Das Ramayana – Wille und Stärke im Dienste der Liebe

Die Geschichte von Rama, Sita und Hanuman hast du vielleicht schon mal gehört oder selbst in einem Kirtan besungen. Sybille Schlegel hat das altindische Epos noch einmal in Ruhe gelesen und sich verzaubern lassen. Sie lädt dich ein in eine gar nicht mal so fremde Welt, deren Weisheit noch immer zu uns spricht.

Text: Sybille Schlegel / Titelbild: Cascoly via Canva

Das Ramayana ist, neben dem Mahabharata mitsamt der Bhagavad Gita, das zweite bekannte Epos des alten Indien. Wie so oft kann die Forschung nur einen groben Zeitraum nennen, in dem die Geschichte entstanden sein soll: zwischen dem 4. Jahrhundert vor und dem 2. Jahrhundert nach Christus. Der legendäre Verfasser Valmiki besingt darin die Geschichte dessen, der “alle Vorzüge in sich vereint”: der sagenhafte König Rama. Damit füllt er sieben Bücher mit gut 24.000 Versen – und das in der stark gekürzten Ausgabe von Diederichs Gelber Reihe.

Da die Geschichte jahrhundertelang nur mündlich weitergegeben wurde, existieren viele verschiedene Textfassungen, darunter eine “nördliche” und eine “südliche”. Falls du also einen etwas anderen Plot kennst als den folgenden: Keine Sorge, das ist Teil des Spiels. Denn anstatt sich über die tatsächliche, ursprüngliche oder richtige Fassung dieser spannenden Geschichte zu streiten, ist es viel zielführender, ihre Symbolik verstehen zu lernen. Und auch hier gibt es verschiedene Ebenen – die historische, die kulturelle und die für diesen Artikel interessante: die yogische. Dazu später mehr.

Doch für alle, die dieses Drama um Liebe und List, Gut und Böse, noch nicht kennen oder ein Update brauchen, beginnen wir zunächst mit einem Abriss dessen, was man auf den ersten Blick liest:

Eine märchenhafte Liebesgeschichte

Szene aus dem Ramayana
Szene aus dem Ramayana. Foto: Cascoly via Canva

Wenn man über das Ramayana schreibt, möchte man mit “Es war einmal” beginnen – und warum eigentlich nicht? Es war einmal … ein weiser und guter König namens Dasharatha. Er regierte voller Güte und Achtung vor dem Dharma die Stadt Ayodhya. Dort herrschten Frieden und Harmonie, Recht und Ordnung hatten ihr Zuhause, Wohlstand und Schönheit gingen ein, doch niemals aus. Alle Einwohner waren wohlhabend, glücklich und tugendhaft, niemand je traurig oder in Sorge.

Kurzum: ein idealer Ort, an dem alles in Einklang gedieh. Nur eines fehlte dem guten König zu seinem Glück: ein Sohn. Ohne einen königlichen Erben wäre aber nicht nur das Fortkommen seines Volkes, sondern diese gesamte kosmische Harmonie mitsamt der Natur in Gefahr. Also plante Dasharatha ein aufwendiges Opfer, um die Götter gnädig zu stimmen und ihm einen Sohn zu schenken. Zu jener Zeit litten die Götter unter der unheilvollen, zerstörerischen Macht eines Dämonen namens Ravana. Dieser hatte mittels einer intensiven Tapas-Praxis so viel Energie angesammelt, dass er bei Brahma, dem Schöpfergott, einen Wunsch frei hatte.

Gut gegen Böse

Wie alle Dämonen in solch einer Lage bat Ravana um Unsterblichkeit. Weil dieser Wunsch aber niemals einem verkörperten Wesen gewährt werden durfte, versprach Brahma ihm stattdessen, dass er weder von einem Deva (Gott), noch von einem Gandharva (Geistwesen) oder Yaksha (Naturgeist, niederer Gott) getötet werden könne. Weil aber nun all die Himmlischen genug hatten von diesem grässlichen Dämon, berieten sie sich, wie sie ihn loswerden könnten.

Zu ihrem Glück hatte der alte Brahma vergessen, in seinem Spruch auch die Menschen zu erwähnen. Er schenkte ihnen schlicht nicht viel Beachtung. Die Götter und Geister entschieden also, dass Vishnu, der 007-Agent des Götterhimmels, als Mensch geboren werden sollte, um dem Dämon den Garaus zu machen.

Ramayana: Dämonen
Foto: Luca Ladi Bucciolini/Getty Images via Canva

Damit er der Macht des Bösen nicht alleine entgegentreten müsste, wurde er aber nicht nur als einer, sondern gleich als vier Söhne des tugendhaften Königs Dasharatha geboren: Der erste von ihnen war Rama, der Sohn von Königin Kaushalya. Die beiden anderen Königinnen bekamen zusammen drei weitere Söhne. Zugleich verkörperten sich andere Götter als Sprösslinge von Affen, Nymphen und Asketinnen. So stellten sie gemeinsam eine Armee aus Millionen göttlicher Halbwesen mit besonderen Fähigkeiten auf.

Der Gott des Windes etwa, Pavana, zeugte Hanuman: einen Affen, der zerstörerisch und stark wie ein Sturm, schnell und flüchtig wie ein Gedanke sein konnte. Eines Tages hörten Rama und seine Brüder, dass im Königreich Videha ein Held gesucht wurde, um die Königstochter Sita zu heiraten.

Es hieß, dass derjenige die wunderschöne Prinzessin bekäme, der einen besonderen Bogen spannen könne. Rama spannte ihn mit solcher Kraft, dass er zersprang und der laute Knall den ganzen Hof in Ohnmacht fallen ließ. Nachdem sie wieder erwacht waren, heirateten Rama und Sita – und seine drei Brüder bekamen ihre drei Schwestern.

Der Kampf um die Liebe

Ramayana: Gott Rama
Hindugott Rama. Foto: Redees/Getty Images via Canva

Alles schien in bester Ordnung. Doch durch das Ränkespiel einer bösen Magd erreichte Dasharathas zweite Ehefrau Kaikeyi, dass nicht Rama, sondern ihr Sohn Bharata dem König nachfolgen solle. Und so musste Rama mit Sita und seinem Lieblingsbruder Lakshman für 14 Jahre in die Verbannung. König, Hofstaat und die ganze Stadt Ayodhya gerieten nach Ramas Abschied in Trauer und Verfall. Die Verbannten zogen durch Gebiete, in denen die Weisen und Asket*innen unter verschiedenen Dämonen und Dämoninnen litten.

Eine war die Schwester des Oberbösen Ravana, eine hässliche Kreatur namens Surpanaka (wörtlich: die Vielgestaltige). Sie erfüllte die Herzen der Menschen mit Grauen und konnte mit purer Gedankenkraft Dinge vernichten. Als sie den reinen, strahlenden Rama sah, verliebte sie sich in ihn. Er lehnte ihre Avancen natürlich ab und so kam es zum Kampf mit ihr und ihren Dämonenbrüdern. Rama und Lakshman töteten alle Brüder bis auf Ravana.

Von Rachegelüsten getrieben, stiftete Surpanaka ihn an, Rama zu töten und Sita für sich zu gewinnen. So begab sich Ravana mit seinem Freund Marica – der sich in eine ungewöhnlich bunte und schillernde Gazelle verwandelt hatte – zu den dreien im Wald. Sita wünschte sich das Fell dieses einzigartigen Tiers, woraufhin die Männer ihm nachjagten. Ravana aber ging als Bettelmönch verkleidet zu Sita, verliebte sich in ihre Unschuld, gab sich ihr zu erkennen und gestand ihr seine Liebe. Sie lehnte empört ab. Da ergriff er sie und flog mit ihr davon.

Rama und sein Bruder erfuhren von dem Hinterhalt und eilten zurück. Ein Geier, der die Entführung vergeblich zu verhindern versucht hatte, erzählte ihnen, was mit Sita geschehen war. Die beiden machten sich auf die Suche und widerstanden unterwegs zwei sündhaften Dämoninnen, von denen eine der Wollust und die andere der Völlerei erlegen war. Im Königreich der Affen trafen sie schließlich auf den Affen-Halbgott Hanuman, der gesehen hatte, dass Ravana der Entführer war. Da er nicht wusste, wo dieser wohnte, schickte er seine riesige Affenarmee in alle vier Himmelsrichtungen aus.

Der Kampf für die Liebe

Hanuman trug einen Ring Ramas bei sich, damit Sita ihn als dessen Helfer erkennen könnte. Die Suche der Affen war zunächst erfolglos, bis ihnen ein Geier mit versengten Flügeln erzählte, dass sie zur Insel Lanka müssten. Am Meer angekommen, baten die Affen Hanuman, mit der Kraft des Windes hinüber zu springen.

Zweimal musste Hanuman während seines Sprunges der List einer Dämonin entkommen, indem er sich zuerst sehr groß und dann winzig klein machte. Doch schließlich erreichte er Lanka und fand Sita. Weil diese sich aber von niemand anderem als ihrem Rama retten lassen wollte, flog Hanuman zurück und mittels einer großen Brücke zogen Rama und das Affenheer schließlich gen Lanka.

Im Kampf gegen die Dämonen sah es zunächst schlecht aus für die tapferen Helden und ihre Helfer: Rama und Laksmana fielen im Kampf, wurden aber von Garuda, dem Reittier Vishnus, wiederbelebt. Lange tobte die Schlacht, das Glück lag mal bei den Helden, mal bei den Dämonen, bis es Rama endlich gelang, Ravana zu töten.

Wer jetzt ein rasches Happy End erwartet, wird jedoch enttäuscht. Rama verstieß die gerettete Sita, da er überzeugt war, sie hätte sich dem Dämon hingegeben. Sita unterzog sich daraufhin einer Feuerprobe: Im Wissen um ihre eigene Unschuld stieg sie in die Flammen. Die Götter flehten nun Rama an, sich auf seine wahre Identität als Vishnu zu besinnen. Als das geschah und sich Rama als Schöpfer und Schöpfung offenbarte, gab der Feuergott ihm Sita zurück.

Auch die Gefallenen der Schlacht erwachten wie aus einem Schlaf. Zurück in Ayodhya wurde Rama König, die Stadt fand zu Wohlstand und Frieden zurück … und alle lebten glücklich bis an ihr Lebensende. Also doch noch ein Happy End – zum Glück!

Die Yogalehre im Mythos

Ein spannendes, knallbuntes Märchen voller faszinierender Gestalten und dramatischer Ereignisse? Natürlich – aber nicht nur. Die Fülle an Symbolen und Motiven, mit denen das Ramayana aufwartet, bietet auch jede Menge Stoff für Interpretationen. Vor dem Hintergrund der Yogaphilosophie kann man sie so lesen: Die Stadt Ayodhya symbolisiert den natürlichen Urzustand der Welt. In ihm herrschen Harmonie, Einheit und Frieden. Alles existiert in Einklang miteinander und füreinander, im Außen ebenso wie im Inneren eines jeden.

Doch diese Harmonie ist gefährdet: In dem Moment, wo sich mit dem Erscheinen des Dämons Ravana die Vorstellung ausbreitet, einer könne größer oder mächtiger sein als alle anderen, zerbricht das Idyll. Dann tritt der Geist aus der ursprünglichen Harmonie der Kräfte hervor und schwingt sich zum Herrscher auf: Maßstäbe werden gesetzt und eine Norm definiert, an der sich alles messen lassen muss; Gewohnheiten engen den freien Fluss der Energie ein; Angst und Zweifel werden immer mächtiger. Anstatt in Klarheit urteilt man geleitet von Trugbildern. Und diese Verwirrung verwirrt auch in einem dämonischen Kreislauf selbst immer weiter.

Doch in jeder und jedem von uns lebt auch die Liebe, eine Kraft, die diesen “Dämonen” des Geistes entgegentreten kann, die die eigentliche harmonische Einheit kennt und spürbar macht. Sie wird symbolisiert durch Sita und durch Rama. Dessen Name bedeutet wörtlich: “das, was beruhigt”. Liebe macht, dass sich alle Energie aufs Wohltun ausrichtet. Nur wenn sie in die Fänge der geistigen Verwirrung gerät, verliert sie ihre Balance.

Klarheit als Weg zur Harmonie

Ramayana-Harmonie
Foto: Michal Collection via Canva

In dieser Geschichte ist die Energie der Liebe ganz besonders rein, denn Sita bleibt Rama treu trotz Angst, List und Verführung. Das ist bei uns weniger mystischen Wesen nicht immer so: Schnell lassen wir uns in den Sog von Bewertungen, Hierarchien, Vorlieben und Abneigungen hineinziehen. Wir bemerken es meist noch nicht einmal – oder halten es für normal.

Der Dämonenkönig Ravana, der diesen verwirrenden Sog symbolisiert, ist aber nur scheinbar unsterblich. Patanjali beschreibt das im Yogasutra (dem ersten Teil dieser Reihe über die Quellentexte) als Avidya: “Wenn man das Unreine für das Reine, das Vergängliche für das Unvergängliche hält” (YS 2,5).

Bei diesem Verwirrspiel hat der Dämon viele Helfer*innen. Zum Beispiel die Wollust oder die Völlerei: Sie geben den Sinnen mehr Macht als dem Herzen. Und dann ist da natürlich auch die Dämonenschwester Surpanaka, die Vielgestaltige, die Furcht und Unsicherheit sät, was die Fähigkeit zum Klarsehen weiter schwächt. All das muss vom Helden der Geschichte bekämpft und getötet werden, damit es seinen gewohnten Einfluss verliert und der Urzustand von Harmonie wieder erkennbar wird.

Die Dämonen des Geistes bezwingen

Einen ganz ähnlichen Prozess der Klärung beschreibt auch Patanjali im Yogasutra, denn die Frage ist ja, wie man dem Einfluss dieser “Dämonen” praktisch begegnen kann? Im Ramayana lesen wir von Tugend, Ehrgefühl, Freundschaft, Liebe, Treue und Pflicht. Alles Werte, die die wenigsten von uns wohl in Rahmen gestickt bei Ikea kaufen.

Dahinter stecken Qualitäten wie Vertrauen, Mut, Klarheit – und sehr viel Übung. Indem man übt, hat man eine Chance – erst recht mit der Unterstützung eines bestimmten halbgöttlichen Wesens: Hanuman! Er ist der Sohn des Windgottes und einer Äffin und strotzt schon seinem Namen nach vor Willenskraft und sprich wörtlichem “Biss” (er ist “der mit dem großen Kiefer”).

Diese Qualität braucht man, um sein Ziel beständig im Auge zu behalten und sich nicht ablenken zu lassen. Am Ziel angelangt jedoch, muss sich die Willenskraft zurücknehmen und der Liebe, dem Selbst, dem Bewusstsein, symbolisiert von Rama, den Vortritt lassen. Bis irgendwann der Moment gekommen ist, in dem das Selbst seine göttliche Natur erkennen muss, um in wahrer Einheit mit der Energie zu leben – über das Ende der Zeit hinaus.

Im Ramayana gibt es keine Asana-Beschreibungen oder Anweisungen, wie eine Atemübung oder überhaupt eine spirituelle oder transformierende Praxis aussehen könnte. Die Geschichte spielt ganz allein auf einer symbolischen Ebene. Die verlangt von uns nur zwei Dinge: Zuhören und Einfühlen. So wie man am Lagerfeuer sitzend einer Geschichte lauscht und spürt, wie sie etwas in einem bewegt.

Danach ist man ein kleines bisschen verändert, denn die Geschichte ist Teil der eigenen Erinnerung. Und damit Teil von unserem persönlichen Ich. Jedesmal, wenn du einen Hanuman siehst, oder “Rama Bolo” singst, wird die weise alte Geschichte in dir angerührt und wispert leise zu dir: “Komm zur Ruhe, finde deinen Frieden, genieße die Liebe des Seins!”

Das Who is Who der Ramayana

Rama: Königssohn von Ayodhya, steht symbolisch für: Bewusstsein, Wiederherstellung der Harmonie

Sita: Königstochter aus Videha und Gattin Ramas, geboren aus einer Ackerfurche (was auch ihr Name bedeutet), symbolisch: Energie

Hanuman: Halbgott im Affenkörper, Sohn des Windes, symbolisch: Willenskraft und Hingabe

Hanumanasana: die nach ihm benannte Yogahaltung symbolisiert den großen Sprung (Transformation)

Ravana: mächtiger Dämon, der Sita entführt, symbolisch: die Verwirrung des Geistes

Surpanaka: Ravanas dämonische Schwester, die als “Vielgestaltige” Angst und Zweifel bringt

Ayodhya: Heimatstadt von Rama; wörtlich übersetzt: “die, die nicht bekämpft werden kann”, symbolisch: das, was unveränderlich ist, die ursprüngliche Harmonie

Videha: Heimatstadt von Sita; wörtlich “die ohne Mauern”, symbolisch: ein Ort ohne feste Form, sich ewig wandelnde Energie


Autorenfoto Sybille Schlegel

Sybille Schlegel ist unsere Lieblingsautorin, wenn es um alltagstaugliche Texte zur Yogaphilosophie geht: So locker und leicht, so tief und wahr, einfach wunderbar! Dieser Text stammt aus unserer Reihe im YOGAWORLD JOURNAL “Die wichtigsten Texte der Yogaphilosophie“. Mehr über Sybille erfährst du auf ihrem Instagram Account. Live kannst du sie in Mainz erleben, im Hatha Vinyasa Parampa Studio, das sie gemeinsam mit Andreas Ruhula leitet.


Lese mehr von Sybille Schlegel und tauche tiefer in die Yogaphilosophie ein:

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