Amma und die wahre Liebe – Ein Interview

Während morgens schon Hunderte Anhänger in der Münchner Halle Zenith auf eine Umarmung von Amma warten, spielt sich eine bayerische Volksmusikgruppe ein. Amma liebt die Kultur der Orte, die sie besucht, sagen ihre Helfer, sie erfreut sich an den Unterschieden der Menschen in aller Welt. Dabei ist die Botschaft des reisenden indischen Gurus eigentlich: Alle sind eins, alle sind Kinder der Liebe. YJ-Autor Michael Zirnstein hatte die Gelegenheit zu einem der seltenen Interviews.

Warum lassen sich Menschen von Ihnen umarmen?

Menschen umarmen sich überall. Aber das hier hat noch eine andere Dimension. Jede Emotion, jede Situation, jeder Ort hat eine bestimmte Schwingung. Ärger hat eine andere Vibration als Lust oder Hass. Die Zuneigung eines Kindes für die Mutter schwingt anders als die Liebe der Mutter für ihr Kind. Wenn Menschen zu mir kommen, fühlen sie die reine Schwingung der Liebe, eine erhebende Schwingung. Das begründet eine perfekte Kommunikation mit ihnen. Es ist ein wirkliches Treffen der Liebe. In der Außenwelt treffen sich nur die Körper.

Mit welchem Verständnis von Liebe begegnen Sie den Menschen?

Mit der Liebe ist es wie bei einer Blume: Ein Wissenschaftler sieht die wissenschaftlichen Aspekte der Blume, ein Poet schreibt ein schönes Gedicht über sie, für einen Gläubigen ist sie eine Opfergabe an Gott, für einen Liebhaber ein Geschenk an die Liebste, für ein Insekt ist sie Nahrung. Jeder kommt mit anderen Absichten und Einstellungen zu mir. Aber weil die meisten meiner Besucher ein grundlegendes Verständnis von Spiritualität haben, hilft ihnen die Umarmung, ihre Seele zu reinigen. Die Liebe hat verschiedene Qualitäten – von ganz eigennützig bis zu selbstlos. Wie bei einer Leiter muss man die Sprossen zur selbstlosen Liebe erklimmen. Zur Zeit stehen wir auf der untersten Sprosse der Leiter. Aber wir sollten auch diese Stufe wertschätzen, denn von ihr aus können wir eine höhere Ebene erreichen.

Anders als viele andere spirituelle Vorbilder stellen Sie die Weiblichkeit in das Zentrum Ihrer Lehre.

Der Darshan ist auch ein Weg, die Mütterlichkeit in den Menschen zu wecken, ihre fürsorglichen Qualitäten. Außerdem gibt es eine kindliche Unschuld in jedem. In der heutigen Welt schlafen sowohl die Mutter als auch das Kind, denn die Menschen sind mehr in ihrem Kopf als im Herzen. Aber das Kind schreit ständig nach Liebe, wir sollten das hören. Das kindliche Verlangen ist tief in uns verwurzelt, in jedem Wesen, sogar bei Tieren können wir es beobachten. Ich habe seit 12 Jahren zwei Hunde, ehemalige Straßenhunde. Die beiden sind mir sehr nahe. Sie kommen beide zur Meditation. Pathi, das Weibchen, schlüpft immer unter meinen Sessel und Thumba, der Rüde, sitzt an meiner Seite. Wenn ich aufhöre, ihn zu streicheln, tastet er mit seiner Pfote nach meinem Arm. Jedes Lebewesen hat diese Sehnsucht nach Liebe.

Viele Menschen, die von Ihnen umarmt werden, weinen, fühlen sich versorgt, verstanden und geliebt. Das klingt so einfach. Aber wie geht es weiter, wenn Sie die Stadt wieder verlassen haben?

Irgendwie sind die Menschen in der Lage, das Feuer der Bewusstheit am Brennen zu halten. Sie fühlen den Funken dieses wertvollen Schatzes in sich. Wenn sie den haben, wollen sie ihn auch erhalten, sie wollen sich daran festhalten. Sie nähren die Flamme durch ihre spirituelle Praxis. Zuvor haben sie draußen nach dem Juwel gesucht. Aber nun spüren sie, dass sie diesen Edelstein in sich selbst verloren haben. Auf einmal haben sie begriffen, wo sie ihn suchen müssen. Dadurch wechseln sie die Perspektive auf ihre Innenwelt. Sogar wenn sie niedere Emotionen plagen wie Ärger oder Eifersucht, erkennen sie: Das bin nicht ich, das wahre Ich ist jenseits dieser Emotionen. Sie erkennen, dass sie keine Kerze sind, die entzündet werden muss. In Wahrheit sind sie selbst eine leuchtende Sonne. Aber noch brauchen sie eben einen Funken, der sie entflammt. Deswegen kommen die Leute nicht nur wegen einer Umarmung zu mir, die ist nur ein Teil davon. Es gibt ein höheres Ziel: die spirituelle Erweckung. Die Leute gehen auch zum Psychologen, um sich beraten zu lassen. Aber dort lassen sie ihren Verstand heilen. Zu mir kommen sie, um ihr Herz zu heilen.

Warum empfehlen Sie den Menschen, zu meditieren?

Das Prinzip der Meditation ist, Energie zu bewahren. Wenn ein normales menschliches Wesen wie ein Strommast ist, kann der Meditierende zu einem Transformator werden. Er kann immense Energie erzeugen. Von einer 1-Watt-Glühbirne kann er zu einer 1000-Watt-Glühbirne werden. Wenn du meditierst, wirst du zu einer Batterie, die ewig mit der Energiequelle verbunden ist. Sie ist niemals leer.

Welche Rolle spielt die Religion dabei? Muss man als Europäer Hindu oder Buddhist werden, um seinen Frieden zu finden?

Wegen mir muss niemand die Religion ändern. Es ist wichtig, dass jeder tief in seinem eigenen Glauben verwurzelt bleibt und bei seinen religiösen Übungen und Ritualen, um spirituell zu wachsen. Es genügt, wenn du weißt, wer du bist. Es ist wie bei einer Banane: Die Religion ist die Schale, der Glaube ist die Frucht. Die Schale schützt die Frucht. Aber iss nicht die Schale. Iss die Frucht.

Als Sie Papst Franziskus vor knapp zwei Jahren getroffen haben, haben Sie ihn auch umarmt?

Wir haben uns an den Händen gehalten. Aber, nein, ich habe ihn nicht wirklich umarmt.

Haben Sie auch bei ihm Liebe und Spiritualität gespürt?

Er ist eine spirituelle Person. Unser Treffen war aber weniger eine spirituelle Sitzung als vielmehr eine Plattform des Austausches: Wie kann man die moderne Sklaverei stoppen und wie können die Weltreligionen dabei helfen? Der Vorsitzende der päpstlichen Akademie der Wissenschaften, Marcelo Sánchez Sorondo, hatte mich eingeladen. Er war in meinem Ashram in Indien und bei mir in Los Angeles, ich hatte lange Gespräche mit ihm. Er ist eine Person mit einer weiten Vision, der Papst natürlich auch. Der Papst hat eine gute Perspektive für die Welt, und er möchte wirklichen Wandel. Forscher von unserer eigenen Universität wurden an die päpstlichen Universitäten eingeladen, ihre Ideen und Programme auszutauschen. Neulich gab es einen Workshop zu unserem Programm „Living Labs“. Wir haben Forscher und Studenten unserer Universitäten in 101 Dörfer in ganz Indien geschickt. Sie leben dort einige Zeit mit den Einwohnern zusammen, um deren Bräuche und Gewohnheiten kennen zu lernen und heraus zu finden, was sie wirklich benötigen. So haben wir zum Beispiel ein drahtloses Alarmsystem zur Vorhersage von Erdrutschen nach schweren Regenfällen entwickelt, die zu den schlimmsten Katastrophen in Indien gehören. Mittlerweile haben wir das System in Kerala und im Himalaja installiert. Die päpstliche Universität will nun auch ihre eigenen Studenten zu den Living Labs schicken.

Für viele Menschen sind Wissenschaft und Spiritualität zwei gegensätzliche Welten, ja, die Wissenschaft sei gerade dazu da, die Spiritualität als Hirngespinst zu entlarven.

Tatsächlich sind materielle Wissenschaft und spirituelle Wissenschaft untrennbar. Der Körper braucht Nahrung, und der Verstand braucht auch Nahrung aus guten Werten. Nur die Mischung von beidem kann wirklich einen Wandel herbeiführen. Schon im alten Indien waren Spiritualität und Wissenschaft nie getrennt, es waren immer zwei Flügel eines Vogels. Einer beschäftigt sich mit der äußeren Existenz in der Welt, der andere mit der internen. Vor Tausenden von Jahren schon waren die Jünger der Gurus die Studenten ihrer Zeit. Sie studierten 12 Jahre alle Aspekte des Lebens, eingeschlossen Technik und spirituelle Wissenschaft. Die erste Universität der Welt war Nalanda in Takshila, wo schon 700 vor Christus 10 000 Studenten aus aller Welt lernten. In den alten indischen Schriften wurde bereits über Kaiserschnitte und Algebra sowie die Zahl Pi geschrieben.

Wie kann dieses Wissen auf die aktuellen Themen unserer Zeit angewandt werden?

Die Bevölkerung wächst Tag für Tag, wir müssen uns auch mit der praktischen Lösung von Problemen beschäftigen; wir brauchen Technik also auch. Ich sehe aber folgendes Problem: Wenn wir nur die reine materielle Wissenschaft verfolgen, schränkt uns das ein und wir werden zu Maschinen. Warum gibt es trotz der rasenden Entwicklung der Wissenschaft so viele psychisch kranke Menschen auf der Welt, warum gibt es immer mehr Selbstmorde, warum sind immer mehr Menschen depressiv? Es gibt so viel Krieg, Terrorismus, Konflikte. Wahres Wissen sollte dazu führen, dass die Menschen glücklich sind. Das passiert gerade nicht. Die Menschen leiden auf der ganzen Welt, sie sind von Flammen umzingelt und wissen nicht, in welche Richtung sie rennen sollen und wie sie ihr Leben retten können. Wir brauchen Zeit, müssen uns bemühen und auf die göttliche Gnade vertrauen, um unsere Vervollständigung zu erreichen. Wissen heißt auch, alles zu umarmen, alles alseins zu sehen, das ist eine kulturelle Notwendigkeit. Einheit ist nicht nur außen, sie sollte zuerst innen passieren. Neues Leben entsteht innen, von außen wird es zerstört.

Sie umarmen Menschen auf der ganzen Welt. Haben Sie keine Angst, sich eine Grippe oder etwas ähnliches einzufangen, wenn Sie so viele Menschen an sich heranlassen?

Ich habe keine Angst, auch nicht vor ansteckenden Krankheiten und Epidemien. Vor nichts, was meinem Körper schaden könnte. Ich habe Leprakranke umarmt. Als vor einigen Jahren die Schweinegrippe in Japan hunderte Menschen tötete, riet mir jeder, ich solle da nicht hingehen. Aber ich habe mein Programm durchgezogen. Die Menschen hatten Schutzmasken auf, ich nicht. Der Körper wird ohnehin eines Tages vergehen. Ich arbeite lieber hart, als zu rosten, ohne etwas für die Gesellschaft zu tun.


Eine moderne indische Heilige
Schon als sie noch Sudhamani Idamannel hieß und im Ort Parayakadavu in Kerala lebte, sorgte sich Amma um Menschen, denen es schlecht ging. Sie nahm die Leidenden mütterlich in den Arm – ein Tabubruch in ihrer Gesellschaft. Doch das „verrückte Mädchen aus dem Fischerdorf“ umarmte weiter, immer mehr Menschen kamen, sich berühren zu lassen, am Körper, aber vor allem an der Seele. Nach verschiedenen spirituellen Erweckungserfahrungen heißt sie Mata Amritanandamayi, ihre Anhänger nennen sie Amma oder Ammachi: Mutter. Heute, mit 63 Jahren, empfängt Amma tausende Gäste in ihrem Ashram Amritapu, sie betreibt in ihrem Hilfswerk Schulen, Kliniken und Universitäten, säubert mit Freiwilligen die Straßen Indiens und drückt seit der nunmehr 30 Jahre andauernden „Embracing The World Tour“ weiterhin Menschen an die Brust. In München waren nach drei Tagen und einer langen Nacht erst in den Morgenstunden alle geherzt – das Bedürfnis nach Liebe ist weltweit gleich groß.

Jedes Lebewesen hat die Sehnsucht, wahre Liebe zu erleben.

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