Anastasia wurde in der Ukraine geboren, sie hat in Kanada gelebt, in Spanien studiert und ist schließlich in Berlin gelandet, wo sie heute lebt und arbeitet. Das letzte Mal als wir uns zum Interview trafen, haben wir über “Yoga als Kunst” gesprochen – heute geht es um den Krieg in der Ukraine.
Interview: Nicoletta Wagensetter / Fotos: JJ Tchapwo
Bereits in unserem Vorgespräch hast du erzählt, dass deine Eltern und dein Bruder in der Ukraine sind. Wo genau sind sie gerade? Weißt du wie es ihnen geht? Hast du Kontakt?
Meine Mutter, mein Halbbruder und mein Stiefvater leben in Kiew. Natürlich stehe ich in sehr engem Kontakt mit ihnen. Bevor der Krieg begann, vor 3-4 Wochen sahen die Prognosen bereits sehr düster aus, aber ich war immer noch ungläubig und hielt einen solchen Krieg im 21. Jahrhundert als unmöglich. Wir haben versucht meine Mutter und ihre Familie dort rauszuholen. Aber sie wollten nicht. Jetzt ist das Reisen natürlich gefährlich und schwierig, hauptsächlich nur mit dem Zug möglich, mit langen Wartezeiten an der Grenze, wo nur Frauen und Kinder nach langem Warten und Bitten ausreisen können. Männer dürfen das Land nicht verlassen, weil von ihnen erwartet wird, dass sie in der Armee kämpfen und zu den Verteidigungsbemühungen beitragen.
Ich bin sehr dankbar, dass meiner Familie noch nichts Schlimmes passiert ist, dass sie in “Sicherheit” ist, als ich das letzte Mal mit ihnen sprach, aber alles ändert sich ständig – es ist Krieg – alles kann jeden Moment passieren.
Wie fühlst du dich, wenn du ihre Berichte aus der Ukraine hörst? Du bist hier sicher in Deutschland – was geht in dir vor?
Es ist einfach schrecklich zu wissen, dass meine Familie direkt von diesem Krieg betroffen ist. Ich habe oft Angst und Sorge, dass ich meine Eltern nie wieder sehen werde, dass meine Kinder ihre ukrainischen Großeltern verlieren. Ich fühle mich frustriert, weil ich von ihnen getrennt bin.
Gleichzeitig weiß ich, dass ich stark bleiben und sie so gut wie möglich unterstützen muss, aus einem Raum der Sicherheit und Fülle heraus. Ich kann meine Familie emotional unterstützen, mit Geld, mit Informationen, und wir können versuchen, eine Lösung zu finden. Ich erlaube mir nicht, mich von der Angst überwältigen oder lähmen zu lassen, denn das wird meiner Familie nicht helfen.
Kannst du eigentlich noch an irgendetwas anderes denken? Wie ist das für dich, wenn du in der Arbeit bist oder Yoga unterrichtest?
Der Krieg ist immer da, egal was ich tue. Es ist, als würde ein Teil von mir versuchen, ein ‘normales Leben’ zu führen, und der andere Teil von mir ist in der Ukraine, in meinen Gedanken und in meinem Herzen. Letztes Wochenende habe ich mit meinem 6-jährigen Sohn gegen den Krieg protestiert, auch am Sonntag, bei dieser riesigen Demonstration, zu der eine halbe Million Berliner gekommen sind. Wir waren nur ein paar Stunden dort, bevor ich nach Hause musste, um eine Geburtstagsfeier für meine 4-jährige Tochter auszurichten. Ich habe mein Bestes getan, um ihr eine Party zu geben und sie glücklich zu machen, aber ich konnte auch eine besondere Verbindung zu meinem Sohn herstellen, indem wir gemeinsam gegen den Krieg in der Ukraine protestierten.
Gibt es auch Momente, die nichts mit dem Thema zu tun haben und welche sind das?
Natürlich gibt es Momente, in denen ich versuche, mit meinen Kindern zu spielen und nicht an all den Hass, die Gewalt und die Zerstörung zu denken. Ich muss studieren. Ich muss arbeiten.
In letzter Zeit habe ich täglich 2-3 Stunden Yoga praktiziert, weil es mir wirklich hilft, abzuschalten und ein wenig zu entspannen. Achtsame Bewegung zusammen mit klassischer Musik, die sehr minimalistisch und entspannend klingt, hat mir viel mehr geholfen, als mich hinzusetzen und in der Stille zu meditieren. Wenn ich mich hinsetze, um zu meditieren, werde ich von dem überwältigt, was ich normalerweise nicht in den Griff bekomme. Ich werde bald viel in Stille und Schweigen sitzen müssen, aber nicht jetzt. Ich kann nicht.
Wir haben gesehen, wie du in den Sozialen Medien gepostet hast – business as usual ist gerade nicht möglich oder?
Meine Güte, ja und nein. In den sozialen Medien mache ich vor allem Yoga-Challenges, an denen die Leute teilnehmen, um motiviert und inspiriert zu werden. Bei Yoga-Challenges muss man fröhlich, freundlich und unterstützend sein. Ich versuche mein Bestes, aber ich bin nicht sicher, ob ich sehr fröhlich sein kann! Andererseits würde die Welt davon profitieren, wenn mehr Menschen Yoga und Meditation praktizieren würden, daher finde ich meine Yoga-Challenges in dieser Hinsicht sinnvoll und erfüllend.
Was hälst du von den Charity Aktionen, die gerade von vielen Yogalehrern und Studios organisiert werden?
Ich finde es sehr bewundernswert, dass Menschen ihre Fürsorge, Unterstützung, Solidarität und Bereitschaft zu helfen zeigen. Ich glaube an die gute Absicht, die hinter solchen Aktivitäten steht, und bin dankbar für alle Bemühungen. Ich glaube jedoch, dass die Menschen im Westen auch die Verantwortung haben, durch politische Aktionen Druck auf ihre Regierungen auszuüben, denn die Politik bestimmt unser Leben, nicht die Wohltätigkeit.
Der Protest gegen den Krieg sollte neben der Unterstützung von Flüchtlingen und vom Konflikt Betroffenen durch Spenden und Wohltätigkeitsorganisationen an erster Stelle stehen. Sich politisch zu engagieren heißt, die Ursache zu bekämpfen. Den von einem politischen Konflikt Betroffenen zu helfen heißt, die Folgen zu behandeln.
Dann bist du also fürs Demonstrieren. Wir haben in der Redaktion viel darüber gesprochen, ob es was bringt, außer, dass wir uns gut fühlen, weil wir ja demonstrieren gehen.
Ich denke, es ist von großer Bedeutung, gegen den Krieg zu protestieren! Die Botschaft an die Regierungen auf der ganzen Welt sollte klar sein: Dieser Krieg ist nicht in Ordnung, wir stehen zur Ukraine, wir unterstützen die Ukraine! Individuelle Spenden und Bemühungen sind großartig, aber es sind die Regierungen, die in jedem geopolitischen Konflikt die Hauptrolle spielen. Es ist von entscheidender Bedeutung, Druck auf die Regierung auszuüben und Gerechtigkeit und/oder ein Eingreifen zu fordern. Einzelne Wohltätigkeitsorganisationen können Putin nicht aufhalten, sie können nur denjenigen helfen, die von Putins Entscheidungen betroffen sind.
Ich gehe mit meinem Sohn, der in die erste Klasse geht, zu den Protesten. Abgesehen davon, dass ich meiner Mutter das Foto von uns bei der Demonstration zeige, glaube ich, dass ich ihm damit einen Dienst erweise, indem ich ihm etwas über politisches Handeln, Solidarität und das Wählen mit dem eigenen Körper beibringe. Welche bessere Embodiment kann man sich vorstellen? Ich praktizieren auch gemeinsam mit meinem Sohn Yoga.
Einerseits steht im Yoga Ahimsa – Gewaltlosigkeit. Doch wenn wir die Menschen in der Ukraine sehen, und wie sie sich verteidigen, dann habe ich dafür großes Mitgefühl. Zu Gewalt zählt nach Patanjali auch, tatenlos und damit billigend zuzusehen, wie an anderen Gewalt ausgeübt wird. Wie siehst du das?
Ahimsa oder Gewaltlosigkeit ist ein Ideal. Wie alle Ideale ist es etwas, wonach wir streben, worauf wir hinarbeiten. Gewaltlosigkeit ist ein großartiges Ideal, auf das man hinarbeiten sollte, aber wenn es einen klaren Akt der Aggression, des Hasses und der Gewalt gibt, kann man es dem ukrainischen Volk nicht verübeln, dass es für sich selbst einsteht und zurückschlägt. Welche andere Möglichkeit haben sie denn? Wieder ein Teil der Sowjetunion zu werden? Ihre eigene Sprache nicht sprechen zu können, ihre eigenen kulturellen Traditionen nicht ausüben zu dürfen, keine eigene Souveränität und Entscheidungsfreiheit zu haben?
Gewaltlosigkeit ist also ein Ideal, das man im Luxus von Frieden und Wohlstand praktizieren kann. Gegen Frieden und Wohlstand ist nichts einzuwenden, aber es ist etwas falsch, wenn man erwartet, dass diejenigen, die angegriffen und verstoßen wurden, sich nicht schützen.
Du postest in den Sozialen Medien, gehst zu Protesten, unterstützt Flüchtlingsnetzwerke und versorgst Freunde, die helfen wollen, mit wichtigen Informationen. Was können wir tun, um euch zu unterstützen?
Ich würde das folgendermaßen zusammenfassen:
- Politische Aktionen: protestieren, demonstrieren, Petitionen unterschreiben
- Humanitäre Aktionen: spenden, Wohltätigkeitsveranstaltungen durchführen, Flüchtlinge aufnehmen
- Individuelle Aktionen: Sprecht mit den Ukrainern, die ihr kennt und fragt, was sie oder ihre Angehörigen brauchen
Und diese Organisationen sind wirklich unterstützenswert:
razomforukraine.org -> ist eine ukrainische Organisation. Sie bietet eine Vielzahl von Projekten an, die von den Ukrainern für die Ukrainer durchgeführt werden.
supportukrainenow.org -> ist eine ukrainische Organisation und eine der wichtigsten Anlaufstellen für Menschen vor Ort.
voices.org.ua -> ist eine ukrainische Organisation, die Kindern, die durch den Konflikt traumatisiert wurden, psychologische Unterstützung anbietet.
savethechildren.org -> wendet sich an Kinder und ihre Familien und bietet ihnen die Unterstützung, die sie brauchen.
my.care.org -> unterstützt in der Ukraine vor allem Mädchen, Frauen und ihre Familien.
redcross.org.ua -> bietet medizinische Hilfe für die Opfer der Angriffe.
Anastasia ist Yogalehrerin in Berlin und Mutter von zwei Kindern. Mehr Infos zu Anastasia findest du auf anasheyoga.com oder auf Instagram @anasheyoga für weitere Updates.
Fotos: JJ Tchapwo