Liebevoller Eifer – wie Tapas uns hilft, unseren Weg zu gehen

Wenn wir ungute Muster überwinden und uns wirklich entfalten wollen, dann geht das nie ohne eine gewisse Anstrengung und Entschlossenheit. Hier verrät uns Kino MacGregor das Geheimnis der yogischen Disziplin: Tapas.

Text: Kino MacGregor / Fotos: Omar Sejnæs

Heute Morgen bin ich um 5 Uhr aufgestanden, gute zwei Stunden vor Tagesanbruch. Schon vor 6 saß ich auf meinem Meditationskissen und als die ersten Sonnenstrahlen schließlich durch die Wolken blinzelten, streckte ich mich schon wohlig in den herabschauenden Hund. Das ist mein typisches Morgenritual – dabei bin ich eigentlich ein absoluter Morgenmuffel. Auch nach über 20 Jahren Praxis fällt es mir schwer, so früh in den Tag zu starten. Meine innere Uhr will, dass ich zu dieser Zeit noch mindestens eine halbe Stunde schlafe. Aber ich weiß auch, warum es gut ist, mich regelmäßig aus meiner Komfortzone herauszubewegen – und ich habe mir über die Jahre eine gesunde Portion Disziplin zugelegt.

Wie Samskaras uns ausbremsen

Die Yogapraxis zielt als spiritueller Weg darauf ab, Körper und Geist von ihren gewohnten Mustern zu befreien. Die Sanskrit-Bezeichnung für diese Muster ist Samskaras. Weil sie die manifestesten Verkörperungen unserer Gedanken und Persönlichkeit sind, identifizieren wir uns meist stark mit ihnen – und entsprechend groß sind die emotionalen Widerstände, wenn wir sie durchbrechen und verändern möchten. Der Kreislauf der Samskaras wird – auch wenn das wie ein Widerspruch in sich klingt – gerade von unserer Trägheit angetrieben: Wenn wir nicht entschlossen gegensteuern, dann sorgen unbewusste Kräfte dafür, dass die Muster immer weiterlaufen. Viele Samskaras gelten als gutartig, denn sie erzeugen erst mal kein Leid. Doch der Großteil der Gewohnheiten, die unser Leben normalerweise regieren, ist dem eigentlichen spirituellen Ziel des Yoga, der Befreiung, nicht gerade zuträglich – und das heißt: Sie bewirken letztlich eben doch Leid.

Kino MacGregor Krieger 1 Variante

An seinen Samskaras zu arbeiten ist wie eine Operation an den inneren Strukturen des Geistes. Mit anderen Worten: Es ist nichts, was man nebenher und irgendwie in Angriff nehmen könnte. In Wirklichkeit ist eine hingebungsvolle, disziplinierte Praxis nötig, um die Gewohnheitsmuster des Geistes neu zu strukturieren und die Grundlage für ein Leben in innerem Frieden zu legen.

Lesetipp: “Goodbye Schweinehund: 5 Tipps für die Meditationspraxis”

Wie Tapas uns hilft

Wenn nach Disziplin gerufen wird, dann klingt das erst mal nicht gerade verlockend. In unserer freiheitsliebenden, genussbetonten Kultur hassen viele schon den Gedanken an starre Regeln. Im Yoga gibt es genau dafür aber nicht ohne Grund eine lange Tradition. Das Sanskrit-Wort Tapas ist in allen traditionellen Formen von Yoga ein zentraler Begriff. Manchmal wird er als “Disziplin” oder “Feuereifer” übersetzt, an anderer Stelle sogar mit den noch einschüchternderen Begriffen “Entbehrung”, oder “Askese”.

Swami Satchidananda hat Tapas definiert als die Bereitschaft, anzunehmen, was der eigenen Reinigung dient. Ich liebe diese Definition, weil sie auch klar macht, was Tapas gerade nicht sein sollte: Ein philosophischer Vorwand, um mit äußerster Strenge gegenüber sich selbst zu üben und die Praxis dabei womöglich in eine Art Buße zu verwandeln. Dazu muss man sich immer wieder vor Augen rufen, wie tief Yoga im Prinzip der Ausgewogenheit verwurzelt ist: Extreme Härte ist ganz einfach schädlich. In der Yogapraxis erwächst Disziplin deshalb nicht aus Härte, sondern aus Liebe.

Wie das im echten Leben klappt

Wenn um 5 Uhr mein Wecker klingelt, dann will das “alte” Ich (geleitet von den alten Samskaras) gemütlich weiterkuscheln. Das “neue” Ich muss dagegenhalten und erst mal Druck machen, denn die alten Muster sind mächtig und sie sprechen eine verführerische Sprache: “Komm schon, du verdienst diese Ruhe”, flüstern sie schmeichelnd. “Nur noch fünf Minuten. Es ist ja noch sooo früh. Halb 6 reicht doch völlig!” Jetzt habe ich die Wahl: Will ich auf die Stimme des alten Musters hören, oder will ich aufstehen und mir die Zeit für eine ausgiebige Morgenpraxis nehmen? Gar nicht so einfach, eine neue Spur zu bahnen! Es erfordert einige Anstrengung, Hingabe und Willenskraft. Aber wenn ich erst mal auf meinem Kissen sitze, dann empfinde ich einen wunderbaren Frieden: Mit dem dämmernden Morgen erwacht auch mein inneres Licht und das erfüllt und wärmt mich auf eine Weise, die jede Anstrengung lohnenswert macht.

Lesetipp: “Sadhana: 4 Tipps für die eigene Praxis”

Mein Lehrer, Sharath Jois, sagt gerne, dass jede Praxis auch mindestens ein Element von Schwierigkeit beinhalten sollte. Die Idee dahinter: Ist die Praxis zu einfach, dann kann sie uns auch nichts über unsere tieferen Schichten beibringen. Wir müssen also den Berg des Yoga besteigen, um zu den Gipfeln des menschlichen Bewusstseins vorzudringen. Die Herausforderungen, denen wir dabei begegnen, spiegeln die Herausforderungen wider, die das Leben uns sowieso stellt.

Kino MacGregor Tapas Armbalance auf Felsen

Das beginnt schon auf der Matte: Tapas lehrt uns, dass es völlig okay ist, wenn der erste Versuch einer schwierigen Arm-Balance nicht klappt. Es ermutigt uns, es noch einmal zu versuchen. Oder noch 1000 Mal. Bis wir die nötige Kraft und Geschicklichkeit aufgebaut haben. Bis wir die Lektion gelernt haben, die die Praxis uns zu vermitteln versucht. Vor allem wenn du normalerweise jemand bist, der vor Schwierigkeiten zurückweicht, dann zeigt dir Tapas einen Weg, wie du dich immer wieder aufrappeln und Herausforderungen mit kämpferischer Liebe begegnen kannst.

Deswegen ist Tapas in meinen Augen eine der wichtigsten Prüfungen auf dem Yogaweg: Es lehrt dich ein spirituelles Paradigma, das deine gewohnten Antworten auf Widerstände und Schwierigkeiten verändert. Indem du lernst, wie du dich den reinigenden (nicht verletzenden!) Schmerzen des spirituellen Wegs stellen kannst, wirst du auch lernen, wie du den angstbesetzten Dingen in deinem Leben mutig entgegentrittst.

Was das bewirkt

Für mich selbst hat Tapas nahezu jeden Aspekt meines Lebens verändert. Das beginnt wie gesagt schon beim Aufstehen. Natürlich schwänze auch ich manchmal meine Morgenpraxis (ich bin schließlich auch nur ein Mensch), aber ich stehe auf jeden Fall viel früher auf als zu der Zeit, als ich noch kein Yoga geübt habe. Deswegen gehe ich natürlich früher schlafen und treibe mich kaum noch auf Partys herum, oder wenn, dann auf anderen als früher. Überhaupt haben meine Tage jetzt viel mehr Struktur. Das Einzige, was ich früher wirklich täglich gemacht habe, war Zähneputzen. Dann entschloss ich mich zur “Sechs-Tage-Woche” der Ashtanga-Yogis und halte mich seit 20 Jahren daran – auch wenn es nicht immer das zweistündige Schweißbad sein muss, für das Ashtangis bekannt sind. Manchmal genügen mir auch 5 Minuten oder zwei, drei Sonnengrüße.

Tapas bedeutet hier vor allem: überhaupt regelmäßig auf die Matte zu gehen. Diese tägliche Disziplin ist für mich zu einem spirituellen Ritual der mentalen und körperlichen Reinigung geworden. Als ich erst einmal gelernt hatte, Disziplin auf der Matte aufzubauen, fiel es mir auch nicht mehr so schwer, jenseits der Matte disziplinierter zu sein: Ich ernähre mich rein pflanzlich, habe mehrere Bücher geschrieben, ein Yoga-Center und einen Online-Kanal gegründet.

Bei all dem spielen natürlich auch Glück und Privilegien eine Rolle, aber ohne die Disziplin, die ich beim Yoga gelernt habe, wäre es nicht gegangen. Egal ob ich meinen Körper in Umkehrhaltungen kraftvoll gegen die Schwerkraft stemmen musste oder ob ich vor beruflichen Schwierigkeiten stand: Immer wenn etwas nicht geklappt hat, habe ich mich aufgerappelt und es noch mal versucht. Natürlich gibt es weiterhin unerfüllte Träume (und unerreichte Asanas!), aber ich bin gelassen und zuversichtlich: Mit Tapas wird alles zu gegebener Zeit kommen.

Kino MacGregor Krounchasana Reiher

Wochen-Challenge: 4 Wege zu mehr Disziplin

Richte deine spirituelle Praxis eine Woche lang auf einen für dich herausfordernden Aspekt aus. Ganz wichtig: Achte darauf, dein Tapas in Liebe und nicht in Strenge gegen dich selbst wurzeln zu lassen. Begegne dir so freundlich und zugewandt wie einem Kind, das Disziplin gerade erst lernt. Die folgenden vier Ideen sind nur Vorschläge, was du in dieser Woche üben könntest. Vielleicht hast du auch eine eigene Idee, die besser zu dir passt.

1. Früh übt sich …

Nimm dir vor, diese Woche schon vor Sonnenaufgang aufzustehen und auf die Matte zu gehen. Dabei lässt du Handy, Tablet & Co. am besten ausgeschaltet, denn in der frühmorgendlichen Praxis nutzen wir den relativ ruhigen Zustand des Geistes, der um diese Zeit von Natur aus vorherrschend ist. Das ermöglicht es uns, sehr tief im Geist zu arbeiten – was uns wiederum die Chance eröffnet, den gesamten Tag aus einem spirituellen, friedvollen Mindset heraus zu leben.

2. Yogisch essen

Ernährungsgewohnheiten zu ändern, ist nie einfach: Neben den persönlichen Vorlieben und Gelüsten gibt es auch kulturelle und soziale Hürden. Versuche diese Woche, wenigstens auf ein Lebensmittel zu verzichten, das für dich mit starken Anhaftungen verbunden ist. Wer bist du ohne das tägliche Glas Wein, den Morgenkaffee oder die Schokolade? Wie reagierst du darauf, wenn die Gewohnheit durchbrochen wird – bestimmt gibt es positive und negative Reaktionen zu beobachten.

Zur Inspiration: “Sattvische Ernährung plus Rezept-Tipps”

3. Roll die Matte aus

Auch wenn es nur 5 Minuten sind: Diese Woche übst du wirklich jeden Tag ein paar Asanas. Am einfachsten geht das, wenn du für diese Verabredung mit deiner Matte eine bestimmte Uhrzeit festlegst. Genau wie das Zähneputzen morgens und abends gewöhnt man sich auch das Üben am nachhaltigsten an, wenn es zu einem festen Ritual wird.

4. Anders denken

Yoga eröffnet uns Einblicke in unsere Innenwelt. Dort, zwischen zwei Atemzügen, begegnen uns auch häufig unsere wiederkehrenden Gedanken. Schau dir diese Gedanken diese Woche besonders aufmerksam an. Was treibt dich um? Was sind deine Mantras über dich selbst? Wenn sie negativ sind, dann versuche sie umzudrehen. Grausame Sätze wie “Ich bin zu dick”, “Ich bin hässlich” oder “Ich bin alt” in liebevolle Botschaften umzuwandeln, ist eine schwierige Übung. Sie erfordert eine Menge Disziplin, aber sie belohnt dich auch mit einem liebevollen, offenen Herzen.

Extra-Tipp: Vielleicht hilft es dir, deine Erfahrungen mit Tapas in einem Tagebuch festzuhalten und zu verarbeiten.


Kino MacGregor im Lotussitz

Kino MacGregor ist eine der renommiertesten Ashtanga-Yogalehrerinnen. Sie unterrichtet in dem von ihr mitbegründeten Miami Life Center, auf ihrem Yoga-Kanal Omstars und bei Festivals weltweit. Mehr Infos unter kinoyoga.com


Tapas ist eines der Niyamas nach Patanjali. In diesem Artikel von Sybille Schlegel erfährst du, wie du Tapas & Co. über 30 Tage hinweg in dein Leben integrieren kannst…

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