Wie gelingt ein lebendiges Leben? – Kolumne von Carmen Schnitzer

Es ist Anfang Februar. Quasi mitten im deutschen Winter blicken wir aus dem Fenster auf eine eher gräuliche Welt hinaus. Bis die Tage kommen, an denen wir bei 25 Grad mit unseren Freund*innen in T-Shirt und kurzer Hose und mit einem leckeren Eis in der Hand über die Straßen flanieren, ist es wohl noch ein bisschen hin. Da erinnern wir uns gerne an unsere YOGAWORLD JOURNAL Sommer-Ausgabe 04/2023 zurück, dem wir das Titelthema “Lebendigkeit” gewidmet haben. Denn so richtig lebendig fühlen wir uns gerade … geht so. Wie gelingt ein lebendiges Leben, was müssen wir dafür tun? In ihrer damaligen Kolumne hat sich Redakteurin Carmen Schnitzer dazu Gedanken gemacht – und zwar auf ihrer ersten Indienreise.

Text: Carmen Schnitzer / Foto: Jyotirmoy Gupta via Unsplash

“Where is your breath? If you are not breathing, you are not doing yoga.” In fast jeder seiner Yin-Yogastunden sagte das Hariji, der Gründer der Yogaschule im indischen Dharamsala, in der ich mich gerade befinde. Wo unser Atem sei. “Wenn ihr nicht atmet, praktiziert ihr kein Yoga.” Wenn wir nicht atmen, leben wir nicht, denke ich, und vielleicht ist das letztlich dasselbe. Yoga und Leben, Leben und Yoga. Wir sind uns wahrscheinlich alle einig, dass im Thema “Lebendigkeit” mehr steckt als lebendig sein im Sinne eines stumpfen Existierens. Nur – was?

“Du lebst nicht, du wirst gelebt”, hatte ich mal zu einem Ex-Partner gesagt. Wir sind nach wie vor gut befreundet, daher weiß ich, dass dieser Satz in ihm gearbeitet hat, und tatsächlich würde ich ihn mittlerweile so nicht mehr unterschreiben. Was ich meinte war: M., der aufgrund seines Charismas Leute schnell für sich einnehmen kann, zog in die Wohnungen, die man ihm quasi auf dem Silbertablett servierte, blieb in dem Job, der sich für ihn so ergeben hatte, und bei den Frauen, die sich am hartnäckigsten um ihn bemühten. Selten traf er selbst eine klare Entscheidung, zumindest keine, der eigene Bemühungen folgen mussten, um sie durchzuziehen. Stattdessen ließ er sich treiben.

Klingt im Grunde gar nicht so schlecht, nicht wahr? Sich treiben lassen, dem Strom des Lebens hingeben, vertrauen, dass das, was zu einem soll, auch zu einem kommt … Allein: M. war mit all dem nicht glücklich oder zufrieden. Oft fühlte er sich innerlich leer, und das nicht im guten Sinne. Ganz ohne eigenes Zutun wird es eben doch nix mit der Erfüllung. Es ist wahrscheinlich wie beim Yoga: Du musst deine Matte ausrollen, du musst aktiv mit deinem Körper, deinem Geist, deiner Seele arbeiten – und dich gleichzeitig bewusst dem Moment hingeben. Ein ewiges Zusammenspiel von Halten und Loslassen, von vertrauensvollem Abgeben und gleichzeitigem Behalten der Kontrolle, von Sein und Werden.

Ich glaube, was Lebendigkeit vom bloßen Da-Sein unterscheidet (und gleichzeitig genau dieses Da-Sein ausmacht), ist die Intensität. Und zwar eine Intensität, gegen die man sich nicht wehrt, in die man hineintaucht, um sie mit allen Sinnen zu er-leben. Auch dann, wenn es sich gerade nicht “gut” anfühlt, denn das Leben besteht eben nicht nur aus sonnig-süßen Glücksmomenten.

Dazu noch ein Beispiel aus dem Ort, an dem ich mich gerade befinde (Shree Hari Yoga heißt die Schule übrigens): Eines Morgens stand dort ein verärgerter Engländer, der den Berg zu uns hochgestiegen war, um eine Ashtanga-Stunde zu besuchen. Er hatte sich extra per Mail erkundigt, ob sie wirklich stattfinden würde, was ihm bestätigt wurde – nun allerdings doch nicht der Fall war. Eine (in meinen Augen ehrlich gesagt etwas “verspulte”) Italienerin wollte ihm einreden, dass das doch eben Yoga sei: die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind. Er solle sich nicht ärgern. Stattdessen säuselte sie: “Be happy!”

Sie meinte es sicher gut, machte aber letztlich alles noch schlimmer: Manchmal sei es eben nicht möglich, happy zu sein, antwortete der Engländer, und dass es auch wichtig sei, seinem aktuellen Gefühl des “Pissed”-Seins Raum zu geben. Meiner Meinung nach hatte er damit absolut recht – zumal er sich nicht von seinem Ärger auffressen ließ, sondern ihm Luft machte und anschließend einfach die stattfindende Yin-Yogastunde besuchte, also so ziemlich das Gegenteil von dem Yoga, auf das er sich gefreut hatte. Er gab sich der Praxis hin, und am Ende war sein Ärger verflogen, vermutlich auch, weil er ihn angenommen hatte.

“Der Schmerz kommt, aber er geht auch wieder”, noch so ein Satz aus Harijis Kursen. Wenn es wehtut, heiße es: weiter atmen! “Inhale deeeeeeply – exhale compleeeeeetely”, klingt seine Stimme in mir nach, jetzt, da ich zurück in Deutschland bin und hier die letzten Zeilen dieser Kolumne schreibe. Vielleicht passt zum Thema Lebendigkeit noch eine Wasser-Metapher: Lebendig fühlt sich, wer sich von den Wellen des Lebens mitreißen lässt, ohne von ihnen verschlungen zu werden. Damit das gelingt, gilt es, schwimmen zu lernen und regelmäßig zu üben. Manchmal brauchen wir starke Arme und Beine, um nicht unterzugehen im Ozean – und manchmal können wir uns auf den Rücken legen, uns vom Salzwasser tragen lassen und entspannt in die Sonne blinzeln …


Jean-Marc Turmes Photography

Ob der Inder, der ihr auf ihrer Reise am zufriedensten erschien, Yoga übte, weiß CARMEN SCHNITZER nicht. Er ruderte sie und ihre Freundin in Varanasi frühmorgens über den Ganges und sinnierte darüber, dass Glück und Traurigkeit sich im Leben immer abwechselten: “Selbst ein König muss manchmal weinen.”

Wenn du mehr über Carmens Indien-Reise erfahren möchtest, dann lies unbedingt ihren Reisebericht im YOGAWORLD JOURNAL 01/2024. Hier gibt’s das Heft im Shop.


Noch mehr Impulse rund ums Thema Lebendigkeit im YOGAWORLD JOURNAL 04/2023:

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