Es scheint immer wieder von vorne zu beginnen: Je mehr Fortschritte wir machen, desto stärker scheint das Leben zurückzuschlagen.
Es gibt vielleicht nur wenige Übungswege, in denen man so schnell erste Fortschritte und fast lebensverändernde Erfahrungen machen kann wie im Hatha-Yoga oder in der Meditation. Man bekommt sehr schnell Elan, sein Leben ganz neu in die Hand zu nehmen. Und ist dann oft umso enttäuschter, wenn es auf einmal so scheint, als hätte man überhaupt nichts gelernt, oder gar keine Fortschritte gemacht: Wir streiten uns immer noch mit den Nachbarn oder essen zu viel Schokolade. Und fragen uns, ob es überhaupt noch Sinn macht, weiterzuüben.
Shiva – der gutmütige Herr des Universums
In der indischen Mythologie gibt es die Geschichte von Daksha, einem der Urväter der Menschheit. Er gab seine 27 Töchter zur Heirat an Chandra, den Gott des Mondes. Dieser verbrachte jedoch die meiste Zeit nur mit einer von ihnen und darüber beschwerten sich die anderen 26 bei ihrem Vater. Daksha wurde sehr zornig, und verfluchte Chandra: Er solle an der schrecklichen Krankheit des Schwundes leiden. Jeden Tag würde er etwas mehr abnehmen und schließlich für immer verschwinden. Chandra bekam Angst vor seiner Auslöschung und lief zu Indra, dem König der Götter. Doch selbst der konnte Dakshas Fluch nicht zurücknehmen. Eines riet er ihm jedoch: „Wende dich an Shiva selbst, den gutmütigen Herrn des Universums.“
Chandra suchte Shiva in seiner Meditation auf. Der saß unbewegt, in tiefe Konzentration versunken. Der ängstliche Chandra erklärte seine Geschichte und seine Not. Shiva öffnete seine Augen und sah den zitternden, zu einem Häufchen Elend zusammengeschrumpften Mond. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, nahm er ihn und setzte ihn sich auf seine Stirn, über seine rechte Augenbraue. Langsam begann der Mond wieder zu wachsen. Daksha hatte Chandra seine Kraft entzogen. Shiva hatte sie ihm wiedergegeben. So wie dem Mond geht es auch uns Menschen immer wieder. Wir versuchen alles, um in für alle Mal aus dem Spiel des Leids auszusteigen. Wir üben unsere Asanas, setzen uns zur Meditation aufs Kissen und ernähren uns nur von dem, was weder uns noch anderen schadet. Mit etwas Glück schaffen wir es sogar, uns eine Zeit lang kerngesund zu fühlen. Bis irgendwann
der nächste Schlag von außen kommt. Oder es sind innere Prozesse, die lange darauf gewartet haben, dass man sich ihnen stellen kann. Wir scheinen so oft Spielball zu sein, von Dingen, die wir nicht kontrollieren können. Und dann scheinen alle Bemühungen umsonst gewesen zu sein, weil man offenbar immer wieder von vorne anfangen muss.
Vor- und Rückschritt? Oder der normale Lauf der Dinge?
Vielleicht hilft es da, wenn man sich daran erinnert, dass man – auch wenn es wieder einmal nicht „rund“ läuft – keinen Rückschlag einstecken muss, sondern im ganz normalen Kreislauf der Natur steckt. Selbst Shiva konnte den Fluch Dakshas nicht vollständig von Chandra nehmen. Aber er ist immer wieder bereit, ihm neue Kraft zu spenden. Und wenn die Anstrengungen auf der Matte oder dem Meditationskissen einmal nicht mehr zu helfen scheinen, dann hilft es vielleicht, trotzdem sitzen zu bleiben und davon auszugehen, dass wir immer noch auf Shivas rechter Augenbraue sitzen. Und dass sich unsere Praxis auch immer wieder auszahlen wird.
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