Perfektion im Yoga: Worum es dabei wirklich geht

Das Wort wabert wie ein Nebel durch die Yogaszene und -literatur: Perfektion. Aber was genau bedeutet das da überhaupt? Geht es nicht eigentlich um Akzeptanz und Loslassen? Unsere Autorin macht sich anhand der Yogaphilosophie auf die Suche.

Text: Sybille Schlegel / Titelbild: Alena Ozerova via Canva

Ein perfekter Körper in perfekter Pose, perfekter Hintergrund mit Meer und Palmen. Ist Instagram-Ästhetik der Maßstab für Perfektion im Yoga? Szenenwechsel: Orangener Indienfummel, Shiva-Zeichen aus Asche auf der Stirn, Wohnung und Job aufgegeben für ein Leben im Ashram. Ist ein radikaler Lifestyle-Wechsel Perfektion im Yoga? Noch mal Szenenwechsel: Muskeln ohne ein Gramm Fett, einarmiger Handstand, Luftanhalten wie ein Apnoe-Taucher. Ist optimale Leistungsfähigkeit Perfektion im Yoga?

Aber was ist das überhaupt, “Perfektion”? Der immer perfekt Bescheid wissende Duden definiert sie als “Vollendung” oder “Vollkommenheit” – also als einen Zustand, in dem nichts fehlt. So wie ein fertig gestelltes Puzzle: Kein Teil ist übrig, keine Lücke zu füllen, es bleibt nichts zu tun. Wie fühlt sich das an? Genau: still. Ruhig. Ohne Ursache für weitere Aktion. Es ist einfach da. Noch absoluter beschreibt es das Purna-Mantra aus den Upanishaden:

Purna ist eines der Sanskrit-Wörter für Perfektion. Man kann es auch übersetzen als Fülle, Vollkommenheit oder eben Vollendung. Das Mantra vermittelt uns: Vollkommenheit beschränkt sich nicht auf dieses oder jenes. Sie ist die Ursache und Quelle von allem, was entsteht – und was damit logischerweise auch vollkommen ist. Denn aus Vollkommenheit kann nichts Unvollkommenes erwachsen. Und selbst wenn aus der Vollkommenheit etwas entnommen würde (nämlich Vollkommenheit), bleibt Vollkommenheit zurück. So wie Wasser zurückbleibt, wenn man etwas davon herausschöpft.

Foto: Katerina Vulcova via Pixabay

Von Samskrta bis Siddhi und Vibhuti

Das nächste Wort, das mir in meiner themenbezogenen Kontemplation in den Geist kommt, ist Samskrta, das Sanskrit-Wort für Sanskrit. Denn das bedeutet? Richtig! Vollendet. Perfektioniert. Erfüllt. Die alte Sprache des Yoga bildet nämlich nach Vorstellung der indischen Weisen lautmalerisch das Universum in seiner “All-heit” nach und ab. Alle energetischen Aspekte sind da. Nichts fehlt.

“Aber vergiss nicht den Begriff Siddhi“, mischt sich mein Geist jetzt ein und beginnt sofort wie eine Einserschülerin darüber zu dozieren, wie das richtige Üben zu einem Ziel führt: “Sadhana ist das Üben auf ein Ziel hinzu – wie das Ausrichten von Pfeil und Bogen auf die Mitte der Zielscheibe. Siddhi ist das Erreichen des Ziels, also wenn der Pfeil getroffen hat: Vollkommenheit. In den verschiedenen Yogaschriften werden verschiedene Siddhis benannt, oftmals phantastisch anmutende Fähigkeiten wie zeitweise Unsichtbarkeit, Telepathie oder Teleportation, manche Siddhi-Meister können demnach alle Sprachen, sie kommunizieren mit Tieren oder gehen in fremde Körper hinein …”

“Ich weiß!”, unterbreche ich meinen Geist genervt. Doch wie immer ist er nicht zu bremsen: “Sogar der sonst so pragmatische Patanjali beschreibt sie im dritten Kapitel seines Yogasutra…” “Da heißen sie aber nicht Siddhi“, wende ich besserwisserisch ein, “sondern Vibhuti.” “Und auch das”, verkündet mein Geist, der ausnahmsweise ordentlich Vokabeln gelernt zu haben scheint, “heißt Vollkommenheit, Vollendung.” “Perfektion”, stöhne ich … Puh!

Lies dazu auch: “Vibhuti Pada: Freude am Üben vs. Selbstoptimierung”

“Yoga ist der Zustand, in dem man nichts vermisst.”

Ich winde mich auf meinem Meditationskissen und habe den Wunsch, das Bisherige mal auf den Tisch zu legen: Perfektion ist laut Yogaphilosophie also Vollkommenheit, Vollendung. Sie ist die Quelle aller Perfektion und unveränderlich da. Sie hat mit dem Sein als Solchem zu tun, kann sich aber auch in besonderen Fähigkeiten ausdrücken. Doch eigentlich bedeutet sie einen Zustand, in dem nichts fehlt.

Foto: chameleonseye von Getty Images via Canva

Diejenigen unter euch, die meine Artikel über Yogaphilosophie im YOGAWORLD JOURNAL regelmäßig verfolgt haben, erinnern sich vielleicht an die Definition des Yoga-Zustands von Shri Brahmananda Sarasvati, des Lehrers meiner Lehrerin: “Yoga ist der Zustand, in dem man nichts vermisst.” Anders gesagt: Im Zustand des Yoga ist man im Zustand der Perfektion. Erinnert euch an das Bild des fertigen Puzzles: Es bleibt nichts zu tun, es wird nichts vermisst, alles ist da und in Ruhe. Ein Zustand, der als universal, absolut und real wahrgenommen wird.

Der gegenteilige Zustand davon, in dem man sich laut Yoga Sutra 1.4 normalerweise befindet, ist individuell, partiell, eingeschränkt, scheinbar. Dieser Nicht-Yoga-Zustand muss die Welt des Geistes sein, denn Yoga bedeutet laut Yoga Sutra 1.2 ja, dass die Bewegungen des Geistes aufhören. Das ergibt Sinn, denn die Ideale, Konzepte, Kategorien und Maßstäbe, die aus dem Geist stammen, sind aufgrund ihrer Urheberschaft immer individuell, partiell, eingeschränkt, scheinbar. Das gilt sogar für so etwas wie körperliche Perfektion: Sie findet zwar in einem Teilbereich der manifesten Welt statt, nämlich im menschlichen Körper. Tatsächlich ist es aber ein kulturelles, ein geistiges Konzept, welche Art von Körper wir unserer Perspektive hier im Westen im Jahr 2025 als Ideal definieren. Mit anderen Worten: Es ist partiell, eingeschränkt, scheinbar.

Warum Perfektion nicht erreicht werden kann

Das Streben nach all den verschiedenen Vorstellungen von Perfektion, die dem Geist entspringen, ist entsetzlich anstrengend, denn – wie wir in den 1970ern in einem Lied aus der Sesamstraße gelernt haben: “Es gibt immer einen, der ist besser als du. Es gibt immer einen, der ist schneller als du…” Dieses Streben lebt von Messlatten und Vergleichen. Eine Karotte vor der Nase. Tatsächlich aber kann aus der Sicht der Yogaphilosophie niemals etwas Perfektion genannt werden, solange es lediglich teilweise und partiell ist. Dagegen ist das gesamte Sein, die gesamte Existenz ihrem Wesen nach in sich perfekt. In diesem Verständnis von Perfektion kann es keine Norm geben und auch kein Idealbild. Ein Puzzle ist eben nicht fertig, wenn man von drei Lamas, Bergen und Himmel nur ein Lama gepuzzelt hat und den Rest des Bilds nicht sieht, weil es sich in einem Haufen bunter Pappteilchen verbirgt.

Foto: El Jundi via Pexels

Genau da setzt die Yogaphilosophie an: Es geht darum, sich aus der partiellen, individuellen Gedankenwelt des Geistes zu lösen, um dahinter eine andere, vollkommene Welt zu entdecken. Sie ist immer schon da und in jedem von uns vorhanden, aber wir sehen sie meistens nicht, weil die Netflix-Serien des Geistes einfach zu spannend, lustig, inspirierend, dramatisch, gruselig oder abenteuerlich sind. Wer würde Stille und Frieden wählen, wenn man ständige Ablenkung haben kann? Das Selbst ist das Sein, absolut vollkommen – vollkommen absolut.

Ist es das Ziel unseres Übens, des Sadhana? Ja. Können wir es damit erreichen? Nein. Es ist so: Ein Sadhana, kann uns darin unterstützen, in unserer Bereitschaft zu reifen, dem Geist nicht länger zu glauben. Weil wir ihn irgendwann erschöpfend betrachtet haben und erkennen, dass er unstet ist und somit nicht absolut. Das Ziel – unser echtes, vollkommenes Selbst – kann deshalb nicht erreicht werden, weil wir es ja schon sind. Es ist da.

Perfektion loslassen und finden

Das ist ein wenig so, wie wenn man seine Brille sucht, die aber auf dem Kopf ist: Erst, wenn sie in der Umgebung wirklich nirgends aufzufinden ist, gibt man auf. Lässt das Suchen los. Und wird offen für das Spüren der Brille auf der Kopfhaut. Findet, was nie weg war. Im Yoga das Selbst, das Sein, die Perfektion. Jedes Getrenntsein, jede einseitige Perspektive, jede Vergleichsmöglichkeit hört auf. Alles ist da. Und man erkennt: Aham Brahm’asmi – Ich bin alles. Brahman, die letzte Sanskrit-Vokabel in diesem “perfekten” Artikel, ist das Absolute. An ihm haben wir Anteil über Atman, das Selbst. Dieses Selbst und das Absolute sind eins. In den Upanishaden heißt es daher: Tat tvam asi – Du bist das. Du bist Brahman, das Große, Absolute. Perfekte.

Man kann dies und jenes tun, um sich reif zu machen für den Sprung in diesen Zustand des Yoga. Eines dieser Dinge ist laut Patanjali das wiederholte Chanten von Om (Pranava). Aber das, worauf man zielt, trifft einen schließlich …

Tipp: Mehr zum Thema “Perfektion” liest du im YOGAWORLD JOURNAL 02/2025, aus dem dieser Artikel stammt.


Unsere Philosophie-Expertin Sybille Schlegel hat sich beim Schreiben dieses Textes wieder darauf besonnen, dass sie sich in all ihrer alltäglichen Unperfektheit doch perfekt wissen darf.

Nach vielen Jahren als Yogalehrerin und -ausbilderin konzentriert Sybille sich jetzt ganz aufs Üben und Schreiben. Du findest sie auf Instagram unter: @sybi_bille

Auf unserer Webseite findest du noch viele weitere Texte von Sybille. Lies zum Beispiel hier weiter:

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