Grenzen erkennen und akzeptieren
„Achtsamkeit“ – ein inzwischen überstrapazierter Begriff? Wir sprachen mit einem, der es wissen muss: Jan Thorsten Esswein ist Achtsamkeitstrainer und hat zwei Bücher zu diesem Thema geschrieben.
YOGA JOURNAL: Jan, was bedeutet Achtsamkeit für dich?
JAN THORSTEN ESSWEIN: Achtsamkeit bedeutet, dass du voll und ganz bei dem bist, was du gerade tust oder erlebst. Es bedeutet, mit dir selbst in Kontakt zu sein. Wenn du achtsam bist, trittst du innerlich einen kleinen Schritt zurück, um das, was gerade in dir und in der Situation abläuft, mit Abstand zu betrachten. Diese Perspektive hilft dir, deine eigenen Denk- und Verhaltensmuster, deine Bedürfnisse, die Signale deines Körpers sowie die Erfordernisse der Situation klarer zu erkennen. Die Distanz gibt dir einen zusätzlichen Handlungsspielraum. Das reduziert Stress und lässt mehr Ruhe und Gelassenheit entstehen. Das vielleicht wichtigste an der Achtsamkeit ist, dass man durch sie die kleinen Momente des Lebens wirklich genießen kann.
Dein neues Buch trägt den Titel „Achtsame Yogaübungen“. Ist nicht jede Form von Yoga achtsam?
Achtsam Yoga zu üben, bedeutet für mich zum einen, die Rückmeldungen des eigenen Körpers sehr genau wahrzunehmen, die Grenzen seiner Belastbarkeit zu spüren und zu akzeptieren. Zum anderen beinhaltet es auch, auf Details in der Bewegung zu achten und dabei anatomisch korrekt zu üben. Nur dann entlastest du deine Wirbelsäule und Gelenke optimal und nur dann kann die Übung ihre positiven Wirkungen voll entfalten. Als Physiotherapeut weiß ich ganz genau, was bei den Asanas im Körper geschieht. Und weil ich mich vor vielen Jahren zu Beginn meiner Yogapraxis aus Unachtsamkeit mehrmals verletzte, wurde mir klar, wie wichtig es ist, sorgsam und mitfühlend mit sich umzugehen. Deshalb ist es mir ein persönliches Anliegen, Menschen zu einem achtsamen Umgang mit sich zu ermutigen.
Deine Arbeit basiert auf Stressbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR, Mindfulness Based Stress Reduction) nach Prof. Jon Kabat-Zinn. Was hat es mit dieser Methode auf sich?
MBSR – ich benutze übrigens den Begriff „Achtsamkeitstraining“ – ist eine hochwirksame und wissenschaftlich belegte Methode. Sie wird klassisch in Form eines achtwöchigen Kurses unterrichtet. Die Gruppe von ca. 15 Teilnehmern trifft sich einmal wöchentlich für zweieinhalb Stunden und verbringt außerdem einen ganzen Übungstag zusammen. Die Achtsamkeit ist wie ein Muskel. Indem die Teilnehmer das Gelernte täglich zu hause üben und im Alltag anwenden, werden ihre Achtsamkeitsmuskeln immer kräftiger. Wer sich auf das Training einlässt, lernt mit Stress und starken Emotionen besser umzugehen, wird ruhiger und gelassener. Auch psychosomatische Beschwerden und depressive Verstimmungen lassen sich mit der Methode in den Griff bekommen. Die Übungszeit hilft, Achtsamkeit und ihre positiven Wirkungen nachhaltig im eigenen Leben zu verankern.
Du bietest unter anderem Seminare für Führungskräfte an, die mit deiner Hilfe ein Verständnis für Achtsamkeit entwickeln und dadurch weniger Fehler machen sollen.
Ja. Denn viele Menschen, darunter Führungskräfte, reagieren auf die tägliche Informationsüberflutung und den Leistungsdruck im Job, indem sie Multitasken, also zwischen verschiedenen Aufgaben hin- und herspringen. Wer oft Multitasking betreibt, schwächt seinen Achtsamkeitsmuskel und macht mehr Fehler. Ich rate daher zum Unitasking: richte deine Aufmerksamkeit für eine gewisse Zeit nur auf eine einzige Tätigkeit. Außerdem versetzt dich die Achtsamkeit in einen wachen und gleichzeitig entspannten Zustand, sozusagen in eine sprungbereite Gelassenheit. Dadurch behältst du einerseits den optimalen Überblick über die Situation, andererseits kannst du sofort handeln, wenn es nötig wird.
2006 hast du ein halbes Jahr schweigend in einem nepalesischen Meditationszentrum verbracht. Was hast du in dieser Zeit über dich gelernt?
Unglaublich viel, die Erfahrungen könnten alleine ein ganzes Buch füllen. Unter anderem ist mir klar geworden, was meine wichtigste Lebensaufgabe ist: Menschen zu zeigen, wie sie die heilsame und zutiefst positive Kraft der Achtsamkeit für ihr Leben nutzen können.
Was können wir über die im Buch vorgestellten Übungen hinaus tun, um im Alltag etwas achtsamer zu werden?
Eine gute und einfache Alltagsübung ist das Achtsam Essen: alle Geräte wie Fernseher oder PC sollten aus sein und alle Sinne beim Essen benutzt werden. Lege beim Kauen das Besteck aus der Hand und konzentriere dich nur darauf und auf den Geschmack. Für den Anfang reicht es vollkommen aus, wenn du diese Übung mit nur einem Bissen pro Tag machst.
Jan Thorsten Esswein ist Physiotherapeut, Iyengar-Yogalehrer, Autor und Experte für Achtsamkeit. Durch zahlreiche Aufenthalte in buddhistischen Meditationszentren und Klöstern vertiefte er sein Verständnis der Achtsamkeit und entwickelte besonders wirkungsvolle Körperübungen.