Termindruck, soziale Verpflichtungen, hohe Ziele – wer sich und seinen Körper permanent überfordert, sehnt sich wohl vergeblich nach innerer Ruhe und Gelassenheit. Denn das, was uns davon wohl am deutlichsten abhält, ist Stress. Aber was genau ist das überhaupt? Und wie kommt man raus aus der Stressfalle?
Ach, lieber Tag, hättest du nur 48 Stunden! Dann würde ich in aller Ruhe diesen Artikel fertig schreiben, mich bei dem Freund melden, der schon ewig nichts mehr von mir gehört hat, ein Geburtstagsgeschenk für meine Nichte besorgen, zum Yoga gehen, danach ins Kino und, und, und … Stattdessen werde ich froh sein, wenn mir zumindest Punkt eins gelingt, der Rest muss warten. Stress, lass nach! Sie kennen dieses Gefühl vermutlich. Obwohl uns heutzutage Maschinen allerhand Arbeit abnehmen, wir innerhalb weniger Stunden den Kontinent wechseln können und die wenigsten von uns existenziellen Bedrohungen ausgesetzt sind, scheint uns das Leben mehr und mehr über den Kopf zu wachsen, scheinen wir manchmal von den simpelsten Alltagsanforderungen überfordert zu sein und fühlen uns oft wie im Hamsterrad. Generation Burnout – was passiert da eigentlich mit uns?
Tatsache ist: Stress kann krank machen, psychisch und physisch – und zwar nicht nur dann, wenn wir massive Traumata erleben. Selbst alltägliche Belastungen wie ein Konflikt mit dem Partner oder Ärger im Büro können unser Immunsystem negativ beeinflussen. Lange herrschte die Ansicht, dass lediglich anhaltender Stress zu körperlichen Beeinträchtigungen führt – neuere Studien belegen dies jedoch auch für akute Belastungssituationen. 2005 stellten Forscher der Universität Ohio beispielsweise fest, dass Ehestreitigkeiten (die im Versuch provoziert wurden) zu einer Verzögerung der Wundheilung führten. Auch Kopf- oder Bauchschmerzen, Verdauungsprobleme und Kreislauf-Störungen können bisweilen auf Stress zurückgeführt werden. Wird dieser chronisch, drohen schwerwiegende Erkrankungen wie Herzprobleme oder Depressionen – wobei letztere häufig eine Begleiterscheinung des heutzutage viel diskutierten Burnouts sind, des Ausgebranntseins, das bislang nicht als eigenständige Erkrankung anerkannt ist und doch so viele zu belasten scheint.
Was ist das genau, Stress?
„Ausgelutscht“ sei der Begriff „Stress“, so der renommierte Psychologe und Stress-Coach Louis Lewitan, „breitgetreten wie ein Kaugummi“. Tatsächlich lässt sich das Phänomen nur schwer als Ganzes fassen, die Definitionen bleiben vage. Das Wort „Stress“ geht auf das lateinische Wort „stringere“ zurück, „anspannen“, und wurde in den 1930er-Jahren geprägt vom Biochemiker und Mediziner Hans Selye (1907–1982), der heute als „Vater der Stressforschung“ gilt. In seiner ersten Publikation „A Syndrome Produced by Diverse Nocuous Agents“ (deutsch etwa: „Ein Syndrom, das durch verschiedene schädliche Erreger entsteht“) beschrieb er Stress 1936 als „unspezifische Antwort des Körpers auf eine Anforderung“, also im Prinzip die körperliche Reaktion auf Belastungen von außen. Wie wir vom Yoga wissen, ist Anspannung zunächst einmal nichts Schlechtes! Es kommt auf die Art an: Selye unterschied zwischen dem positiven Eustress (griechisch eu = gut) und dem negativen Disstress (lateinisch dis = schlecht).
Stresskiller Anerkennung
Ersterer ist im Grunde das, was wir auch als „Nervenkitzel“ bezeichnen – der Kick, den wir etwa bei einem Fallschirmsprung, einer Achterbahnfahrt oder einem Auftritt empfinden (das sogenannte Lampenfieber). Belastungen dieser Art sind meist mit (Vor-)Freude verbunden und lassen sich darum in aller Regel gut verarbeiten, sie können die Leistung sogar noch fördern. Auch der Stress, den ich manchmal beim Schreiben dieses oder anderer Artikel empfinde, ist letztlich Eustress, weil ich nach getaner Arbeit eine Befriedigung empfinde, meine Arbeit für sinnvoll halte und bestenfalls Lob dafür bekomme – Faktoren, die bei der Stressbewältigung von entscheidender Wichtigkeit sind. Viel schwerer zu verkraften ist die Verrichtung eintöniger Tätigkeiten, die uns weder herausfordern noch erfüllen noch mit Anerkennung belohnt werden, etwa die Arbeit am Fließband. Wobei natürlich individuell verschieden ist, was als erfüllend angesehen wird und was nicht. Wer zum Beispiel lange arbeitslos war, nun aber von seinem Fabrikarbeiterlohn dem kleinen Sohn endlich mal wieder ein Spielzeug kaufen kann, den kann auch diese vermeintlich anspruchslose Beschäftigung erfüllen.
Dennoch gibt es auffällige Unterschiede im Erleben von positivem Stress bei verschiedenen Berufsbildern. Während nur 16 Prozent der angelernten Arbeiter bejahen, diesen aus dem Job zu kennen, tun dies 45 Prozent der Freiberufler und Selbstständigen, wie 2006 in einer Studie des Institutes für Demoskopie Allensbach ermittelt wurde. Erklären lässt sich das unter anderem damit, dass letztere in der Regel einer Tätigkeit nachgehen, die ihnen sinnvoll erscheint, und dass ein erhöhter Stresspegel bei ihnen normalerweise auf eine gute Auftragslage zurückzuführen ist – was wiederum als Bestätigung des eigenen Könnens gilt und dementsprechend beflügelt. Doch auch negativer Stress hat zunächst einmal positive Funktionen: Er signalisiert, dass etwas „nicht stimmt“, treibt uns an, etwas zu ändern und
Lösungen zu finden. Man ist sich heutzutage weitgehend einig, dass Stress für die Entwicklung der Menschheit eine entscheidende Rolle gespielt hat. Hätten unsere Urahnen nicht gefroren, hätten Sie dann jemals Feuer gemacht? Stress kann sogar Leben retten: Tritt vor Ihnen im Feierabendverkehr jemand unvermittelt auf die Bremse, tun Sie gut daran, es ihm schnellstmöglich gleichzutun, Herzrasen inklusive. Hätten wir keine Angst vor den Konsequenzen, würden wir uns womöglich zu weit über ein Brückengeländer lehnen und hinunterfallen. Oder kleine Kinder über einen längeren Zeitraum unbeaufsichtigt lassen. Der erhöhte Stresspegel sorgt dafür, dass wir Prioritäten setzen, Unwichtiges ausblenden und uns voll auf das konzentrieren können, was wir tun müssen, um unsere momentane Lage zu verbessern. Das gilt auch dann, wenn es nicht um Leben und Tod geht, sondern – ich komme auf das Schreiben dieses Artikels zurück – „nur“ um das Einhalten einer Deadline. So gern ich mich sonst von einem lustigen Schwätzchen mit den Kolleginnen ablenken lasse, so brav sitze ich nun hier und tippe eifrig und konzentriert vor mich hin. Meine Schweißperlen auf der Stirn sehen Sie ja zum Glück nicht.
Einmal Akku laden, bitte!
Apropos Schwitzen und Herzklopfen: Was hat es mit diesen körperlichen Reaktionen überhaupt auf sich, wie kommt es dazu? Vereinfacht ausgedrückt reagiert unser Körper auf eine Bedrohung mit erhöhter Alarm- und Handlungsbereitschaft. Das betrifft Muskulatur, Atmung, Kreislauf sowie unsere Denkleistung und geschieht durch die Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin, Noradrenalin oder Cortisol. „Handle – jetzt!“, sagt unser Körper da. Der auf Aktivität gerichtete Teil des aktiven Nervensystems wird gepusht (Sympathikus heißt der übrigens, hübsch, nicht?), während der auf Ruhe ausgerichtete Parasympathikus, der dafür sorgt, dass wir regelmäßig unseren „Akku“ aufladen, gehemmt wird. Das erhöht unsere Leistungsfähigkeit – allerdings ist diese Reaktion nicht beliebig lange ausdehnbar. Vielleicht haben Sie schon einmal erlebt, dass Sie nach einer längeren Stressphase ausgerechnet im heiß ersehnten Urlaub krank werden. Vermutlich waren Sie schon vorher angeschlagen, der Körper aber hat auf die Anforderungen reagiert und sämtliche Restkräfte mobilisiert. Nun, da alles geschafft war, signalisierte er: „Ruhe bitte!“ Zeit, wieder zu Kräften zu kommen.
Und das sollten Sie ernst nehmen. Wie Sie überhaupt auf sich achten sollen, auf Ihren Körper ebenso wie Ihre Seele. Denn, da sind sich Experten weitgehend einig: Der beste Schutz vor negativem Stress ist immer noch eine gesunde Selbstwahrnehmung und die Anerkennung der eigenen Bedürfnisse – also genau das, was wir im Yoga üben, zumindest wenn wir in der Praxis mehr sehen als ein reines Fitnessprogramm. Doch die Botschaft ist natürlich längst auch im Mainstream angekommen. „Gesundes Selbstbewusstsein: Stresskiller Nr. 1“ heißt zum Beispiel ein Buch der Motivationstrainerin Carmen Maria Poller. Es vermittelt Techniken, die uns helfen sollen herauszufinden, was wir wirklich wollen. Wenn wir uns nämlich darüber klar werden und unser Leben dementsprechend ausrichten, können uns Stressoren (stressauslösende Reize) weitaus weniger anhaben, als wenn wir unsicher sind und uns die Zuversicht fehlt, eine komplizierte Situation selbstständig lösen zu können. „Ein starkes Selbstbewusstsein ist pure Gesundheit“, da ist sich die Autorin sicher. Eine Meinung, die auch ihr Kollege Louis Lewitan teilt. Er ergänzt: „Zur Selbstreflexion gehört auch Neugier sowie Offenheit für Veränderungen. Tauschen Sie sich mit Menschen aus, die Ihnen neue Denkanstöße vermitteln! So wichtig emotionale Stabilität ist, so sehr brauchen wir als Ergänzung dazu auch geistige Flexibilität. Allein schon, um uns auf die immer neuen Anforderungen unserer Zeit einstellen zu können.“
Wenn Sie also das nächste Mal mit einem Kleinkind auf dem Arm und dem Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter gepresst Suppe kochen und sich dabei bekleckern, sehen Sie selbstbewusst über das kleine Malheur hinweg, konzentrieren sie sich darauf, was Sie schon alles geleistet haben und seien Sie stolz auf sich. So wie ich, die ich nun am Ende dieses Textes angekommen bin, den Artikel also in (beinahe) letzter Minute fertig bekommen habe. Gut gemacht, Carmen. Zeit für eine kleine Pause.
CARMEN SCHNITZER hat ein sicheres Indiz, das ihr zeigt, wenn ihre Psyche eine Pause braucht, der ungesunde Stress also überhand genommen hat: Sie fängt dann bei jeder Kleinigkeit an zu weinen. Das kann für andere ganz schön irritierend sein, doch zum Glück zeigt sich der Freundeskreis meist nachsichtig. Was ihr gegen den Seelenblues hilft? Bewegung, Bücher, Badewanne.