenigstens in die beste Abteilung. Ernessa ist nicht begeistert, aber sie akzeptiert seine Entscheidung. „Selbst wenn ich nicht daran glaube, dass Gewalt die Lösung ist, und ich mir wünsche, dass dieser Konflikt gewaltfrei gelöst wird, muss ich einsehen, dass es Leute gibt, die uns den Tod wünschen. Und deswegen müssen wir diese verdammte Armee haben.“ Daniels Einheit ist im Juli 2014 Teil der Bodentruppen, die in Gaza einmarschieren. „Ich hing Tag und Nacht vor dem Fernseher und habe Nachrichten gehört, mit meinem Handy immer in der Hand. Wir haben täglich eine E-Mail vom Einsatzleiter bekommen, ob Daniel unverletzt und wohlauf ist. Ich habe für diese E-Mails gelebt!“

Ernessas palästinensische Kollegin schaut keine Nachrichten. „Aber ich höre den Menschen zu, die in meine Stunden kommen. Sie erzählen von Tötungen, Bombardierungen und zerstörten Häusern. Sie sind wütend, ängstlich und frustriert. Sie wollen von mir wissen: Wie soll es möglich sein, sich von all diesen negativen Emotionen loszulösen? Auch für mich war es oft schwierig, in dieser Situation konzentriert und ruhig zu bleiben.“

Fünf Mal pro Woche unterrichtet die zierliche Frau mit den langen, glatten Haaren in einem größtenteils leerstehenden Bürogebäude in einer kleinen Stadt im Westjordanland. Zu den Stunden kommen Christen, Muslime und manchmal auch Juden – obwohl es jüdischen Bürgern nicht erlaubt ist, ins Westjordanland zu reisen. Mit ihrem offenen Unterricht macht sich die christliche Palästinenserin nicht überall Freunde. Weil sie sich und ihre Schüler keiner unnötigen Gefahr aussetzen möchte, nennen wir sie hier einfach also Sara, ein Name, den es sowohl in der arabischen als auch in der jüdischen und christlichen Kultur gibt. Seit der aktuelle Konflikt ausbrach, ist es besonders heikel für Sara, gemischte Stunden zu unterrichten oder selbst zu gemischten Klassen nach Israel zu fahren. Viele ihrer Landsleute können die Offenheit, die sie den Israelis entgegenbringt, nicht nachvollziehen.

Sara erzählt, dass viele Palästinenser in den vergangenen Monaten nicht nur große Wut über das Vorgehen der israelischen Regierung empfanden, sondern auch Angst hatten, abends ihre Häuser zu verlassen. „Sie haben von der Entführung und der schrecklichen Ermordung eines palästinensischen Jugendlichen im Fernsehen gehört.“ Ihr Sohn ruft sie manchmal an und erzählt ihr, was im Rest des Landes passiert. Sara will das nicht hören. „Ich bete für die Leute, deren Häuser zerstört werden und deren Kinder nicht mehr am Leben sind, aber ständig diese Nachrichten zu hören, macht uns alle krank. Das können wir nicht gebrauchen in dieser Situation. Wir müssen stark sein, um uns gegenseitig zu unterstützen.“ Viele Menschen in ihrer Heimat wollen der Situation ganz entfliehen und das Land verlassen. Die meisten, die genügend Geld haben, zieht es weg aus dem Westjordanland. Saras Töchter leben in Jordanien und England. Ihr Sohn wohnt in Holland. Sie besucht ihre Kinder gerne. Im Ausland hat sie die Möglichkeit, sich frei zu bewegen, das ist ihr in Palästina nicht möglich. Wenn sie nach Jerusalem zu einem Yoga-Workshop fahren will, muss sie Wochen vorher eine Genehmigung beantragen. Doch auch wenn die Lebensstandards im Ausland höher sind, für Sara war es nie eine Option, aus dem Westjordanland wegzugehen. „Es gibt etwas, das mich immer wieder hierher zurückholt. Ich bin hier geboren und ich werde auch hier sterben. Es ist meine Mission, den Leuten hier zu helfen.“

Ernessas Leben in den Tagen des Bodeneinsatzes spielt sich größtenteils zwischen ihrer Wohnung und dem Bombenschutzkeller ab. Sie ist oft wie gelähmt von der Angst um ihren Sohn und schafft es kaum, sich aus dem Haus zu bewegen. Dann helfen ihr die privaten Yoga- und Körpertherapie-Stunden, die sie trotz der Krise mit ihren Schülern vereinbart. „Wenn ich anderen Menschen helfe, geht es ihnen besser, es geht mir besser und am Ende hilft uns das allen. Ich bin der Meinung, wenn alle Menschen sich mit ihren Ängsten und Frustrationen auseinandersetzen würden, wären wir gar nicht in dieser Situation.“ Das Gefühl, etwas tun zu können, statt nur auf die nächste Nachricht zu warten, hält sie davon ab, in eine dauerhafte Depression zu verfallen. Dennoch ist ihr Telefon immer in Griffweite, wenn sie in dieser Zeit unterrichtet.  „Irgendwann habe aber ich verstanden, dass es sinnlos ist, wenn ich die ganze Zeit auf mein Telefon starre und Nachrichten gucke. Mein Mann hat mich daran erinnert, dass das, was ich mir eigentlich wünsche, nicht die Nachricht ist, dass er lebt. Sondern einfach nur, dass es ihm gut geht. Also bin ich rausgegangen, an den Strand, wo wegen der Bombendrohungen keine Menschenseele war. Ich habe mich ins Meer gelegt und an meinen Sohn gedacht. Ich habe ihm all meine positiven Gedanken geschickt, eine Art mentales Schutzschild. Es hat sich so gut angefühlt, etwas tun zu können.“ Sie schafft es, ihre Angst in ein positives Gefühl zu verwandeln. „Mir ist klar geworden, dass die Angst um ihn nur daher kommt, dass ich ihn so sehr liebe. Und mir so sehr wünsche, dass er zurückkommt.“

„Ich kenne dieses Gefühl, sich nicht sicher zu fühlen aus meiner Kindheit. Damals hatte ich es andauernd“, erzählt Sara. „Inzwischen habe ich das Gefühl nicht mehr. Ich habe keine Angst. Auch während der Krise bin ich nach Jerusalem zu den Yoga-Workshops meines Lehrers gefahren.“ Ihr verändertes Verhältnis zur Angst sei ein Resultat ihrer Yogapraxis. „Das heißt nicht, dass ich ein perfektes Leben habe, auch ich habe meine Probleme. Aber ich bin der Meinung, was passiert, passiert. Selbst wenn im Nebenhaus eine Bombe einschlägt, habe ich keine Angst. Denn ich kann es nicht ändern.“ Sara will den Schülern in ihren Stunden eine ähnliche Gelassenheit vermitteln. Mit Meditation will sie ihnen helfen, sich von ihren Emotionen zu distanzieren.

Die meisten Menschen in Israel und Palästina haben sich an den Konflikt gewöhnt oder zumindest gelernt, ihn zu tolerieren. Jeder hat seine eigene Methode entwickelt, mit der Situation und den Gefühlen, die sie auslöst, umzugehen. Das müssen sie, um in dieser Umgebung leben zu können. Die einen blenden sie aus, die anderen schieben sie weg. Sara und Ernessa haben sich dafür entschieden, ihre Gefühle zu akzeptieren, seien es Angst, Schmerz oder Wut. „Dass ich den Schmerz akzeptiere, heißt aber nicht, dass ich aufgebe. Es heißt nicht, dass ich nicht versuche, etwas zu ändern“, erklärt Sara.

Der Graben zwischen der Realität und dem, was sich Ernessa und Sara für ihr Heimatland und für die Zukunft ihrer Kinder wünschen, ist riesig. Ernessa bekennt: „Frieden ist eine Realität, die wir in Israel nicht kennen. Ich wünschte, es wäre nicht so. Aber es ist so. Wir schicken unsere Söhne in den Krieg und gleichzeitig wollen wir, dass nichts davon passiert. Es ist surreal.“ Ernessa und Sara haben die Hoffnung dennoch nicht aufgegeben, dass Realität und Wunschvorstellung irgendwann näher zusammenrücken und es dauerhaften Frieden gibt. „Natürlich gibt es diese Momente, in denen ich denke: Alles was ich tue, ist so klein im Vergleich zu den großen Träumen, die wir haben“, erzählt Sara. „Aber irgendwo muss man ja anfangen. Und jede Veränderung beginnt erst einmal im Kleinen. Es wird dauern. Nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte.“

Zunächst muss dafür gesorgt werden, dass die Grundbedürfnisse aller Menschen gedeckt sind, dass sie genügend Essen, Wohnungen, Bildung haben, meint Sara. Danach sieht sie es als größten Schritt in Richtung Frieden, dass die Bevölkerung der Region ein gegenseitiges Verständnis entwickelt. „Das geht nur, wenn man ein Bewusstsein für die eigene Person bekommt. Yoga kann dabei helfen. Es ist ein Hilfsmittel, sich seiner eigenen Wünsche und Abneigungen bewusster zu werden.“ Yoga hat ihr Leben verändert, dann kann es auch das Leben aller anderen ändern. „Dafür reicht es aber nicht, wenn ab und zu internationale Gastlehrer hierherkommen. Wir brauchen mehr palästinensische Yogalehrer. Menschen, die in ihren eigenen Gemeinden unterrichten. Wir brauchen Kontinuität.“ Ernessa sieht das ähnlich. „Ich kann nicht nach Ostjerusalem gehen und dort Araber unterrichten. Das wäre Missionierung und die halte ich für gefährlich.“

Ihr Sohn Daniel ist inzwischen heil aus dem Einsatz zurückgekehrt. Auch ihn wollte sie bisher nie zum Yoga überreden. Nach seiner Heimkehr im August hat sie ihm jedoch geraten: „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um damit anzufangen.“ Sie hat einige Schüler, die nach dem Militärdienst begonnen haben, Yoga zu üben. Vielleicht hilft es ihnen, den Schrecken, den sie im Krieg gesehen haben, zu verarbeiten. Für ihren Sohn sind die Erfahrungen, die er in Gaza gemacht hat, noch zu frisch, um sich damit auseinanderzusetzen. Aber diese Aufarbeitung muss kommen, wenn sich etwas ändern soll in dieser Generation, die „das Kriegführen mit der Muttermilch aufgesogen hat“, wie Ernessa sagt. „Wenn ich diese jungen Männer ansehe, meine Söhne und ihre Freunde, sehe ich ein echtes Verlangen nach Veränderung. Das ist meine größte Hoffnung.“ Bevor ihr Sohn nach Gaza einberufen wurde, hat Ernessa ihn gefragt, ob er kämpfen will für sein Land. „Er hat mich entgeistert angeschaut und gesagt: Mama, bist du bescheuert? Wir haben alle Angst. Niemand von uns will kämpfen.“


Veronika Köberlein ist freie Journalistin und Yogalehrerin aus München. Kurz bevor die aktuelle Gazakrise im Juli 2014 ausbrach, besuchte sie Israel und das Westjordanland.

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