Yoga in der Wissenschaft: Wechselatmung

Die Wechselatmung ist die vielleicht bedeutendste Atemübung im Yoga. Traditionelle Texte beschreiben sie als ausgleichend und harmonisierend: Ida und Pingala, Sonne und Mond, Aktivität und Ruhe sollen beim Üben angeblich in die Balance kommen. Klingt faszinierend – aber was sagt die moderne Forschung dazu?

Text: Dr. Ronald Steiner / Fotos: Nela König

Die traditionellen Texte des Hatha-Yoga zeichnen ein faszinierendes und erstaunlich detailliertes Bild des menschlichen Körpers: Mehrere tausend Energiekanäle durchziehen ihn demnach, die sogenannten Nadis. Eine besondere Bedeutung haben dabei die beiden polaren Kanäle, Ida und Pingala. Ida steht für die kühlende Mondenergie, die mit Ruhe und Kreativität assoziiert wird, während Pingala die aktivierende Sonnenenergie verkörpert, die rationales Denken und Tatkraft fördert. Sicher hast du im Yogaunterricht schon davon gehört, dass die yogische Wechselatmung, Nadi Shodhana, diese Strömungen ausbalanciert. Aber was sagt die moderne Medizin dazu? In diesem Artikel erkunden wir die physiologischen Mechanismen hinter der Wechselatmung, denn faszinierenderweise widersprechen sie den uralten Lehren nicht, sondern unterstützen sie sogar.

Der nasale Zyklus

Während meiner Zeit als Schüler von B.N.S. Iyengar in Mysore lernte ich viele traditionelle Lehren des Hatha-Yoga kennen. So erklärte mir Iyengar auch, dass immer ein Nasenloch in der Atmung dominiert. Ich erinnere mich lebhaft, wie er mich aufforderte, hinzuspüren. Und tatsächlich: Mein rechtes Nasenloch schien weiter geöffnet zu sein als das linke. Iyengar sagte, das liege daran, dass ich gerade aufmerksam zuhöre und lerne – beides Zustände, die mit der Sonnenenergie (Pingala Nadi) und dem rechten Nasenloch verbunden seien. Er lehrte mich, dass es ein Zeichen von Gesundheit sei, wenn keine Seite dauerhaft dominiert, sondern es alle paar Stunden einen harmonischen Wechsel zwischen den Nasenlöchern gibt. Dies, so Iyengar, sei der Kern der Balance, die wir durch die Praxis der Wechselatmung erreichen wollen.

Damals hielt ich diese Erklärungen für eine weitere mythologische Darstellung der Yogapraxis. Doch als ich mich in die wissenschaftliche Literatur einarbeitete, lernte ich, dass dieser sogenannte “Nasale Zyklus” ein reales physiologisches Phänomen ist: Untersuchungen von Hasegawa und Kern zeigten schon 1977, dass sich die Nasenlöcher tatsächlich in einem Rhythmus von etwa 4 bis 6 Stunden abwechselnd verengen und erweitern. Bei diesem wechselseitigen An- und Abschwellen der Nasenschleimhaut ändert sich der Luftwiderstand in den Nasenlöchern, was den Luftstrom beeinflusst.

2016 untersuchten Wissenschaftler um Roni Kahana-Zweig den Nasenzyklus näher: Er ist demnach während des Schlafs länger (durchschnittlich 4,5 Stunden pro Seite) als im Wachzustand (durchschnittlich 2 Stunden). Langsamere Atmung ist mit einer stärkeren Ausprägung des Nasenzyklus verbunden. Zudem wird er durch die Körperhaltung beeinflusst: Ist eine Körperhälfte aktiver, wechselt die Dominanz des Nasenlochs tendenziell zur gegenüberliegenden Seite.

Schon 1997 hatten die Forscher Mirza, Kroger und Doty noch etwas sehr Spannendes entdeckt: Der Zyklus verändert sich offenbar im Lauf des Lebens. Ältere Menschen erleben eine weniger regelmäßige Wechselaktivität der Nasenlöcher. All diese modernen Forschungen bestätigen also, was mich Iyengar aus der Tradition des Hatha-Yoga gelehrt hatte: Je gesünder und jünger wir sind, desto regelmäßiger und ausgewogener ist unser nasaler Atemzyklus. Ist es nicht faszinierend zu sehen, wie tief die alten Yogis diese Vorgänge ohne jeglichen modernen Messgeräte, rein durch Beobachtung verstanden haben?

Die Spur der Yoga Tradition

Schon das im 11. Jahrhundert entstandene Dattatreya Yoga Shastra enthält detaillierte Anweisungen zur Wechselatmung. So empfiehlt Dattatreya, sie viermal täglich zu praktizieren: morgens, mittags, abends und um Mitternacht. In jeder dieser Sitzungen sollten 20 Atemzüge samt Kumbhaka durchlaufen werden. Das entspricht etwa 20 Minuten Praxis pro Sitzung, insgesamt 80 Minuten am Tag. Im 14. Jahrhundert rät die Hatha Yoga Pradipika zu einer noch intensiveren Praxis: Viermal täglich 80 Atemzyklen, das sind über fünf Stunden. Das verdeutlicht, wie erfahren die Übenden mit der Technik waren und welchen Stellenwert sie ihr beimaßen.

Nasaler Zyklus und Hirnaktivität

Aber das ist noch nicht alles: In der Hatha-Yogatradition wird wie gesagt davon ausgegangen, dass die Wechselatmung die Energien von Ida und Pingala ausgleicht. In moderner Sprache würden wir sagen: Sie harmonisiert das Nervensystem. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass auch diese Behauptung von der heutigen Wissenschaft bestätigt wird: Eine Studie von Shannahoff-Khalsa und anderen zeigte 1991, dass die einseitige Atmung durch ein Nasenloch die Aktivität in der gegenüberliegenden Gehirnhälfte erhöht.

Im Jahr 2016 fassten Price und Eccles mehrere Studien zu diesem Thema zusammen. Auch ihre Ergebnisse sind eindeutig: Das Atmen durch das rechte Nasenloch (nach yogischer Vorstellung mit Pingala und Sonnenenergie verbunden) aktiviert die linke Gehirnhälfte, die auch nach modernem Verständnis für analytisches, rationales Denken und logische Prozesse verantwortlich ist. Umgekehrt stimuliert das Atmen durch das linke Nasenloch (im Hatha-Yoga mit Ida und Mondenergie assoziiert) die rechte Gehirnhälfte, in der kreative und emotionale Prozesse gesteuert werden.

Eine aktuelle Untersuchung von neuseeländischen Forschern um Imran Khan Niazi beschäftigte sich 2022 explizit mit der einseitigen Nasenatmung im Yoga und ihrem Einfluss auf die Gehirnaktivität. Die Studie ergab, dass das Atmen durch das dominante Nasenloch zu einer erhöhten Aktivität in spezifischen Gehirnregionen führte, während das Atmen durch das nicht-dominante Nasenloch eine ausgleichende, beidseitige Wirkung auf die Gehirnaktivität hatte. Das bedeutet, dass die Wechselatmung tatsächlich gezielt zur Regulierung von Entspannung und Wachsamkeit genutzt werden kann.

Tradition und Wissenschaft zur Wechselatmung

Die wissenschaftlichen Studien unserer Zeit bestätigen also, was die Yogis schon lange wussten: Die Wechselatmung wirkt tiefgreifend auf das Nervensystem und das Gehirn. Die intensiven Praktiken, die in den klassischen Texten detailliert beschrieben werden, verdeutlichen nicht nur, wie erfahren die Yogis damals in der Anwendung der Wechselatmung waren. Sie zeigen auch, dass ihre Praxis nicht nur von mythologischen Konzepten geprägt war, sondern auf sehr präzisen Beobachtungen der Physiologie und einem tiefen Verständnis der subtilen Wirkungen beruhte. Auch uns modernen Yogi*nis bietet die Wechselatmung eine effektive Methode, um das Wohlbefinden zu fördern und gezielt den mentalen Zustand zu beeinflussen – sei es zur Entspannung oder zur Aktivierung des Geistes. Ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie die alte Weisheit des Yoga und moderne wissenschaftliche Erkenntnisse Hand in Hand gehen.

Probiere die Wechselatmung aus:

Dr. Ronald Steiner, Wechselatmung, Pranayama, Yoga

Es gibt verschiedene Varianten der Wechselatmung. In einigen sind Ein- und Ausatmung unterschiedlich lang. In anderen kommen auch Atempausen (Kumbhaka) nach der Ausatmung vor. Auch die Hand- und Armhaltungen variieren. Die hier beschriebene Version beruht auf der klassischen Anleitung im Dattatreya Yoga Shastra.

1.
Richte eine aufrechte, bequeme Sitzhaltung ein. Lege Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand an die Daumenwurzel und verschließe nun mit dem rechten Daumen dein rechtes Nasenloch. Hebe dabei den Ellenbogen so hoch wie möglich. Atme langsam durch das linke Nasenloch ein. Zähle dabei, um die Länge deiner Einatmung zu messen.

2.
Verschließe nun mit dem Ringfinger der gehobenen Hand zusätzlich dein linkes Nasenloch. Senke dabei Ellenbogen und Kinn. Halte so lang die Luft an, wie es für dich angenehm möglich ist. Zähle erneut, um auch die Länge deines Anhaltens zu messen.

3.
Vor dem Ausatmen hebst du Kinn und Ellenbogen wieder. Öffne dein rechtes Nasenloch, während dein linkes mit dem Ringfinger verschlossen bleibt. Atme langsam durch das rechte Nasenloch aus. Zähle erneut mit, um auch die Länge des Ausatmens zu messen.

4.
Atme nun rechts ein, verschließe wieder beide Nasenlöcher, halte mit gesenktem Kinn und Ellenbogen den Atem an und atme dann links wieder aus. Von hier aus wiederholst du den gesamten Zyklus so lange es dir angenehm ist. Versuche dabei, der Ein- und Ausatmung allmählich die gleiche Länge zu geben. Auch die Länge der Kumbhakas sollte sich untereinander angleichen.


Dr. Ronald Steiner ist Sportmediziner, Wissenschaftler und einer der bekanntesten Ashtanga-Yogis. Mehr Info auf ashtangayoga.info

Im ersten Teil dieser Reihe berichtete Dr. Ronald Steiner über neue Forschungen zur Shitali-Atmung:

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