“Männer dürfen mehr in ihre Weichheit gehen” – Interview mit Timo Hildebrand

884 Minuten ohne Gegentor – diesen Rekord aus der Bundesliga-Saison 2003/04 hält Ex-Nationaltorwart und VfB-Stuttgart-Legende Timo Hildebrand bis heute. In die Klischeekiste vom knallharten Kicker passt er trotzdem nicht: Mit uns sprach er über Yoga, Glück und vegane Ernährung.

Interview: Carmen Schnitzer / Titelbild: Sven Cichowicz

Dass die Fußball-Nationalmannschaft schon länger auf Yoga setzt, klingt für viele immer noch überraschend. Wie passt das für dich als Ex-Profi zusammen?

Sehr gut! Als Sportler ist es nur professio­nell, sich auch außerhalb des Trainings mit seinem Körper auseinandersetzen. Dazu gehört zum Beispiel eine gesunde Ernährung, und auch Yoga kann natür­lich sehr hilfreich sein. Als Ausgleich zum intensiven Training mit der Mannschaft und auch für die Regeneration. Gerade in jungen Jahren, wenn der Körper noch widerstandsfähiger ist, macht man sich oft noch nicht so viele Gedanken – aber spä­testens wenn die ersten Schmerzen kom­men, merkt man, wie wichtig es ist, sich gut um seinen Körper zu kümmern.

Oh ja, das merke ich jetzt mit dem Älterwerden auch …

Eben. In den letzten beiden Jahren habe ich wegen meines Triathlon­ und Kraft­sport­-Trainings etwas weniger Yoga ge­übt. Kürzlich aber hat Moritz Ulrich hier in Stuttgart einen Workshop gegeben, bei dem ich gemerkt habe, dass mein Körper wieder mehr Mobilität brauchen kann, also werde ich mich wieder ver­stärkt dem Yoga widmen. Das ist näm­lich wirklich mein großes Ziel: mobil zu bleiben. Ich bin zweimal an der Hüfte ar­throskopiert und habe keine Lust, meine Lebensqualität zu verlieren. Leider sehe ich oft ältere Menschen, die sich immer weniger bewegen können. Dem möchte ich bestmöglich vorbeugen.

Geht mir ähnlich. Hast du selbst bereits in deiner aktiven Fußballer-Zeit mit Yoga begonnen?

Ein bisschen, aber da habe ich mehr mit Gyrotonic­-Geräten trainiert. Das ist eine ganzheitliche Bewegungsmethode, die der ungarische Tänzer Julius Horvath entwickelt hat. So richtig an Yoga he­rangetastet habe ich mich erst später, zum Beispiel während einer Ayurveda­ Kur auf Bali. Yoga hat mir nach mei­ner Fußball­-Karriere geholfen, meinen Körper geschmeidiger zu machen und wieder in Balance zu kommen.

Auch in die seelische Balance?

Ja, natürlich, das gehört ja alles zusam­men – Körper, Geist und Seele.

Bist du denn nach deiner Karriere in ein Loch gefallen? Ich stelle es mir schwierig vor, wenn ein so großer Teil des Lebens wegbricht. Gerade noch haben einem Zigtausende im Stadion zugejubelt, plötzlich ist das vorbei …

Interview: Timo Hildebrand Fußball
Foto: Photocreo via Canva

Na ja, es ist natürlich eine Herausforde­rung. Wie jeder andere Arbeitnehmer hat man ja seinen eingespielten Rhythmus, seine Abläufe, seine Struktur – das muss dann alles erst mal neu sortiert werden. Okay, jetzt beginnt ein neuer Lebens­abschnitt, wie gestalte ich den? Viele Ex-Profis bleiben ja dem Fußball in ir­gendeiner Weise treu, aber ich habe eher danach gesucht, was mich sonst noch inte­ressieren könnte. Und ich bin glücklich, so viele verschiedene Dinge gefunden zu ha­ben, mit so vielen unterschiedlichen Men­schen zusammenarbeiten zu können, neue Inspirationen zu bekommen … Es macht Spaß, Dinge selbst gestalten zu können, sei es das Festival YEZ Yoga hier in Stutt­gart, unsere Hilfsorganisation STELP e.V. oder das vegane Restaurant vhy!, das ich vor drei Jahren mitgegründet habe.

Und ein Kinderbuch hast du auch geschrieben … Aber gleich mal zu deinem Lokal. Wie kam es denn dazu?

Eigentlich ganz pragmatisch, genau wie beim Festival: Stuttgart hatte kein Yogafestival, also habe ich bei einem Studio angefragt, ob wir nicht eins auf die Beine stellen wollen. Gesagt, getan, es kam auch gut an. Und es gab in der Innenstadt kein veganes Res­taurant in entsprechender Größe, also habe ich eins gegründet. (lacht) Natür­lich habe ich mir Gastro-Profis mit ins Boot geholt. Die Gründungsphase fiel zwar genau in die Corona­-Zeit, aber wir haben es trotzdem durchgezogen.

Pragmatisch – und optimistisch. Bist du grundsätzlich ein Optimist?

Immer mehr, ja. Ich mag es, das Leben nicht immer ganz so ernst zu nehmen. Hürden sind dazu da, überwunden zu werden, das war schon beim Fußball so. Einfach machen! Und wenn man hinfällt, dann aufstehen und weitermachen.

Und sei es mit einem veganen Gastrobetrieb mitten in der Pandemie, verstehe. Bist du denn zur pflanzlichen Ernährung in der gleichen Zeit wie zum Yoga gekommen?

Das entwickelte sich tatsächlich relativ parallel, ja. Es ging los damit, dass ich in ein veganes Unternehmen investiert und mich dadurch immer mehr mit dem The­ma auseinandergesetzt habe. Da erschien es mir einfach logisch, immer mehr tie­rische Produkte aus meinem Leben zu verbannen. Mittlerweile sollte ja jeder kapiert haben, wie sinnvoll pflanzliche Ernährung für die Welt ist. Wobei ich ganz klar die Philosophie habe, dass nie­mand perfekt sein muss. Ich esse auch hin und wieder mal noch ein Stück Käse oder Fisch im Urlaub. Sehr viele Men­schen, die zu 80 bis 90 Prozent vegan le­ben, helfen letztlich mehr als eine kleine Gruppe, die es komplett durchzieht.

Ein fast vegan lebender Fußballer, der Yoga übt – damit brichst du auch mit klassischen Männlichkeitsstereotypen … 

Timo Hildebrand: Yoga
Foto: Yan Krukau via Canva

Ja, und da sehe ich mich durchaus ein bisschen als Role Model. Ich wür­de Männer gerne inspirieren, mehr in ihre Weichheit zu gehen und sich neuen Themen zu öffnen. In den letz­ten zehn Jahren hat sich ja schon viel getan, aber es gibt durchaus immer noch dieses Schubladendenken von männlichen Alphatieren, die unbedingt Fleisch brauchen, aber zum Beispiel kei­ne tiefgründigen Gespräche … Aktuell kommen in unser Restaurant auch zu 70 bis 80 Prozent Frauen, aber die brin­gen vielleicht irgendwann ihre Männer mit, ihre Verwandten, ihre Großeltern … Denen schmeckt es im Optimalfall einfach, das Vegane soll gar nicht im Zentrum stehen.

Ich denke auch: Der Weg geht in diesem Fall über den Genussfaktor.

Das ist jedenfalls meine Erfahrung. In letzter Zeit weiten wir das Ganze auch ein bisschen aus, machen vermehrt Ca­tering oder arbeiten mit Betriebskan­tinen zusammen. Mit Mercedes haben wir zum Beispiel in einer Aktionswoche im April mal jeden Tag ein neues vega­nes Gericht konzipiert, das kam super an – und hat natürlich noch einen viel größeren Impact als das Restaurant, in das vielleicht 500 Leute pro Wo­che kommen. Na ja, und zurück zum Yoga – das tut nun mal einfach jedem gut, völlig egal, ob Mann oder Frau.

Unbedingt! Ich denke immer wieder, dass es sinnvoll wäre, Yoga in den Schulen einzuführen.

Das ist tatsächlich eine super Idee, finde ich auch. Ich glaube, wir sollten grundsätzlich mal so einiges überden­ken in unserer Gesellschaft. Durch die Digitalisierung wandelt sich vieles extrem schnell, da wäre es an der Zeit, neue Impulse zu setzen. Schule hat ei­nen früher nicht aufs Leben vorberei­tet und tut es heute leider immer noch nicht. Yoga könnte man einführen, auch Themen wie Finanzen und Versicherun­gen … oder auch ein Fach wie Glück.

Interview: Timo Hildebrand
Foto: Sven Cichowicz

An manchen Schulen gibt es das ja sogar schon …

Ja, aber warum sollte man das zum Bei­spiel nicht flächendeckend einführen, von der Regierung vorgesehen?

Da bin ich gerne dafür! Ich habe kürzlich einen Spielfilm aus Bhutan gesehen, wo Glück erklärtes Regierungsziel ist, sehr interessant. Im Prinzip wären wir da beim Thema: Wie politisch ist Yoga? Hast du dazu eine Meinung?

Yoga vertritt ja die Philosophie der Liebe, des Miteinanders, der Gemeinsamkeit und dem Streben nach einer besseren Welt. Das ist doch im Grunde schon poli­tisch genug, oder nicht? Wenn wir uns alle mehr der Liebe hingeben würden, dann gäbe es auch weniger Kriege etc.

Wohl wahr. Ich wundere mich oft, warum wir uns damit so schwer tun. Im Grunde sehnt sich doch jeder und jede Einzelne von uns nach Liebe und Akzeptanz. Aber gerade in Gruppen werden wir oft schwierig …

Oft sind es ja auch die Führer eines jewei­ligen Landes, die den Hass schüren. Und auf Krieg folgt immer noch mehr Hass … Man kann sich schon Sorgen machen, wenn man sich in der Welt umguckt, aber ich habe irgendwie immer noch die Hoffnung, dass, um es jetzt mal sehr vereinfacht auszudrücken, am Ende die Guten gewinnen.


Jean-Marc Turmes Photography

Als Kind kickte Carmen Schnitzer selbst mal in einer Mannschaft – mit sehr mäßigem Erfolg. Eineinhalb Jahrzehnte später stand sie beim Spiel mit anderen Schüler*innen einer ecuadorianischen Sprachschule im Tor und merkte: Das klappt viel besser! Zum Profi hat’s natürlich dennoch nicht gereicht. Erfahre mehr über die Autorin und besuche ihre Facebook-Seite.

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