Befreiung durch Handschrift

Die Handschrift der Freiheit

In Deutschland ist der amerikanische Zen-Mönch Edward Espe Brown durch sein Buch „Das Lächeln der Radieschen“ und als Protagonist in Doris Dörries Dokumentarfilm „How To Cook Your Life“ bekannt geworden. Neben dem Kochen widmet er sich aktuell einer weiteren Alltagspraxis und deren bewusster Ausführung: Was kann sich einstellen, wenn man die eigene Handschrift ändert? Nichts weniger als persönliche Freiheit, sagt Edward Espe Brown im YOGA JOURNAL-Interview.

YOGA JOURNAL: Edward Espe Brown, in „How To Cook Your Life“ ­haben Sie die Zubereitung einer Mahlzeit als spirituellen Akt des Respekts vor sich selbst, den Lebensmitteln und den Gästen vorgestellt. Im kommenden Sommer bieten Sie in Deutschland und Österreich wieder Koch-Retreats an, in München aber auch einen Workshop mit dem Titel „Befreiung durch Handschrift.“ Was hat es damit auf sich?
EDWARD ESPE BROWN: Ich habe 1995 als Form der Meditation begonnen, meine Handschrift zu ändern. Unsere Hände sind ein Ausdruck für die Kreativität des Körpers, sei es beim Kochen, Malen, Schnitzen oder Schreiben mit Stift auf Papier. Der bewusste Einsatz dieses Werkzeugs hat einiges dazu beigetragen, mich aus eingefahrenen Mustern zu befreien.

Seit 1965 praktizieren Sie Zen- und Vipassana-Meditation, üben Yoga und Qi Gong, haben Erfahrung in Akupunktur und Homöopathie und geben Seminare zu vegetarischer Ernährung. Welche eingefahrenen Muster meinen Sie?
Das alles tue ich seit über 40 Jahren und bin dabei durchaus frustanfällig. Ich interessiere mich für viele Dinge und überlege immer, wie ich meine Erfahrungswelt weiter anreichern kann. Ich habe zwar eine Ausbildung zum Zen-Lehrer gemacht, aber vor kurzem, mit 65 Jahren, habe ich mir gedacht: Es wäre schön, Zen-Lehrer zu sein. Allmählich fühle ich mich bereit und merke, dass die Menschen anders als früher auf mich reagieren – und ich auf sie.

Ist das Üben von Handschrift ein Teil des Zen-Systems?
Meine aktuelle Art des Übens, die von meiner Lehrerin ­Vimala Rodgers inspiriert ist, ist kein Bestandteil des Zen, obwohl in Japan und China die Kalligraphie schon immer eine Rolle im Leben und der spirituellen Praxis gespielt hat. In der Art, wie wir Worte zu Papier bringen, äußern sich ­generell unsere Strategien, das Selbst zutage zu fördern oder zu schützen. Den Ausdruck hierfür zu ändern, kann das ganze Leben beeinflussen. Ohne die Schreibpraxis hätte ich nicht in „How To Cook Your Life“ auftreten können. Aber damals hatte ich bereits in größeren Buchstaben geschrieben – ich war bereit, gesehen zu werden.

Kann man sich beim Üben konkrete Ziele setzen?
Erleuchtung ist nicht garantiert und Erwartungen eher kontraproduktiv. Ich ermutige die Schüler, herauszufinden, was sie an der Praxis anzieht. Das ist interessanter als die ­Vorstellung von dem, was wir erreichen können. Das eignet sich höchstens als anfängliche Motivation. Ich habe eine ­Weile Improvisationstheater gespielt. Dort gab es ­ironischerweise recht verbindliche Regeln, die auf jede Übung ­anwendbar sind: Sei präsent, plane nicht, starte von dort, wo du bist, mache Fehler, akzeptiere jedes Angebot und passe es an die Situation an.

Das Schreiben lernen wir als Schulkinder, in einem Alter, in dem man meistens noch nicht bewusst über seinen Unterricht reflektiert. Parallel existiert ein großer Wissensdurst.
Je nach Persönlichkeit versuchen wir zu diesem Zeitpunkt auf bestmögliche Weise das umzusetzen, was uns die Autoritäten vorschreiben. Was wir später daraus machen, formt unseren Charakter weiter. Alle regelmäßigen Übungen, seien es Meditation, Yoga, Qi Gong oder eben Handschrift ändern unser Sein und damit unser Leben. Wer wir sind, reflektiert sich in unseren vielen Aktivitäten. Wenn wir diese ändern, wirkt es auf unser Selbst. Die Prinzipien des Zen-Kochens, vor allem die absolute Vermeidung von Verschwendung, haben mein ganzes Denken beeinflusst.

Was bedeutet es, dass Handschrift eine physische Praxis ist?
In unserer Kultur ist es mittlerweile fast verpönt, mit den Händen zu arbeiten. Intellektuelle Tätigkeiten sind viel anerkannter. Vielleicht haben Chirurgen oder Künstler noch ein gutes Image, aber Brot zu backen befindet sich Lichtjahre von dieser Wertschätzung. Ich glaube, dass die Handschrift in ihrer physischen Form eine große Nähe zu Yoga hat. Ich stelle mir gerne vor, dass wir in uns kleinere Körper tragen, die noch nicht erwachsen sind, jüngere Versionen von uns. Im Yoga sprechen wir manchmal davon, uns neu in den Körper einzufinden, neues Bewusstsein in den Körper zu bringen. Ich übe gelegentlich mit Erich Schiffman, mir gefällt sein von Iyengar inspiriertes „Freedom Yoga“. Darin entdecken wir alle Körperteile neu, bringen Aufmerksamkeit bis in die Kniescheiben und Fingerknöchel, schieben unsere „kleineren“ in die „großen“ Hände, den inneren in den äußeren Körper. Kaum jemand studiert die Details so genau wie die Iyengar-Yogis. Erich Schiffman sagt immer: Wenn du diese Methoden einmal kennst – wie kannst du dann beim Alten bleiben? Warum nicht alles von Herzen nach innen strömen lassen? Dann formen die Hände die unglaublichsten Mudras. Meine Schreibpraxis wäre ohne Iyengar Yoga nicht die gleiche. So kann mein Bewusstsein in jede Fingerspitze gelangen – und darüber hinaus.

Welche Bedeutung hat der kreative Aspekt der Handschrift?
Die Hände machen einen sehr großen Teil unserer Eigenschaft als Menschen aus. Mit ihnen als Werkzeug haben wir unsere komplette Kultur geschaffen. 35 Prozent unserer motorischen Neuronen laufen in die Hände. Wenn wir mit ihnen also Neues lernen, beeinflusst dies unser gesamtes System. In San Francisco habe ich viel mit der Yoga-Lehrerin Judith Lasater geübt. Sie betont immer: „Mache“ die Übung nicht, sondern empfange sie, lass die Erfahrung zu. Das ist sehr kreativ, denn es wirkt befreiend. Kontrollieren wir uns zu sehr, grenzen wir uns über die Maßen ein. Insgesamt geht es ja beim Schreiben, Yoga und im Leben darum, den Raum zu nutzen, den wir zur Verfügung haben. Wie füllen wir die unbeschriebene Seite, wie ändern wir den Verlauf der Zeilen?

Gibt es zwischen Zen und Yoga eine natürliche Verbindung?Edward Brown
Im Zen heißt es oft: „Gerade sitzen.“ Davon machen wir uns eine Vorstellung und befehlen dem Körper die Ausführung. Stattdessen sollten wir Bewusstsein üben. Wer weiß besser, wie die Hüften sich ausrichten sollten? Der Geist – oder vielleicht die Hüften? Unser Denken sollte die Hüften darin unterstützen, ihre wahre „Hüftigkeit“ („Hipness“!) zu finden. In einer Mischung aus Stabilität und Leichtigkeit kann schließlich Energie fließen. Benutze deine Intelligenz, um deinen eigenen Weg zu finden. Wenn du du bist, ist Zen Zen. Trotzdem wollen wir oft mehr Zen als wir selbst sein. Letztendlich ist es bei jeder Praxis das Gleiche: Je mehr wir durch die Übung erfahren, desto mehr können wir alles im ­Leben als Übung annehmen.

Je nach Kultur nimmt Handschrift verschiedene Formen an. Gilt beim Üben das Gleiche für lateinische Buchstaben, ­Sanskrit oder chinesische Schriftzeichen?
Die unterschiedlichen Formen bergen unterschiedliche Energien. Wenn man eine bestimmte Form praktiziert und sich dabei von alten Verhaltensweisen entfernt, kann man sich auch von seinem alten Selbst lösen. Das Zen-Prinzip lautet: Praktiziere die Form, um dich von deinem Ego zu lösen. Wenn das geschehen ist, kannst du die Form entweder beibehalten oder dich etwas anderem widmen. Ein anderer Sinn von Form ist die Chance, unsere Ausdrucksmöglichkeiten zu vervielfältigen.

Inwieweit kann Handschrift Aufschluss über die Persönlichkeit der Schreibenden geben?
Die populären Graphologie-Handbücher typisieren und bewerten eher oberflächlich. Mein Lehrer Shunryu Suzuki Roshi sagte: In der Meditation, wenn alle die gleiche Haltung einnehmen, kann ich sehen, wer der Einzelne ist. Das gilt für alle Aktivitäten. Schriftübungen sind eine hervorragende Praxis, um sich von alten Mustern weg zu bewegen. Ich habe die letzten zwei Jahre sehr ernsthaft geübt. An einem bestimmten Punkt hat sich mein Stift regelrecht verselbständigt.

Tatsächlich sind Sie nach über 40 Jahren immer noch ­überrascht von einer spirituellen Praxis…
Auf welche Weise können wir wir selbst sein? Das ist und bleibt die interessante Frage. Dabei kann ich immer noch von Erfahrungen oder Wechseln der Empfindungen überwältigt werden. Aus Lampen­fieber kann kreative Energie werden, genauso kann aus Verkrampftheit plötzliche Leichtigkeit oder Ruhe ­entstehen. Und natürlich eine ganze Reihe von ­Gefühlen, die man niemals vorher gekannt hat…

 Fotos: Eric Brown

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