Yogasutra – der Leitfaden für ein glückliches Dasein

Wenige antike Texte werden im modernen Yoga so oft zitiert und interpretiert wie diese 2500 Jahre alten Lehrsätze. Abseits gelehrsamer Kommentare zeigt unsere Autorin Sybille Schlegel im zweiten Teil unserer Reihe auf, wie das Yogasutra unsere Praxis – und unser Leben – damals wie heute bereichern kann.

Text: Sybille Schlegel / Fotos: Botamochi/Getty Images via Canva

“Yoga ist der Zustand, in dem man nichts vermisst”. Diese Definition von Brahmananda Sarasvati ist eine meiner liebsten – nicht nur für Yoga, sondern auch für Glück: ruhig, erfüllt, dankbar. Nichts, das einen irgendwohin treibt oder die Gedanken umtreibt. Ein Moment des Seins. Ohne nach dem Sinn und Zweck dafür zu suchen. Das Yogasutra des Patanjali ist ein Text, der uns dabei unterstützt, diesen Zustand zu finden und zu genießen.

Die Yogasutra auf einen Blick

* Verfasser: unbekannt, Patanjali ist ziemlich sicher eine mythologische Figur

* Entstehung: um 400 nach Christus

* Umfang: 195 Sutras (variiert je nach
Zählweise und Tradition)

Kernaussagen:
* Yoga ist ein Zustand der Geistesstille

* erfahrbar durch die achtgliedrige Yogapraxis

* stetes Üben verändert die Gehirnstruktur, bis die Geistesstille einfach wird

* Freiheit ist die Freiheit von den individuellen Geschichten und Sichtweisen,
die Leid verursachen

Schein, Leid, Erkenntnis

1786, nur wenige Jahre, bevor die französische Königin Marie-Antoinette ihren Hals unter die Guillotine legen musste, wurde sie Mittelpunkt eines Politthrillers: Es ging um ein Collier aus einzigartig reinen und großen Diamanten. Jeder einzelne war für sich schon ein Vermögen wert – und die gesamte Halskette sogar für den König zu teuer. Die sogenannte “Halsbandaffäre” erzählt von politischem Kalkül, Prunksucht, Habgier, Diebstahl und Betrug, denn der unfassbare Wert der Glitzersteine holte in allen Beteiligten ihre dunkelsten Seiten hervor. Und das Ende der Geschichte war: jede Menge Blut.

Hat die Autorin vergessen, worüber sie schreiben wollte? Natürlich nicht. Die Halsbandaffäre gibt nur ein dankbares Beispiel dafür, wie die Welt der Sinne, der Wünsche, Sehnsüchte und des Wollens – wie der Fokus auf das scheinbar Wertvolle – in einen dynamischen Prozess des Verderbens führen kann.

Aber so funktioniert der Mensch normalerweise: Die Sinne geben einen Eindruck, der Geist knüpft daran eine Bewertung: Wollen oder Ablehnen (Raga oder Dvesha), und dementsprechend wird gehandelt. “Wegen Gier, Hass und dem Missverstehen darüber, was wirklich (wichtig) ist”, sagt auch der Buddha, “ist das Leben leidvoll.” Aber das muss nicht zwangsläufig so bleiben:

“Zukünftiges Leid soll vermieden werden!“, fordert Patanjali. Und er erklärt auch, wie: Erstens muss man sich der Zusammenhänge bewusst werden, die zu Leid führen, und zweitens muss man die eigene Handlung und Geisteshaltung so verändern, dass Leid als Folge ausbleibt. Dafür, sagt Patanjali, muss man drittens: üben, üben, üben.

Patanjali – wer ist das und wenn ja, wie viele?

Statue des Hindu Gottes Patanjali
Patanjali-Statue. Foto: © JPL Designs/Getty Images via Canva

Bevor wir tiefer einsteigen, noch ein Blick auf den Verfasser des Yogasutra: Patanjali. In der antiken indischen Welt stößt man dreifach auf diesen Namen: Er wird genannt als Autor eines Werks über Sanskrit-Grammatik, eines Werks über Ayurveda und als Verfasser des Yogasutra.

Geprägt durch meine historische Vorbildung habe ich viele Jahre damit vertan, die falschen Fragen zu stellen: War Patanjali sein richtiger Name – oder vielleicht sogar ihr richtiger Name? Waren das drei Patanjalis oder einer für alles? Gibt es überhaupt den einen Verfasser oder ist der Text nicht eher eine Textesammlung? Es hat viel Zeit gekostet, keine Antworten darauf zu finden. Denn keiner weiß es mit Sicherheit.

Die Symbolik Patanjalis

Thesen gibt es zuhauf, aber keine hilft bei der Vermeidung von zukünftigem Leid. Meine Lehrerin Manorama dekodiert stattdessen lieber die Symbolik dieser mythologischen Figur “Patanjali”: Sie wird dargestellt als ein Wesen, das trotz eines menschlichen (Ober-)Körpers auf ewigem Sein (be)ruht, bildlich transportiert durch einen Schlangenkörper bauchabwärts.

Etliche Patanjali-Statuen halten außerdem das Rad der Zeit, die Muschel der Klang-Energie und das Schwert der Unterscheidungskraft in den Händen – anstatt diesen Kräften wie Otto Normalmensch zu unterliegen. In seinem Namen steckt das, was in die bittend geöffneten Hände (anjali) fällt (pat). Das bezieht sich zum einen auf den Mythos seiner göttlichen Geburt, zum anderen kann es auch eine Art Werbeversprechen sein: Wenn du Yoga verwirklichen willst, folge diesem (Leit-) Faden und es wird dir in die Hände fallen.

Lies auch: Die beliebtesten Yoga Symbole und ihre Bedeutung

Nehmen wir den Faden auf

Sutra bedeutet wörtlich übersetzt Faden. Handelsüblich ist ein Faden etwas, das Stoff miteinander verbinden, Löcher stopfen, Knoten binden, Weisheiten auf Sofakissen sticken und Perlen auffädeln kann. Ein Faden hat also verbindende, vereinende Eigenschaften. Ein roter Faden führt unseren Fokus durch eine Geschichte. Oder wie bei Ariadnes Faden durch ein mythologisches Labyrinth. Das ist das Bild, das ich in unseren Ausbildungen gerne für die Wirkkraft des Yogasutra verwende: Der Sutra-Faden bringt uns ans Ziel.

Man darf stehen bleiben oder sehr langsam gehen. Man sollte ihn aber weder loslassen noch woanders lang gehen. Was ist das Ziel unseres Yoga-Fadens? Glück! Und damit meine ich: innere Freiheit. Dieses Bild vom leitenden Faden ist meines Erachtens wesentlich hilfreicher, als zu wissen, dass Sutra eine altindische Textgattung ist: Sutras sind Leitfäden.

Sie sind kurz und knapp und derartig auf den Punkt formuliert, dass man sie gut auswendig lernen kann. Auch das Yogasutra verzichtet auf Schnörkel, kulturelle Symbolik, Personen, Dialoge oder ähnliches. Es sagt, was zu sagen ist. Man muss es reflektieren und interpretieren, aber einmal kapiert führt uns der Faden immer weiter durch die Lehre, verbindet Fragen mit Antworten, bis wir alles verstehen.

Yoga im Fadenkreuz

Yoga ist in diesem Text ganz einfach beschrieben: Es ist der Zustand, wenn die
Gedanken still sind, und es ist die Praxis, die dorthin führt. Eine typische “Leichter gesagt als getan”-Situation: Selbst das Denken des Wortes “nichts”, ist ja immer noch ein Gedanke. Patanjali gibt sein Bestes, um es uns in vier Kapiteln zu erklären:

1. What about? Samadhi Pada

Im Zustand der Gedankenstille bleibt nur noch der “Seher” übrig, sagt Patanjali. Da mir das ein bisschen zu sehr nach Asterix klingt, übersetze ich es lieber mit dem oder der “Sehenden”. Das ist letztlich das pure Ich-Empfinden: “Ich bin” – ohne jedes wer oder was. Normalerweise, sagt Patanjali weiter, identifizieren wir uns aber mit unseren Geschichten, Namen, Rollen, Vorlieben und Verletztheiten. All das, was der Geist für uns sammelt, in Erinnerungen sortiert und in Erwartungen oder Plänen projiziert, überdeckt das pure Seinsgefühl.

Es gilt also zuerst, den Zustand der inneren Stille kennenzulernen: Dazu gehört die Fähigkeit, sich zu fokussieren. Denn die daraus entstehende Klarheit ist grundlegend, um die Bewegungen des Geistes zu bemerken. Und damit die Abwesenheit der Stille …

Das, was unsere Konzentrationsfähigkeit mindert, sollte daher bewusst verhindert oder abgelegt, alles, was sie fördert, gepflegt und integriert werden. Das Stillwerden wird als Prozess beschrieben, eine natürliche Veränderung durch stetes Üben.

Je stiller die Gedanken, desto deutlich hörbar wird die intuitive Weisheit. Sie kann unsere inneren Treiber nach und nach überschreiben, sodass das yogische Wachstum einfacher wird. Bis wir das Verbundensein mehr sehen als das scheinbare Getrenntsein. Bis das Individuelle als Teil des Universalen erlebt wird. Deep Sheep. Was dafür zu tun ist, erklärt das zweite Kapitel:

2. What to do? Sadhana Pada

Sich durch den Atem wieder mit sich selbst verbinden
Innere Ruhe finden. Foto: © Linderina/Getty Images via Canva

Bewusstseinserweiterung geschieht durch das Verfeinern und Ausweiten des eigenen Bewusstseins. Also die Antwort “Ja” auf die Frage “Merkste selbst, wa’?”. Übungsfelder sind der Umgang mit anderen (Yama), das Etablieren hilfreicher Eigenschaften (Niyama), feines Körperbewusstsein (Asana), Atemwahrnehmung (Pranayama) und das Entwickeln eines Bewusstseins über das Wirken der Sinne (Pratyahara).

Das sind die ersten fünf Freunde des achtgliedrigen Yoga von Patanjali. Alle Übungsfelder führen zum Zustand des Yoga, wie Kuchenstücke, die in die Mitte zeigen, sagt meine Lehrerin. Es sind keine Stufen, die man abarbeiten und aufsteigen kann. Jedes Üben in allen Feldern zahlt auf das gleiche Konto ein. Damit wird Yogapraxis 24/7 machbar. Und das ist nötig, weil wir das Vergängliche für ewig halten (oder gerne verewigen würden). Woraus Angst, Freude und Leid entstehen sowie das individuelle Ich-Empfinden.

3. What to expect? Vibhuti Pada

Die noch fehlenden drei sind noch feiner und finden im Inneren statt: Fokus (Dharana), Fokus halten (Dhyana) und Samadhi, das Auflösen von getrennter Ich-Wahrnehmung. In Samadhi ist man eingetunt auf die Frequenz der Weisheit und kann alle möglichen faszinierenden Effekte erleben wie zum Beispiel das Verstehen aller Sprachen, das Einfühlen in andere Körper, oder das Verstehen der Tiere.

Man sieht hier mehr das Wesen der Dinge und ihre Zusammenhänge und weniger die partiellen Details. Der Seher ist also auch ein Versteher. Aber Vorsicht, diese Fähigkeiten sind nicht, worum es geht …

4. What for? Kaivalya Pada

Wie fühlt es sich an, wenn man sich auskennt? Etwas versteht? Weiß, wo es den besten veganen Döner der Stadt gibt? Na klar: leicht, sicher und frei. Wie fühlt es sich an, wenn man nichts vermisst? Ruhig und frei. Wie fühlt es sich an ohne Angst? Absolut frei. Freiheit ist, worum es geht, sagt Patanjali. Uneingeschränkte Freiheit. Ungebunden, unabhängig.

So frei, dass es uns am Anfang unseres Yogaweges viel zu viel wäre. Denn dazu gehört auch die Freiheit vom eigenen Körper, ein Ich-Empfinden, das über den Tod des eigenen Körpers hinaus lebendig sein kann.

Wem das eher unheimlich ist, der kann aber beruhigt weiter auf die Matte gehen: Denn Nebenwirkungen wie Stressreduktion, ein gedehnter und gestärkter Körper, besserer Schlaf und ein bisschen mehr Gelassenheit und Empathie sind auch erstrebenswert. Und sie machen unser aller Miteinander definitiv zu einem glücklicheren Dasein.

Im ersten Teil unserer Reihe “Die wichtigsten Texte der Yogaphilosophie” hat Sybille Schlegel die Bhagavad Gita unter die Lupe genommen:


Sybille Schlegel ist unsere Lieblingsautorin, wenn es um alltagstaugliche Texte zur Yogaphilosophie geht: So locker und leicht, so tief und wahr, einfach wunderbar! Dieser Text stammt aus unserer Reihe im YOGAWORLD JOURNAL “Die wichtigsten Texte der Yogaphilosophie”. Mehr über Sybille erfährst du auf ihrem Instagram Account. Live kannst du sie in Mainz erleben, im Hatha Vinyasa Parampa Studio, das sie gemeinsam mit Andreas Ruhula leitet.


Du willst noch tiefer in die Lehren der Yogasutra eintauchen? Hier geht es zu einer passenden Podcast-Folge mit dem Yogaphilosophie-Experten Dr. Eckard Wolz-Gottwald:

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