Ich habe einen Körper, also bin ich? Lies hier, wie sehr unsere Physis unser Selbstvertrauen beeinflusst, mit welchen Mechanismen das zu tun hat und wie wir lernen können, uns so anzunehmen, wie wir sind. Dem Thema “Körperbilder” haben wir im Sommer 2022 eine komplette YogaWorld Journal-Ausgabe gewidmet, woraus auch dieser Artikel stammt.
Text: Carmen Schnitzer / Titelbild: Roberto Hund via Pexels
Neulich erzählte mir eine rund 120 Kilo schwere Bekannte davon, wie sie einen Yogakurs an der VHS gebucht und danach frustriert festgestellt hatte, dass Yoga einfach nichts für sie sei: “80 Prozent der Übungen habe ich nicht geschafft!” Schnell setzte ich zu einer kleinen Predigt an, erklärte, dass es bei Yoga nicht ums Schaffen ginge, ganz im Gegenteil, dass darin jeder Körper Platz habe – zum Beweis zeigte ich ihr Fotos der dicken, schwarzen Yoga-Aktivistin Jessamyn Stanley –, dass es vor allem auf die innere Haltung ankomme, man die äußere den Gegebenheiten anpassen könne und solle …
Aber im Grunde weiß ich (ebenfalls keine Gazelle) es ja selbst: Diese schöne Theorie versteckt sich oft ziemlich gut hinter einer Yogafassade aus gertenschlanken Instagram-Beautys in knappen Outfits, die spielerisch leicht die kompliziertesten Posen einzunehmen scheinen. Ich fürchte, nein: ich bin sicher: Meine Bekannte ist nicht die Einzige mit solch einer entmutigenden Erfahrung. Yoga in westlichen Industrienationen scheint gemacht zu sein für weiße, sportliche Frauen jungen bis mittleren Alters mit athletischer Modelfigur. Und ja, auch unser Magazin trägt zu diesem Bild bei: Meist zieren genau solche Ladys unser Cover, im Heft selbst sieht es kaum anders aus.

Das ist übrigens auch redaktionsintern immer wieder Anlass für Diskussionen, in denen es diverse Aspekte zu berücksichtigen gibt, darunter natürlich auch: Wird ein Heft, mit dem ein Verlag ein gewisses Risiko eingeht, wenn er mal nicht auf Altbewährtes setzt, von unserer Leser*innenschaft angenommen, trägt es sich also wirtschaftlich? Mit der wunderbaren Anna Trökes hatten wir 2022 erstmals ein Covermodel, das ein ganzes Stück älter war als seine Vorgänger*innen. Denn ist es nicht endlich mal Zeit für mehr Vielfalt? In den letzten Jahren ist der Schrei nach mehr Diversität nicht nur in der Yogaszene immer lauter geworden: Eine Erfolgsserie wie das bunte Kostümspektakel “Bridgerton” machte durch ihren Cast von sich reden, der einen bunten Mix an Hautfarben repräsentierte, ohne dass diese für die Handlung von Bedeutung waren. (Zu dunkel durften die Figuren allerdings auch wieder nicht sein.)
In Heidi Klums TV-Modelshow dürfen mittlerweile auch ältere und fülligere Models mitlaufen (aber nur selten gewinnen). Und auf Social-Media-Kanälen zeigen sich Stars immer mal wieder ungeschminkt, ohne Filter und mit unkaschierten, vermeintlichen Makeln (und entsprechen dabei oft dennoch gängigen Idealen). Meine Anmerkungen in Klammern deuten bereits gewisse Zweifel an: Sind das alles wirkliche Fortschritte oder handelt es sich dabei nicht vielmehr um eine Art “Diversity-Washing” – ähnlich dem “Greenwashing”, das manche Firmen betreiben, um sich einen ökologisch korrekten Anstrich zu verleihen, ohne im Kern etwas ändern zu wollen? Wie weit sind wir wirklich, welches Ziel streben wir überhaupt an, und ist das Erreichen realistisch?
Was ist schön?

Fakt ist: Schönheitsideale scheint es seit Anbeginn der Menschheit zu geben, wenngleich sie sich über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg immer mal wieder gewandelt haben und sich bis heute von Kultur zu Kultur unterscheiden können. Ein Aspekt, wenn auch nicht der einzige, der die jeweiligen Ideale prägt, ist, welche Optik mit Geld und gesellschaftlicher Macht assoziiert wird: In Zeiten, da gebräunte Haut und eine drahtige Figur auf Feldarbeit schließen ließen, während sich die Reichen in den Innenräumen vergnügten, waren vornehme Blässe und mehr Leibesfülle angesagt, heutzutage ist es genau umgekehrt: Wessen Teint sonnengeküsst wirkt, der kann sich Urlaub im Süden leisten, wer schlank ist, hat Zeit für Sport und Geld für gesunde Biokost.
Wenn es schon immer Schönheitsideale gab, ist es dann nicht illusorisch, sie aus der Welt schaffen zu wollen? Vermutlich ist es das. Hat es dennoch Sinn, sich damit auseinanderzusetzen? Aber hallo! Denn nur weil etwas existiert, heißt es noch lange nicht, dass es all unser Fühlen und Denken bestimmen muss, dass wir davon unser Selbstwertgefühl abhängig machen müssen. Wer Bilder Picassos bewundert, die Stimme einer Maria Callas oder die kulinarische Kunst eines Sternekochs, hadert schließlich auch eher selten damit, dass er selbst an der Leinwand, beim Singen oder am Herd nicht ganz so versiert ist wie diese drei. Der Unterschied ist natürlich, dass wir unseren Körper immer dabei haben, uns mit ihm konfrontiert sehen, dass wir ein Stück weit auch unser Körper sind. Und dass er regelmäßig Kommentaren ausgesetzt ist, vor allem dann, wenn er in irgendeiner Form von der herrschenden Norm abweicht.
Die Macht von Kommentaren
Wer wie ich mit einem zwischen 32 und 35 schwankenden BMI herumläuft, sprich: offiziell als adipös gilt, kennt vielleicht solche Situationen, wie ich sie neulich mit der Freundin einer Freundin am See erlebte: Die Frau kannte mich nur sehr flüchtig, sah mich nun erstmals im Bikini und riet mir daraufhin ungefragt, es doch mal mit Sport zu versuchen: “Du wirst sehen, das tut gut!” Ähm … danke, aber – ich mache mehrmals wöchentlich Sport? Das sagte ich ihr dann auch, fügte allerdings hinzu, dass ich in Sachen Ausdauer so meine Schwächen habe. “Nein, du brauchst Muskeln!”, entgegnete sie mir.
Brauche ich die wirklich? Oder projizierte sie da ihre eigenen Bedürfnisse auf mich, die ich einen Körper habe, in dem sie sich eben nicht wohlfühlen würde? Wer auf der anderen Seite der Gewichtsskala anzusiedeln ist, dem wird vermutlich öfter geraten, doch mal ordentlich zu schlemmen, womöglich wird ihm auch eine Essstörung unterstellt. Frauen, die ernst gucken, bekommen zu hören, dass ihnen ein Lächeln gut stehen würde, Menschen mit Afrohaar wird ungefragt hineingegriffen, weil die Greifenden eben “gar nicht anders können”, und Leute im Rollstuhl werden bemitleidet, weil sich das Gegenüber ein solches Leben ja nun gar nicht vorstellen könnte. Wer außergewöhnlich groß ist, muss regelmäßig erzählen, “wie denn die Luft da oben” sei, sehr kleine Menschen bleiben ihr Leben lang “niedlich”. Und eine trans-, inter- oder nichtbinäre Person muss sich von anderen sagen lassen, welches ihr “richtiges” Geschlecht sei.
Machen wir uns nichts vor, solche Kommentare und Übergriffe von außen machen etwas mit uns. Mit unserem Inneren. Bestenfalls irritieren sie nur, schlimmstenfalls zerstören sie das Selbstwertgefühl und/oder machen krank. Einer Umfrage der Onlineplattform Statista zufolge sind 39 Prozent der Deutschen “unzufrieden” oder “sehr unzufrieden” mit ihrem Körper. Und in der Yogaszene ist mitunter das Phänomen der “Yogarexia” zu beobachten. Das Kunstwort setzt sich zusammen aus “Yoga” und “Anorexia” (Magersucht) und beschreibt ein Phänomen, bei dem Essstörungen mit einer falschen Interpretation der Yogaphilosophie kaschiert werden: Sind Selbstbeherrschung und der Mut zum Verzicht etwa nicht yogische Qualitäten? Wichtig ist dabei zu betonen, dass Yoga keineswegs der Auslöser für die Krankheit ist, sondern als Verschleierungs-Instrument missbraucht wird. Im Gegenteil: Richtig verstanden kann Yoga, das ist mittlerweile durch verschiedene Studien belegt, die Therapie bei Essstörungen sogar wirksam unterstützen.
Die Sucht nach Bestätigung
Es sind im Übrigen nicht allein negative oder übergriffige Kommentare und Gesten, die einen ungesunden Einfluss auf unsere Körperwahrnehmung haben können. Auch positive Rückmeldungen haben Macht, wie die Yogalehrerin Nina Heitmann im YogaEasy-Podcast zum Thema Body Positivity zugibt. Darin erzählt sie Chefredakteurin Kristin Rübesamen von ihrer anorektischen Phase in frühen Teenietagen. Die Komplimente, die sie nach den ersten gepurzelten Kilos bekommen hatte, hätten sie bestärkt und glauben lassen, auf dem richtigen Weg zu sein.
Auch mit ihrer Social-Media-Nutzung setzt sie sich kritisch auseinander: Sie spüre “ein Glücksgefühl, wenn ich positive Reaktionen bekomme oder Kommentare”. Das Ganze sei “wie ’ne Art Sucht”, sogar für jemanden wie sie, die sie auf diesen Mechanismus einen relativ reflektierten Blick habe. Insgesamt dreht sich das Podcast-Gespräch um die Frage, inwieweit “unser eigenes Körperbild unser Leben zu sehr beeinflusst” (Rübesamen) und inwiefern die aktuelle “Body Positivity”-Bewegung tatsächlich, wie der Name suggeriert, eine positive Wirkung haben könnte.
“Bei keinem gesellschaftlichen Ideal ist so offensichtlich, ob wir ihm entsprechen, wie beim Körper.”
Dazu sei kurz erwähnt, dass sich die Ursprünge von “Body Positivity” bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verfolgen lassen und es dabei um weit mehr ging als um mit Unterwäschebildern auf Instagram gefeierte Selbstakzeptanz. Stattdessen wollten frühe Feministinnen sich zunächst vom körpermodifizierenden und gesundheitsgefährdenden Korsett befreien. In den 1960ern schließlich kämpfte man gegen die Diskriminierung von Menschen, deren Körper nicht der gängigen Norm entsprachen, insbesondere Dicken (Fat Acceptance Movement). Eine moderne Interpretation von “Body Positivity” findet sich im gesellschaftskritischen Essay “Solidarische Körper. Die Aufweichung des Hardbodys in der flüssigen Moderne” von Björn Vedder. Darin geht der im ersten Corona-Lockdown selbst vom Sportfieber befallene Philosoph der Frage nach, wie aus dem gar nicht als “echt” gedachten Körperideal antiker Statuen in der Moderne eins werden konnte, dem Menschen tatsächlich nacheifern, der “Hardbody”, und wie man die Fixierung darauf wieder überwinden könnte.
Body Positivity sieht er als wichtiges Mittel dafür, denn: “Es liegt auf der Hand, dass eine Gesellschaft, die weniger Menschen ausschließt und diskriminiert und mehr Menschen die Möglichkeit gibt, ein Selbstbewusstsein auszubilden und eine Rolle zu spielen, auch eine solidarischere Gesellschaft ist. Das gilt vor allem für den Körper, denn mit nichts anderem stehen wir so in der Öffentlichkeit wie mit ihm. Und bei keinem anderen gesellschaftlich angestrebten Ideal ist es so offensichtlich, ob wir ihm entsprechen, wie bei unserem Körper. Denn jeder sieht ihn.” Die Überwindung des “Hardbodys” sei nötig, um Menschen von Scham zu befreien, ihnen zu ermöglichen, sich selbst zu lieben und somit die Solidarität untereinander zu stärken.
Weniger Body, mehr Sein?

Doch zurück zum Gespräch von Kristin Rübesamen mit Nina Heitmann. “Aber wieder ist da ‘Body‘ drin’, antwortet letztere auf die Frage, ob das Streben nach der mittlerweile immer häufiger geforderten “Body Neutrality” statt “Body Positivity” nicht sinnvoller wäre. Also das schlichte Annehmen des Körpers anstatt eines zwanghaften Feierns desselben. Wird durch die Forderung, den eigenen Körper schön zu finden und das nach außen zu vertreten, nicht schon wieder Druck ausgeübt, nach dem Motto: Bin ich falsch, wenn ich ihn einfach nur okay finde? Nina plädiert grundsätzlich für weniger Reduktion der Wahrnehmung auf den Körper: “Das Schöne an unserem Yogaweg ist ja, dass wir die Möglichkeit haben zu entdecken, dass wir viel mehr sind als das.”
“Mit Sicherheit gibt es etwas, was nur du in die Welt tragen und sie damit bereichern kannst.”
Definitiv sind wir das! “Wir benutzen Spiegel, Waagen und Kleidergrößen falsch – als Referendum. Als könnte man damit tatsächlich messen, wer wir sind”, zitiert Erica O’Brien in der Frühlingsausgabe des US-YOGA JOURNALs 2022 ihre Kollegin Erica Mather, Autorin des bislang nur auf Englisch erschienenen Buches “Your Body. Your Best Friend”. Dessen Untertitel lautet: “End the Confidence-Crushing Pursuit of Unrealistic Beauty Standards and Embrace Your True Power”, zu Deutsch etwa: “Beende das Streben nach unrealistischen Schönheitsidealen, das dein Selbstvertrauen zerstört, und umarme deine wahre Kraft”.
Leichter gesagt als getan, natürlich. Doch Yoga kann uns auf dem Weg zur wahren Selbstakzeptanz unterstützen. In der vedischen Philosophie ist unsere physische Hülle schließlich nur eine von fünf uns umhüllenden Schichten, den sogenannten Koshas. “Die Tatsache, dass du da bist, ist für mich ein Beweis, dass du da sein sollst”, glaubt Nina Heitmann, “sonst wärst du nicht da. Und mit Sicherheit gibt es etwas, was du, nur du in die Welt tragen und damit die Welt bereichern kannst. Und ich finde es schön, wenn es einem gelingt zu entdecken, was das sein könnte. Jeder für sich – und das ist ganz unabhängig von der äußeren Erscheinung.”
Fazit: Wir sind unser Körper, aber eben nicht nur. Ideale existieren, den Vergleich mit ihnen sollten wir aber vermeiden. Kurz: Es ist kompliziert! Aber: Wir können alle dazu beitragen, dass sich mehr Menschen mit ihrem Körper im Reinen fühlen: Indem wir den liebevollen Blick auf uns und andere schulen, indem wir Vielfalt sichtbarer machen – und indem wir öfters mal lieber nichts sagen, als ungefragt den Körper unseres Gegenübers zu kommentieren und zu bewerten.

“Stell dir vor, dein Körper sei eine Pflanze, die dir eine liebe Freundin geschenkt hat”, schrieb Carmen Schnitzer vor Jahren mal in einem privaten Text. “Du gibst ihr Sonne, gießt sie und erfreust dich an ihren Blüten. Aber du ärgerst dich nicht über einzelne krumme Blätter. Oder?” Carmen ist Journalistin und schreibt seit Jahren für das YOGAWORLD JOURNAL. Erfahre mehr über die Autorin und besuche ihre Facebook-Seite.
Carmen Schnitzer sprach auch im YogaWorld-Podcast über das Thema Körperbilder, hör doch mal rein: