Vom Schmerz in die Balance: So wirst du unspezifische Rückenschmerzen los

61 Prozent der Deutschen kennen sie: regelmäßig auftretende Rückenschmerzen. In rund 85 Prozent der Fälle steckt dahinter keine akute Verletzung oder Erkrankung: Die Schmerzen sind “unspezifisch”. Was das bedeutet und welche ganzheitlichen yogatherapeutischen Techniken in so einem Fall sinnvoll sind, erfährst du hier.

Text: Gül Ruijter / Titelbild: Nuttawana Jayawan von Getty Images via Canva

Schmerz ist eine der frühesten und häufigsten Erfahrungen, die wir kennen. Auch wenn er unangenehm ist: Grund­sätzlich ist Schmerz lebenswichtig. Er si­gnalisiert uns, dass dem Körper Gefahren drohen, Gewebe beschädigt wurde oder beschädigt werden könnte. Was viele nicht wissen: Das eigentliche Schmerz­empfinden bildet sich nicht an der be­troffenen Stelle, sondern im Gehirn. Hier werden die von den Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) aufgenommenen Reize verarbeitet, bewertet und anschließend über das Nervensystem wieder dorthin geleitet, wo etwas nicht stimmt – und wir unsere Aufmerksamkeit hinlenken sollen.

Bei einem Bandscheibenvorfall, einer Zerrung oder gar einem Tumor ist der Fall klar: Hier ist Gewebe beschädigt. In den meisten Fällen sind Rücken­schmerzen aber nicht die Folge einer Verletzung oder Erkrankung. Sie haben unklare, oft vielschichtige Ursachen. Sol­che “unspezifischen” Rückenschmerzen können mit ungünstigen Haltungs-­ und Bewegungsmustern zusammenhängen, mit Stress, mit Bewegungsmangel, mit außergewöhnlichen psychischen oder körperlichen Belastungen – oder mit ei­ner Mischung aus ganz vielen Faktoren. Dennoch sind sie eine wichtige Warnung des Körpers: Etwas ist aus dem Gleichge­wicht geraten.

Belastung und Belastbarkeit im Ungleichgewicht

Ein alltägliches Beispiel: Du ziehst in eine neue Wohnung. Obwohl du normalerweise 8 Stunden am Tag im Büro sitzt und deine Einkäufe mit dem Rad transportierst, schleppst du an dei­nem Umzugstag 5 Stunden lang schwere Kisten. Abends meldet sich dein Körper: Aua, Rückenschmerzen! Ziemlich wahr­scheinlich hast du dich nicht verletzt, dein Körper möchte dir nur das Signal geben, dass Belastung und Belastbarkeit aus der Balance gekommen sind. Für den weite­ren Verlauf ist jetzt entscheidend, wie du mit dieser Information umgehst: Wie re­agierst du auf den Schmerz?

Szenario 1: Im vergangenen Jahr hattest du einen üb­len Hexenschuss und der Gedanke daran macht dir jetzt Angst. Du fürchtest, wo­chenlang außer Gefecht gesetzt zu wer­den. Deswegen kauerst du dich drei Tage lang auf dem Sofa zusammen, erzählst je­dem von deinen Schmerzen und machst dir Sorgen.

Szenario 2: Du verstehst, dass der Umzug zu viel war und du beantwor­test das Signal deines Körpers, indem du dich in deinem neuen Wohnzimmer auf den Boden legst, die Beine hoch lagerst, ruhig in Bauch und Rücken hinein atmest und dich bei deinem Körper für diese harte Arbeit bedankst. Bevor du schla­fen gehst, entspannst du ihn mit einer sanften Yogapraxis im Vierfüßlerstand, machst ausgleichende Atemübungen und erlaubst ihm, sanft herunterzufahren und zu regenerieren.

Wie reagierst du auf Schmerz?

Vielleicht ahnst du, worauf ich hinaus will: Deine emotionale und mentale Re­aktion und dein daraus folgendes Verhal­ten können Schmerzen verstärken und sogar dazu führen, dass die vom Gehirn gesteuerte Schmerzübertragung und ­-wahrnehmung auch über die eigent­liche Ursache hinaus weiter andauert. Im ungünstigsten Fall werden sie sogar chronisch. Aber Vorsicht: Das bedeutet nicht, dass wir selbst schuld an Schmer­zen sind, dass wir sie uns nur einbilden oder sogar ignorieren sollen. Erinnere dich: Schmerz ist erst mal ein wichti­ges Signal, aber Schmerzübertragung und ­-wahrnehmung sind sehr komplexe Vorgänge, sie werden im Gehirn gesteu­ert und sind höchst individuell – jeder Mensch empfindet Schmerz anders.

Dazu kommt: Schmerzrezeptoren sind so kons­truiert, dass sie sich nicht an die auslösen­den Reize gewöhnen. Im Gegenteil: Mit jeder wiederholten Schmerzempfindung werden sie sogar empfindlicher. Auch die vom Gehirn ausgehende Schmerzübertra­gung über das Rückenmark bis zum Ziel­ort – zum Beispiel zum unteren Rücken – kann sich mit der Zeit verändern. Zu Beginn ist der Weg wie eine kleine Land­straße. Je häufiger ein bestimmtes Signal aber auf diesem Weg gesendet wird, umso durchlässiger wird er. Beides begünstigt die Entstehung chronischer Schmerzen. Wenn diese über Jahre anhalten, fahren die Schmerzsignale irgendwann bild­lich gesprochen auf einer sechsspurigen Autobahn. Sie haben einen so schnellen und effizienten Weg entwickelt, dass es sehr viel mühsamer ist, sie wieder loszuwerden.

Damit es soweit erst gar nicht kommt, ist es wichtig, möglichst früh das be­reits erwähnte Modell von Belastung und Belastbarkeit zu verstehen: Findest du in deinem Alltag nämlich eine gute Balance zwischen dem, was du leisten kannst, und dem, was du leisten musst, dann kannst du das Risiko für Schmer­zen erheblich verringern. Am Beispiel des Umzugs wird das deutlich: Wenn du als Umzugshelferin arbeitest, dann gibt es ziemlich wahrscheinlich kein Ungleich­gewicht – dein System hat sich peu à peu an die Belastung angepasst. Ganz anders, wenn du nur an deinem Umzugstag Kis­ten schleppst: Dein System kennt die Be­lastung nicht und deine Belastbarkeit ist geringer als das, was du deinem Körper zumutest.

Dieses einfache Beispiel kann man auf viele Bewegungs­- und Haltungs­muster, aber auch auf psychische Belas­tungen übertragen: Vieles davon kann dazu führen, dass sich deine Rückenmuskulatur schmerzhaft verspannt. Wenn dein Rücken schmerzt, dann schau dir daher deine Belastung und deine Belastbarkeit näher an. So kannst du an beiden Hebeln ansetzen: Körper und Psyche gezielt kräftiger und belast­barer machen, zugleich aber auch Belastungsgrenzen erkennen und Schmerzen vorbeugen, indem du deine Grenze nicht überschreitest, sondern im Gegenteil für Entspannung sorgst.

Ein ganzheitlicher Blick

Yin Yoga bei Rückenschmerzen
Foto: Christina Taranovici /calatorescu via Canva

Wir wissen also: Muskeln, Gelenke und Bänder spielen zweifellos eine bedeuten­de Rolle beim Thema Rückenschmer­zen, dennoch greift die rein mechani­sche Perspektive zu kurz: Auch Stress und psychische Belastungen sind bei der Entstehung von Schmerzen wichti­ge Faktoren. Will man die Entstehung chronischer Schmerzen vermeiden, oder ihnen begegnen, kommt aber noch mehr dazu. Du erinnerst dich: Das zentrale Nervensystem spielt eine entscheidende Rolle bei der Schmerzwahrnehmung und -­intensität, und die Frage, wie wir mit Schmerzen umgehen, entscheidet darü­ber, wie intensiv und wie dauerhaft wir unter ihnen leiden. Das bio-psycho­-so­ziale Schmerzmodell schaut deswegen ganz genau hin und fragt: Was denken wir über die Schmerzen? Wie fühlen wir uns durch die Schmerzen? Und wie ver­halten wir uns, wenn es schmerzt?

Nicht nur unsere eigenen Gedanken und Ge­fühle, Verhaltensweisen und Einstellung sind dabei relevant, auch unser soziales Umfeld spielt eine Rolle, vor allem Arbeit, Lebensstil, Familie und Freunde. Und ebenso vielschichtig und ganzheitlich, wie der Schmerz entsteht und sich chronifiziert, sollten wir ihm auch begegnen. In der Yogatherapie wird genau das ver­sucht: Sie arbeitet nicht nur mit Asanas und Atem, sondern mit einer Vielzahl von Techniken, die auf ganzheitliche Weise wirken. Angelehnt an das bio­-psycho­-soziale Modell kann sie daher auch chro­nische unspezifische Rückenschmerzen wirksam begleiten.

Weitere Tipps

Schreiben: Beginne eine tägliche Schreibpraxis, um dich mit dir zu selbst verbinden.
Schreibe frei oder beschäftige dich mit diesen Fragen:
• Was würdest du tun, wenn du schmerzfrei wärst?
• Kannst du dich von deinem Schmerz distanzieren?
• Kannst du deine Bedürfnisse er­kennen und ihnen nachgehen?
• Sind Belastung und Belastbarkeit bei dir im Gleichgewicht?
• Sorgst du für genügend Ruhe­zeiten und unverplante Zeit in deinem Leben?

Restoratives Yoga: Restoratives Yoga bietet bei Schmerzen eine ideale Alternative, auch zu Yin Yoga oder anderen ruhigen Yoga­stilen. Konzentriere dich primär auf Gemütlichkeit und Entspannung. Halte jede Asana etwa 5 Minuten lang und konzentriere dich dabei nur auf deine Atmung.

Musik: Unterstützend kann klassi­sche Musik das Nervensystem be­ruhigen.

In dieser Übungsstrecke zeigt dir Gül Ruijter einige Techniken aus der Yogatherapie:


Gül Ruijter ist Physiotherapeutin, Yogalehrerin und Ausbilderin. Ihre Mission ist ein gesundheitsorientiertes Yoga für alle – angepasst, alltagsnah und machbar. Mehr dazu erfährst du auf ihrer Website vondermatteinsleben.de und auf Insta @vondermatteinsleben oder in ihrem Podcast “Von der Matte ins Leben”.

Gül war auch im YogaWorld Podcast zu Gast und hat über chronische Schmerzen gesprochen. Hör doch mal rein:

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