Wenn es ihnen gut geht, sorgen unsere Gelenke für reibungslose Bewegung und schenken uns Freiheit, doch wehe, sie tun weh. Hier liest du, warum Gelenkgesundheit so wichtig ist, und was wir in unserer Yogapraxis dafür tun können.
Text: Kristin Rübesamen / Titelbild: Nela König
Egal, ob wir uns eine Tasse Tee einschenken, jemanden umarmen oder als Backpacker im Himalaya unterwegs sind: Ohne unsere Gelenke wären wir verloren. Sie verbinden zwei oder mehrere Knochen und ermöglichen Bewegungen zwischen ihnen. Beispiel Knie: ein hochkomplexes Drehscharniergelenk, abgepolstert durch einen elastischen Faserknorpel, den Meniskus, der bei jedem Schritt Stöße abfedert. Oder Beispiel Hüfte: ein Kugelgelenk, in dessen Gelenkpfanne am Becken sich als passgenaues Gegenstück der kugelförmige Gelenkkopf des Oberschenkels schmiegt.
Alle unsere Gelenke sind lebenslang im Einsatz. Und trotzdem nehmen wir sie erst dann zur Kenntnis, wenn sie ihren Dienst nicht mehr im stillen Kämmerchen versehen. Sind die Gelenke erst einmal nicht mehr schön gepolstert, verliert das Knorpelgewebe seine Elastizität und Druckfähigkeit oder reiben die Knochen im Gelenk sogar direkt auf einander, dann beginnt es zu knirschen, zu knacken und zu krachen.
Solche Symptome können durch Überlastung, Unfälle, Krankheiten oder altersbedingt entstehen und sie resultieren oft in schmerzhaften Bewegungseinschränkungen. Wären wir uns darüber bewusst, was unser Bewegungsapparat tagtäglich leistet, wenn er uns klaglos zur U-Bahn, zur Arbeit und ins Yogastudio trägt, würden wir vielleicht pfleglicher mit ihm umgehen. Aber der Reihe nach.
Kleine Gelenkkunde

Im menschlichen Körper gibt es mehr als 300 Gelenke, das größte unter ihnen ist das Knie, das kleinste der sogenannte “Steigbügel”, ein winziger Knochen im Ohr. Man kann sie auf verschiedene Arten einordnen und unterscheiden, mir gefällt das System der Freiheitsgrade (F-Grade) am besten. Darunter versteht man in der Anatomie den “Spielraum” des Gelenks, oder genauer: die Anzahl und Art seiner Bewegungsachsen. Es gibt als Grundtypen Scharniergelenke (1 F-Grad) wie das obere Sprunggelenk, Drehgelenke (1 F-Grad) wie den Ellenbogen, Sattelgelenke (2 F-Grade) wie das Daumengrundgelenk, Eigelenke (2 F-Grade) wie das Handgelenk und Kugelgelenke (3 F-Grade) wie Hüfte und Schulter. Neben diesen “echten” gibt es sogenannte “unechte” Gelenke, zum Beispiel die Knochennaht am Schädel. Sie weisen keinen Gelenkspalt und keine oder kaum Beweglichkeit auf.
Echte Gelenke haben drei typische Bestandteile: Die Gelenkkapsel, eine bindegewebsartige Hülle, die das gesamte Gelenk wie eine Manschette umschließt und stabilisiert. Den Gelenkspalt, ein von Gelenkschmiere gefüllter kleiner Spalt, der die Knochen voneinander trennt. Und Gelenkknorpel, eine Knorpelschicht, die zwischen den Gelenkflächen der beteiligten Knochen wie ein Stoßdämpfer wirkt. Wenn alles glatt läuft, dann sorgt ein beständiger Wechsel von Be- und Entlastung dafür, dass der Knorpel durch die Belastung ausgepresst wird und dabei Abbauprodukte loswird, während er in der Entlastung wieder frische Nährstoffe aufsaugt.
Prominentestes Beispiel für diesen Mechanismus ist die Bandscheibe als knorpelige Verbindung zwischen zwei Wirbeln. Die häufigste Knorpelart aber ist ein sogenannter hyaliner Knorpel. Er wird so gut wie nicht durchblutet und muss von der Gelenkflüssigkeit mit Nährstoffen versorgt werden. Die wird ihrerseits von der Innenschicht der Gelenkkapsel gebildet und liegt wie eine Gleitschicht auf den Gelenkflächen. Vielleicht hast du schon mal davon gehört, dass ein Gelenk punktiert werden muss, weil es geschwollen ist. Das bedeutet, dass zum Beispiel nach einer Operation zu viel Gelenkflüssigkeit produziert wurde.
Gelenke im Yoga

Diese nährenden Prozesse von Be- und Entlastung können wir in einer gesunden Yogapraxis wirksam unterstützen. Gleichzeitig schützen und pflegen wir unsere Gelenke mit der Asanapraxis, indem wir um sie herum für eine gut ausgebildete Muskulatur und geschmeidige Faszien sorgen. Nicht wenige Yogis und Yoginis verletzen sich aber auch beim Üben. Eigentlich kein Wunder angesichts des Riesenbooms, den Yoga in den letzten Jahrzehnten erlebt hat und der eine Flut an unerfahrenen Lehrenden und ungeübten Schüler*innen hervorgebracht hat. Ausgekugelte Gelenke sind in einer Zeit, in der als Feigling gilt, wer Grenzen nicht überschreiten will, anscheinend der Zoll unserer Leistungsgesellschaft.
Erst so langsam findet eine Neubewertung bestimmter Asanas statt und die Einsicht, dass Yoga ohne Bewusstheit nur stumpfe Tortur ist, setzt sich durch. Dennoch: Ich kenne einige Yogis, die ein künstliches Hüftgelenk brauchten. Sie haben ihre anatomischen Grenzen über Jahre ignoriert. Irgendwann war ihre Hüftpfanne so degeneriert, dass ein neues Gelenk her musste. Ihre Praxis hat sich nach der Operation grundlegend geändert und auf eine Weise vertieft, die sie vorher nicht für möglich gehalten hätten. An die Stelle von demonstrativer Flexibilität und Performance – gerne auch “Ego” genannt – sind Ernsthaftigkeit, Intelligenz und Vitalität getreten.
Vielleicht geht es, wenn wir von Gelenkgesundheit sprechen, genau darum: beweglich zu bleiben, nicht nur in den Gelenken, sondern auch im Kopf! Nicht alle, aber viele Yogaübende können sich gut in ihren Körper einfühlen. Mit den Jahren entwickeln sie ein immer feineres Gespür für sich und finden so immer besser heraus, was ihnen wirklich guttut. So wie Menschen im Yoga von der präventiven und kurativen Wirkung der Asanapraxis profitieren, so profitieren auch die Gelenke von der integralen Wirkung auf ihre Gesundheit, auf ihre Resilienz und ja, ihren Freiheitsgrad.
Wir wissen ja aus der Yogaphilosophie, dass der rein intellektuelle und funktionale Blick der Anatomie nicht alles ist: Was wir im Körper wahrnehmen, findet Resonanz im Geist. Wenn wir den Körper bewegen, bewegen wir auch den Geist. Mobilität ist das Schlagwort unserer Zeit. Sie verspricht Freiheit und Ungebundenheit. Aber ohne eine gewisse Verbindlichkeit – anatomisch gesehen heißt das: ein straffes Bindegewebe, das mit seinen Kollagenfasern die Gelenkkapseln umhüllt – keine Freiheit. Grenzenlose Freiheit macht Gelenke instabil.

Kristin Rübesamen hat sich als Yogalehrerin, Autorin und Podcasterin in der Yogaszene und weit darüber hinaus einen Namen gemacht. Ihre Bücher (“Alle sind erleuchtet”, “Das Yoga-ABC” und zuletzt “Außer Atem“) überzeugen mit Ernsthaftigkeit, Tiefe und dem für sie typischen lakonischem Humor.
Mehr zu Kristin und ihrer Arbeit auf yogahikes.de und auf Instagram @yogahikes__
Stay tuned: In unserer Reihe “Gesund üben” zeigt dir Kristin, wie du deine Gelenke gesund hältst.