Yoga im Altersheim: So verändert die Praxis die Menschen

Christel Vollmer gibt Yogastunden in einem Hamburger Seniorenheim. Und auch wenn ihre Yoginis, zehn Damen zwischen 82 und 94 Jahren, Adho Mukha Shvanasana, den Hund, lieber nicht auf der Matte, sondern mit Hilfe einer Stuhllehne machen – verändert hat sich für die Seniorinnen in diesen wenigen Monaten sehr viel. Körperlich wie geistig.

Nein, Wunder kann Yoga nicht vollbringen. Auch nicht im Pflegeheim. Niemand wirft nach der Stunde seinen Rollstuhl in die Ecke. Keine Krankheit verschwindet einfach so. Yoga für Senior*innen, das ist ein Yoga der kleinen Schritte, der kleinen Bewegungen. Aber diese kleinen Schritte sind gerade bei alten Menschen so wirkungsvoll, dass es eigentlich ein Wunder ist, dass Yoga nicht längst in jedem Seniorenheim eingesetzt wird. Yoga vertreibt die Steifheit aus den Gelenken, die Trägheit aus dem Körper und schafft mehr Lebensmut. Oder um es mit Daisy Rasmussen zu sagen: „Es übertrifft alle Erwartungen.“ Als die 91-Jährige vor einem Jahr begann, Yoga zu machen, hatte sie – wie alle Yoginis des Hamburger Seniorenheims – „keine wirkliche Ahnung, was das eigentlich ist und bewirkt“. Eine Freundin hatte ihr berichtet dass Yoga ganz toll sei – und als das Pflegeheim Duvenstedt im Hamburger Norden beschloss, Yoga anzubieten, war sie sofort Feuer und Flamme. Und erlebt längst, wie sehr einfache Übungen und tiefes Atmen ihr Leben verschönern können. „Ich fühle mehr Kraft und Beweglichkeit – und vor allem mehr Entspannung“, sagt Rasmussen, die seit über 30 Jahren unter Parkinson leidet: „Durch die Entspannung erlebt mein Nervensystem mehr Ruhe.“

Auf dem Stuhl statt auf der Matte

Wer Yoga im Seniorenheim unterrichten will, muss offen sein, muss sehr viel Geduld und Ausdauer haben. Es ist unmöglich, eine Asana nach der anderen einzunehmen. Vielmehr muss man als Yogalehrer*in die Menschen ganz bewusst zu den Übungen hinführen, ihnen erklären, was die Asanas, was die einzelnen Übungen bewirken und warum man sie eigentlich macht. Dass sie den ganzen Menschen erfassen, den Körper, den Geist und auch die Seele. Die Senior*innen wollen verstehen, warum sie das tun – es ist meist das erste Mal, dass sie sich so sehr um sich selbst kümmern, das erste Mal, dass sie Welt des Yoga überhaupt näher kennen lernen. Eine Welt, in der es auch um die „spirituelle Verbindung von Körper und Geist“ geht. Und natürlich muss ein*e Yogalehrer*in im Seniorenheim fähig sein, die Asanas an die Beweglichkeit seiner Schüler*innen anzugleichen.

Statt auf der Matte, übt man dann eben auf dem Stuhl – auch im Sitzen kann man wunderbare Übungen machen, die die Muskulatur des Körpers oder die Koordination der Hände (und damit auch das Gehirn) trainieren und eine große Wirkung haben. Und oft geht es schon damit los, einfach aufrecht zu sitzen, die Wirbelsäule zu strecken und tief zu atmen. Gerade alte Menschen im Rollstuhl fallen im Sitzen beinahe nach vorne und harren den ganzen Tag in einer Haltung aus, die ihnen den Brustkorb quetscht, in der sie automatisch extrem flach atmen. Auch in Duvenstedt ist das nicht anders.

Jede meiner Stunden beginnt mit einer ausgiebigen Atemtherapie – und endet mit einer tiefen, zehnminütigen „Ujiah“-Atmung. die Wirkung war schon nach den ersten Malen enorm. Die Sauerstoffzufuhr wird verbessert und vor allem atmen sie anders, tiefer, nehmen mehr Prana, mehr Lebensenergie, auf. Das schenkt mehr Lebensfreude und Vitalität, lässt uns heiterer sein und lebendiger. Auch nach der Stunde. „Ich achte mehr auf mich und vor allem auf meinen Atem“, hat Anneliese Klimt (88), die wegen Multipler Sklerose im Rollstuhl sitzt, festgestellt. Für sie ist das Pranayama ein Segen. Es entspannt sie so sehr, dass sie danach ab und an sogar ein Nickerchen machen kann. Klar, heilen kann auch Yoga ihre Krankheit nicht – aber ihre Durchblutung ist besser, und auch die Verdauung. „Die Ruhe“, sagt Klimt, „die ich während der Stunde empfinde, gleicht mein Nervensystem aus und verbessert die Lebensqualität“.

Den Segen der Atmung hat auch Melanie Haertl erlebt, mit 94 Jahren die Älteste der Gruppe. Sie liebt vor allem die „Ujiah“-Atmung, denn dabei „geht der Atem wie eine Welle durch meinen Körper“ – und das ist eine große Wohltat. Haertl liebt das Meer und visualisiert die Wellen. Andere erleben dabei etwas anderes – aber alle träumen am Ende der Stunde regelrecht vor sich hin. Und so entsteht am Ende der Stunde immer eine starke Energie, eine große Harmonie, Verbundenheit und Ruhe.

Unsere Lebensqualität, das haben Forschungen der Geist-Körper-Medizin immer wieder gezeigt, hängt ganz direkt von unseren Vor- und Einstellungen vom Altern ab. Und genau deshalb hat Yoga solch einen großen Effekt bei alten Leuten. Es ändert die Einstellung; und lässt damit mehr Raum für Freude, für Entspannung und Angenehmes. Die üblichen Altersgebrechen gehen nicht einfach weg, sie werden gemindert – aber vor allem gibt Yoga den Yoginis die Chance, sich wieder mit sich selbst zu verbinden, in ihren Körper hineinzuhorchen und damit mehr Selbstvertrauen zu gewinnen.

Yoga mindert die Altersbeschwerden

Die Harmonie des Atems, der jede Bewegung begleitet, müssen die Yoginis erst lernen. Der Schlüssel in Duvenstedt – und sicherlich in jedem anderen Seniorenheim – ist die langsame, bewusste Ausführung der Asanas, kombiniert mit dem Atem. Und das ist auch die wichtigste Aufgabe, die wir in jeder Stunde angehen.

„Ich habe meinen Körper immer überfordert, weil ich mir alles aufgeladen habe und nie zur Ruhe gekommen bin“, erzählt Lucia Bünger. Die 83-Jährige hat, wie alle anderen Duvenstedter Yoginis, den Krieg miterlebt, war Trümmerfrau – und das steckt ihr natürlich in den Knochen. Zudem hat sie noch mit den Nachwirkungen von Bombensplittern im Hals zu kämpfen, die sie 20 Jahre nach dem Krieg durch einen Blindgänger abbekam. Yoga hilft ihr und all den anderen Damen, positiv zu sein, sich nicht zu sehr von der Last des Lebens beeinflussen zu lassen, die Schultern wieder zu heben und eine aufrechte Haltung einzunehmen. „Ich lerne ohne Angst meinen Hals zu bewegen, meine Wirbelsäule zu stärken und wirklich tiefer zu atmen. Ich freue mich schon die ganze Woche auf die Stunde.“

Mit alten Menschen Yoga zu üben, hat nichts damit zu tun, möglichst viele Stellungen einzunehmen. Es geht wirklich oft um kleine Dinge. Jeder ältere Mensch hat Beschwerden, alle haben steife Gelenke, Verspannungen im Nacken – ganz normale Dinge im Alter. Doch die Duvenstedter Yoginis sind hoch motiviert, von der ersten Stunde an. Auch die 94-jährige Melanie Haertl. Sie fällt durch ihre gerade, aufrechte Haltung auf. „Du bist so jung, wie deine Wirbelsäule beweglich ist“, wusste sie schon zu Beginn. Ohne zu wissen, was dieses Yoga denn nun wirklich ist. Aber wie alle anderen ist sie sehr wissbegierig. Alle wollen etwas Sinnvolles tun, etwas für sich selbst. Und alle haben erstmals in ihrem Leben wirklich Zeit für sich – inmitten des Alltags des Pflegeheimes. Alle finden es um Welten spannender, sich um ihren Atem zu kümmern und um die Mobilisaton der Gelenke als im Fernsehsessel vor sich hin zu dösen.

Viel besser als Sudoku

Oft treffen die Damen dabei auch auf Herausforderungen – aber das lieben sie. Zum Beispiel wenn wir Koordinationsübungen machen, die auch das Gehirn anregen. Beide Arme auszustrecken und die Hände in den Handgelenken gegeneinander kreisen zu lassen; und dann auch noch begleitet vom Atem aufzustehen – das ist nicht einfach. Aber es ist, da sind sich alle einig, viel besser als Kreuzworträtsel oder Sudoku. Es macht einfach Spaß, seinen Körper besser kennenzulernen und mit ihm zu arbeiten.

Vor allem aber lieben die Seniorinnen auch tiefer in die Welt des Yoga einzutauchen. Begeistert beschäftigen sie sich damit tiefer zu atmen – und zu erfahren, was Pranayama eigentlich ist. Dass es sich zusammen setzt aus dem Prana, der Lebensenergie, und Yama, der Wissenschaft von der Kontrolle. Manch eine erinnert sich daran, dass sie als Kind tief und bewusst atmete – und es dann vergessen hat.

Und so lieben sie auch die wechselseitige Nasenatmung Nadi Shodana und wollen alles darüber wissen. Am Anfang fiel sie ein wenig schwer, aufgrund der Koordination der Finger. Aber sogar Daisy Rasmussen, die eigentlich wegen Parkinson ihre Finger nicht kontrollieren kann, gelingt es mittlerweile. Kein Wunder, dass sie darauf stolz ist. „Ganz langsam“, erzählt sie, nehme ich mit den Bereichen meines Körpers, die nicht mehr richtig reagieren, Kontakt auf. Ich kann mit meiner rechten Hand die Nasenatmung nicht mehr durchführen, weil sie zu sehr zittert. Also versuche ich es mit links – und nehme ab und zu die rechte Hand dazu. Das geht manchmal.“

Yoga der kleinen Schritte

Die Wechselatmung soll unsere inneren Energiekanäle von Blockierungen befreien und unsere Energien ausgleichen. Was die Seniorinnen überzeugt, ist die Reinigung der Kanäle und die Zufuhr von Sauerstoff in beide Gehirnhälften. Und auch, dass sie hilft, wenn Erkältungen die Nase verstopfen. Dass Nadi Shodana auch noch ein gutes Instrument ist, um den Blutdruck zu regulieren, kommt natürlich nur positiv dazu.

Wie gesagt – es geht um kleine Dinge. Um einfache Übungen. Wie eine Umkehrhaltung – im Sitzen auf dem Hocker oder im Rollstuhl. Das hat eine erstaunliche Wirkung auf alle älteren Yogi*nis. Sie empfinden das Verharren in dieser Position selbst als beruhigend und gleichzeitig erfrischend. Und damit geben sie all den Mediziner*innen recht, die erkannt haben, dass es sehr positiv für Kreislauf, Lunge und Gehirn ist, wenn wir unseren Körper in umgekehrter Haltung der Schwerkraft aussetzen. Und auch der Dickdarm spricht sofort darauf an. Gerade bei alten Menschen sind Zellen und Blutgefäße des Gehirns oft zusammen gedrückt – wegen der Schwerkraft.

Hier wirkt der Hund natürlich ganz besonders gut. Er schafft zudem eine schöne Dehnung in den Schultern, im Rücken und in den Beinen. Auch wenn die Duvenstedter Yoginis sich dabei auf den Lehnen des Stuhls abstützen. Die eine oder andere, da bin ich sicher, könnte ihn auch auf der Yogamatte schaffen. Aber noch fehlt das letzte Fünkchen Mut – und das kommt auch noch. Oder eben auch nicht. Denn Yoga ist kein Leistungssport; es geht darum, sich mit sich und seinem Körper wohl zu fühlen, Harmonie zu empfinden und Ruhe. Auch und gerade im Seniorenheim.


Christel Vollmer ist Journalistin, Diplomsportwissenschaftlerin und wurde von Bryan Kest zur Yogalehrerin ausgebildet. Sie lebt in Hamburg und hat sich auf Yoga im Alter spezialisiert.

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