Abhijata Sridhar Iyengar im Interview: Des Meisters Enkelin

Abhijata Sridhar Iyengar, 30, die Enkelin von B. K. S. Iyengar, ist auf dem besten Weg, in die Fußstapfen ihres berühmten Großvaters zu treten, der sie seit ihrer Jugend unterrichtet. Sie lehrt am RIMYI (Ramamani Iyengar Memorial Yoga Institute) in Pune und begleitete ihre Tante Geeta Iyengar in den letzten Jahren regelmäßig als Assistentin zu internationalen Conventions.

YOGA JOURNAL: Sie haben während der Convention 300 Übende gleichzeitig unterrichtet, unaufgeregt und hoch konzentriert. Woher nehmen Sie diese Sicherheit?
ABHIJATA SRIDHAR IYENGAR: Ich lebe in Pune und lerne von Guruji persönlich. Es gibt nichts Größeres.

Wenn Sie von Ihrem Großvater sprechen, nennen Sie ihn „Guruji“.
Ich beziehe mich auf diesen Begriff, weil ihn die Leute verstehen. Ich selbst nenne ihn nicht Guruji, sondern Tata. Das ist der tamilische Begriff für Großvater.

Wie ist Ihre Beziehung zu ihm?
Er ist mein Großvater. Doch wenn er unterrichtet, glaube ich nicht, dass er in dieser Situation seine Enkelin in mir sieht. Jedenfalls sagt er anderen: Sie ist nicht meine Enkeltochter, wenn ich sie unterrichte. Und er betont, dass er nicht nachsichtiger mit mir umgeht als mit anderen Schülern. Wenn er mich unterrichtet, dann ist unsere Beziehung die zwischen Lehrer und Schülerin, zwischen Guru und Shishya. Nichts anderes.

Und dennoch unterscheidet sie sich von anderen Lehrer-Schüler- Beziehungen …
Das ist richtig. Ich bin glücklich darüber, in diese Familie hineingeboren zu sein. Seit ich denken kann, bin ich in den Händen von Guruji. Das ist ein besonderes Band. Doch glaube ich, dass viele von Gurujis Schülerinnen und Schülern, Seniors, die lange mit ihm zusammenarbeiten, diese besondere Verbindung ebenfalls empfinden.

Abhijata Sridhar Iyengar
Abhijata Sridhar Iyengar – Foto: Irene Nießen

Wann haben Sie mit Yoga begonnen?
Ich wurde zwar in Pune geboren, habe aber bis zum Jahr 2000 in Chennai in Tamil Nadu gelebt. Mit 17 bin ich nach Pune zurückgezogen, um meinen College-Abschluss zu machen. Gleichzeitig habe ich begonnen, ernsthaft am Yogaunterricht teilzunehmen. Bis dahin hatte ich wenig Ahnung von der Praxis. Zwar hatte ich immer Gurujis „Licht auf Yoga“ dabei, und wenn ich ein bisschen üben wollte, was nicht besonders oft vorkam, habe ich das Buch vor mich hingelegt, die Fotos angeschaut und versucht, die Haltungen nachzuahmen. Aber um ehrlich zu sein, habe ich sehr selten hineingeschaut, eigentlich erst während meiner Examenszeit. Damals habe ich mich an den Wirkungen der einzelnen Asanas orientiert und mir diejenigen herausgesucht, die ich in meiner Situation brauchen konnte. Ich habe zum Beispiel überlegt: Welche Übungen sind gut, um einen klaren Kopf zu bekommen? Mit welchen kann ich mich beruhigen?

Wann haben Sie Feuer gefangen?
Die ersten fünf Jahre bin ich regelmäßig in den Unterricht gegangen und habe hauptsächlich von meiner Tante Geeta und meinem Onkel Prashant gelernt, da Guruji seit 2000 keine General Classes mehr unterrichtet. Nachdem ich 2005 mein Studium der Zoologie und Bioinformatik beendet hatte, stand ich vor der Wahl: entweder weiter zu studieren und meinen Doktor zu machen, was nochmals sechs Jahre knallhartes Studium bedeutet hätte, oder Yoga zu machen. Beim Studium hätte ich nicht einmal mehr Zeit gehabt, die General Classes zu besuchen. Yoga aber wollte ich nicht mehr aufgeben. Ich wollte im Institut sein. Also habe ich mich entschlossen, erst mal eine Pause einzulegen und so viel Zeit wie nur möglich im Institut zu verbringen. Und nach einem Jahr zu schauen, wie es mir damit geht.

Und was ist aus dem Jahr geworden?
Noch ein Jahr und noch ein Jahr und noch ein Jahr. Die Frage „Studium oder Yoga?“ hatte sich damit erledigt. (lacht)

Sieben Jahre später leiten Sie die größte Iyengar-Yoga-Veranstaltung in Deutschland. So etwas nennt man wohl „Karriere machen“?
Von außen betrachtet ist es eine große Sache, verbunden mit der großen Verantwortung, so vielen Menschen etwas zu vermitteln. Sie kommen ja, weil sie wissen, das Gurujis Enkelin unterrichtet, die wiederum direkt aus der Quelle in Pune schöpft. Das ist das eine. Das andere ist: Das, was ich von diesen drei Menschen in Pune empfange [Anm. d. Red.: Guruji, Geeta und Prashant], ist so umfangreich, so besonders, so genuin, dass mein Unterricht einfach ein Weitergeben dieses Wissens ist. Es geschieht automatisch.

Empfinden Sie bei all dem eine Art von Druck, bestimmten Erwartungen zu genügen?
Ich möchte diese Frage nicht herunterspielen, aber ich empfinde keinen Druck. Sicher wäre es mir vor vier Jahren noch anders gegangen. Doch nach all dem Lernen, dem Üben in Pune, spüre ich keinen Druck.

Iyengar Yoga zeichnet sich durch Exaktheit und Tiefe aus. Ist diese Form des Yoga „massentauglich“?
Guruji sagt immer: Yoga ist für alle da. Als er in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts mit Yoga begann, war Yoga nicht anerkannt. Weder in Indien, noch anderswo. Guruji musste also ganz unten anfangen, musste die Menschen an das Thema heranführen, sie dafür interessieren, sie schließlich dafür gewinnen. Das war ein langer und steiniger Weg. Heute ist Yoga weltweit eine verbindende Kraft geworden. Yoga ist wie eine Sprache, die jeder verstehen kann. Yoga macht das Leben leichter, besser.

Das Besondere am Iyengar Yoga ist unter anderem die Verwendung von Hilfsmitteln, sogenannten Props. Das sind Klötze, Polster, Decken, Seile, Stühle, um nur die wichtigsten zu nennen.
Das absolut Wichtigste haben Sie vergessen: den eigenen Körper. „Body is my first prop.“ Dieses wunderbare Statement von Guruji zeugt von tiefer Weisheit. Das Leben stellt uns in eine Zeit und an einen Ort und wir müssen das Beste daraus machen. Unser Körper ist unser Instrument, wir sind damit geboren. Alles andere haben wir uns später angeeignet. Aber unseren Körper, den besitzen wir von Anfang an. Mit ihm können wir arbeiten. Im Yoga lernen wir, wie wir unseren Körper benutzen können, jeder für sich und auf seine Art. Denn jeder Körper ist anders. Wir brauchen also gar nicht erst anfangen, uns zu vergleichen. Das hat überhaupt keinen Sinn. Lerne, mit deinem Körper zu arbeiten, einen anderen hast du nicht.

Bedeutet dies, dass wir uns nur auf den physischen Körper beziehen?
Jeder kommt zum Yoga mit dem Wunsch, Gesundheit zu erlangen. Körperliche Gesundheit, seelische bzw. geistige Gesundheit. Ganz gleich, aus welchem Grund du zum Yoga kommst, sagt Guruji, fang an. Fang einfach an. Und du wirst realisieren, welche Fülle es dir geben kann. Denn, so Guruji, Gesundheit ist nicht einfach Gesundheit. Es ist körperliche Gesundheit, physiologische, mentale, psychische, intellektuelle und emotionale Gesundheit, es ist Gesundheit des Bewusstseins, Gesundheit des Gewissens, spirituelle Gesundheit. Am Ende erlangst du göttliche Gesundheit. Aber du musst anfangen.

In Bezug auf B. K. S. Iyengar sprechen Sie immer auch von „beauty of the pose“. Was genau drückt sich darin aus?
Die Schönheit, die ich meine, geht weit über das hinaus, was wir als einen flexiblen, gelenkigen Körper bezeichnen. Gurujis Asanas sehen wunderschön aus, kunstvoll, anmutig. Wenn der Geist mit jedem Teil des Körpers verbunden ist, fließt Energie. Das ist es, was Schönheit erstrahlen lässt. Wenn der Geist und die Intelligenz nicht mit dem Körper verbunden sind, kann der Körper das innere Licht nicht ausstrahlen. Es geht um Ausstrahlung, im reinsten Sinn des Wortes.

Kommen wir zu einem Begriff, den man sofort mit Yoga assoziiert: Guru. Was verstehen Sie darunter?
Ein Guru ist jemand, den du vollkommen akzeptierst. Ohne jede Berechnung, Erwartung, Vorurteil, ohne Angst, ohne jeden Widerwillen. Dem du dich bedingungslos hingibst.

Das setzt großes Vertrauen auf Schülerseite, große Verantwortung auf Lehrerseite voraus.
Absolut. Und in diesem Sinne ist Guruji für mich ein Guru. In dessen Gegenwart mein Ego gar nicht hochkommt. Und mit Ego meine ich nicht die landläufige Bedeutung von Hochmut oder Arroganz. Sondern ich spreche von Identität. Wenn ich mit Guruji übe, wenn er mich unterrichtet, und wenn manchmal unglaublich wunderbare Dinge in meiner Yogapraxis geschehen, habe ich nicht das Gefühl, dass ich sie getan habe.

Fühlen Sie sich abhängig?
Oh, jetzt muss ich überlegen. Ich bin unabhängig. Und ich bin sehr verbunden.

Wie empfinden Sie Ihre Unabhängigkeit? Sehen Sie sich als Botin?
Ich fühle mich unabhängig in dem Sinne, dass ich hier bin, um zu unterrichten und nicht, um Gurujis Teachings zu überbringen. Ich habe gar nicht dieses Kaliber, diese Qualifikation. Er gibt mir so viel, dass ich unmöglich das Gleiche weitergeben könnte. Da würde zwischendurch einiges verloren gehen. Insofern bin ich auch keine Botin. Sondern ich gebe weiter, was ich von ihm gelernt, was ich aufgesogen habe. Das sind nur einige Tropfen aus dem Ozean seines immensen Wissens.

Für Übende sind diese wenigen Tropfen bereits sehr viel.
Dann können sie ermessen, wie groß der Ozean ist.

Wie sieht Ihr normales Leben aus?
Zugegeben, ich verbringe sehr viele Stunden im Institut. Aber ich bin ein normaler Mensch, der Freunde hat, ausgeht. Seit letztem Jahr bin ich verheiratet.

Macht Ihr Mann auch Yoga?
Er lernt noch. Bevor er mich kannte, hatte er keine Verbindung zu Yoga.

Seit wann reisen Sie in „yogischer Mission“ durch Europa?
Vor drei Jahren habe ich meine Tante Geeta Iyengar zur Yoga Convention nach Köln begleitet, als Assistentin. Das war meine erste Reise nach Deutschland. Ich war inzwischen in England, habe letztes Jahr auf der Convention in Frankreich un- terrichtet und in diesem Jahr in Spanien, Belgien und Deutschland.

Was bedeutet es, den Namen Iyengar zu tragen? Sind Sie stolz darauf?
Stolz ist man auf etwas, das man erreicht hat. Insofern passt dieser Begriff hier nicht. Ich habe nichts dafür getan, in diese Familie hineingeboren zu sein. Für mich ist es ein Segen. Ich bin glücklich darüber.

Was ist mit den anderen Enkelkindern?
Guruji hat noch vier Enkelsöhne. Sie nehmen am Unterricht teil, unterrichten aber selbst nicht. Ich bin die Einzige, die unterrichtet.

Ist Iyengar Yoga so eine Art Familienangelegenheit?
Das klingt irgendwie negativ. Ich gehöre zwar zur Familie, aber es gibt so viele andere Menschen, die schon mit Guruji arbeiteten, noch ehe ich überhaupt geboren wurde und die keine Familienmitglieder sind, so dass man nicht von einer Familienangelegenheit sprechen kann.

Iyengar Yoga ist bekannt für seine strikte Zertifizierung. Welches Zertifikat haben Sie?
Keines. Guruji sagt, dass er kein Zertifikat hat. Und Geeta und Prashant sagen das Gleiche: dass sie keines haben. Das sagen sie nicht, um sich zu beschweren, sondern einfach, um auszudrücken, dass es nicht in erster Linie um das Zertifikat geht. Ich habe lediglich Gurujis Erlaubnis, zu unterrichten. Er hat mich hierher geschickt.

Betrachten Sie sich als Yogalehrerin?
Eher würde ich sagen: Ich unterrichte Yoga. Wenn ich mich als Yogalehrerin bezeichne, liegt der Fokus auf Lehrerin. Wenn ich sage, ich unterrichte Yoga, liegt der Fokus auf Yoga. Wäre ich in der IT-Branche, würde ich mich als Softwareentwicklerin bezeichnen. Doch in Bezug auf Yoga, wo ich zum einen mit meinem eigenen Körper und Geist und zum anderen mit dem Körper und Geist von anderen zu tun habe, denke ich, dass meine Identität nicht das Wichtigste ist. Ich habe darüber aber noch gar nicht nachgedacht.

Wer kann zu Ihnen nach Pune kommen?
Weil der Platz im Institut begrenzt ist, haben wir ein System entwickelt, nach dem die Anmeldungen erfolgen. Dazu gehört als Voraussetzung, mindestens acht Jahre Iyengar Yoga zu praktizieren. Dazu gehört eine Empfehlung des örtlichen Lehrers. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kommt man auf die Warteliste und wird schließlich für vier oder acht Wochen zugelassen.

Gibt es für Sie eine Art Yoga-Botschaft?
Was ich sehr stark empfinde: Jeder von uns, der Zeit und Raum mit Guruji teilen darf, kann sich überaus glücklich schätzen. In Gurujis Zeitalter zu leben, in seiner Gegenwart zu sein, ist ein großer Segen.

Eine letzte Frage: Was bedeutet der Name Abhijata?
Guruji hat diesen Namen ausgewählt. Er stammt aus dem Sanskrit und taucht im Yoga-Sutra 1.41 von Patanjali auf. Seine Bedeutung ist: „pure transparent jewel“. Von edler Herkunft.

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