Ihre Welt ist lauter und schillernder als die von anderen, ihr Leben übervoll von Eindrücken und ihre Gedankenwelt sprudelnd – kein Wunder, dass sich Hochsensible oftmals überfordert fühlen. Was es mit diesem Phänomen auf sich hat und inwiefern Yoga Betroffenen helfen kann …
“Jetzt hab doch nicht so Hunger!“ „Musst du immer so frieren?“ „Hör doch mal auf, rot zu werden!“ Absurde Vorwürfe? Sicher. Solche Empfindungen und Reaktionen lassen sich eben schwer steuern, darüber herrscht Einigkeit. Was aber ist mit Sätzen wie diesen: „Nimm dir das nicht so zu Herzen!“ „Jetzt übertreibst du aber!“ „Stell dich nicht so an!“ Die sind uns weitaus geläufiger, nicht wahr? Für die 37-jährige Sarah Ollrog gehören sie seit Kindesbeinen dazu, immer wieder hat sie sie gehört und bekam dadurch das Gefühl, irgendwie „falsch“ zu sein, „nicht gut genug“, zumindest aber „anders“ als die anderen, empfindlicher eben, schneller erschöpft, gereizt und überfordert durch Sinneseindrücke und den Umgang mit anderen Menschen. Zwar hatte sie durchaus Freunde, doch das Gefühl, nicht so richtig dazuzugehören blieb – und hatte unter anderem zur Folge, dass ihre Schulnoten maximal durchschnittlich waren: „Aus lauter Angst, etwas Falsches zu sagen, habe ich mich im Unterricht viel zu wenig beteiligt.“ Sarah ist hochsensibel und gibt als spiritueller Coach und Mentorin ihre Erfahrungen unter anderem an andere Hochsensible weiter, insbesondere an hochsensible Frauen. Sie alle sind womöglich gar nicht mal so „anders“ wie vermutet – Schätzungen zufolge haben etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung eine entsprechende Veranlagung, unter anderem auch die norwegische Prinzessin Märtha Louise, die darüber ein Buch geschrieben hat.
Der Begriff Hochsensibilität ist erst gut zwei Jahrzehnte alt und mittlerweile dennoch in aller Munde. Manche Menschen scheinen sich heutzutage gar damit zu schmücken, ob er sie nun tatsächlich betrifft oder nicht. Auch Sarah erwischte sich nach der Entdeckung ihrer eigenen Hochsensibilität dabei, dass sie neben der Erleichterung darüber, endlich zu wissen, was mit ihr los war, auch ein wenig Stolz empfand: „Da war dieses Gefühl, etwas Besonderes im Sinne von ,wertvoll‘ zu sein. Viele Selbstzweifel aufgrund meines ,Andersseins‘ waren plötzlich still. Mittlerweile denke ich über meine Veranlagung gar nicht mehr groß nach, sie gehört einfach zu mir und ich lebe damit.“
Tatsächlich kann sie Fluch und Segen zugleich sein, klingt aber zunächst mal durchaus nach einer Begabung, auch und besonders für Yogis und Yoginis. Denn gerade im Yoga streben wir doch danach, ein feineres Gespür für seelische, körperliche und sinnliche Empfindungen zu bekommen – unsere eigenen und die unseres Umfeldes. Kann es sein, dass Hochsensible da etwas in die Wiege gelegt wurde, was sich andere erst mühsam erarbeiten müssen? Und wenn ja, ist Yoga für diese Menschen überhaupt sinnvoll oder droht irgendwann der Gefühlskollaps vor lauter Spüren, Spüren, Spüren? Dazu später mehr, zunächst soll einmal beleuchtet werden, was es mit diesem geheimnisvollen „Zu-viel-Fühlen“ überhaupt auf sich hat.
„Sie bekam das Gefühl, ‚falsch‘ zu sein, zumindest aber ‚anders‘ als die anderen.“
Umstrittenes Phänomen
Es war die selbst betroffene US-amerikanische Psychologin Elaine Aron, die gemeinsam mit ihrem Ehemann Arthur in den 1990er-Jahren den Begriff „High Sensitivity“ prägte und eine Skala entwickelte, mit der sich die „Sensory Processing Sensitivity“ (SPS) ermitteln ließ, zu Deutsch etwa die „Sensitivität für sensorische Verarbeitungsprozesse“. Je nachdem, wie Probanden verschiedene Aussagen auf den Grad ihres (Nicht-)Zutreffens bewerteten (zum Beispiel „Stimmungen anderer Menschen beeinflussen mich stark“ oder „Intensive Außenreize wie grelles Licht überwältigen mich“), lagen deren SPS-Werte niedriger oder höher. Menschen mit hohen Werten wiesen dabei bestimmte Gemeinsamkeiten auf, die Aron als Indikatoren für Hochsensibilität betrachtet, die sogenannten DOES (siehe Infokasten auf Seite 75). Ihr Buch „The High Sensitive Person“ (1996) wurde in über 70 Sprachen übersetzt (deutsch „Sind Sie hochsensibel?“) und gilt heute als Standardwerk zum Thema. Zunächst wurden Arons Erkenntnisse in wissenschaftlichen Kreisen zwar eher belächelt – man warf ihr mangelnde Objektivität vor, da ihre Schlussfolgerungen lediglich auf Beobachtungen und Interviews basierten – doch in den kommenden Jahr- zehnten verfeinerte sie ihre Forschung, auch Neurowissenschaftler setzten sich mit der Thematik auseinander und stellten mithilfe der funktionellen Magnetresonanztherapie (fMRT) fest, dass Menschen Reize im Gehirn tatsächlich unterschiedlich verarbeiteten. Nichtsdestotrotz steckt die Erforschung des Phänomens noch immer in den Kinderschuhen, es wird sogar von manchen bestritten, dass es überhaupt existiert. So gilt es zwar als gesichert, dass Menschen unterschiedlich stark empfinden können, doch dass ein besonders geräuschempfindlicher Mensch zugleich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit anfälliger für Licht oder die Emotionen anderer Menschen sei, halten manche Wissenschaftler noch nicht für ausreichend gut belegt. „Die Forschungslage ist äußerst dünn“, urteilt zum Beispiel Jens Asendorpf, Professor für Persönlichkeitpsychologie an der Humboldt-Universität in Berlin. Auch Arons Schätzungen (die eingangs genannten 15 bis 20 Prozent) teilen unter ihren Kollegen nicht alle. Nichtsdestotrotz sind Betroffene wie Sarah dankbar dafür, dass es einen Namen gibt für das, was sie da fühlen.
Eine Freundin hatte sie auf die Thematik aufmerksam gemacht und damit Sarahs Leben eine entscheidende Wendung gegeben: „Endlich fühlte ich mich verstanden, ich merkte, dass ich nicht alleine war mit meiner Art zu fühlen. Dass sie sogar ein Geschenk sein kann, weil ich Dinge wahrnehme, die andere übersehen – natürlich auch wunderschöne.“
Hochsensibilität, das gilt es zu betonen, ist keine Krankheit oder Störung, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal. Mit der Erkenntnis, hochsensibel zu sein, wuchs Sarahs Selbstbewusstsein und damit auch das Bedürfnis, sich um sich selbst zu kümmern. Ein wichtiges Thema dabei: Grenzen zu setzen, es nicht mehr ständig anderen recht machen zu wollen, sondern auf die eigenen Bedürfnisse zu hören. „Das kann bedeuten, dass ich manche Party-Einladungen absage, weil ich spüre, dass ich Zeit allein zu Hause brauche. Nicht immer fällt mir das leicht, da kommen durchaus Gedanken wie: ,Ach komm, es wäre doch schön, dort hinzugehen, warum machst du es nicht einfach?‘ Aber ich weiß, wie wichtig es ist, dass ich mir Ruhepausen gönne. Und seit ich, was das angeht, mit mir selbst mehr im Reinen bin und mich nicht von einem schlechten Gewissen leiten lasse, wird das viel besser akzeptiert, zumindest von engen Freunden.“ Auch beruflflich wollte die ehemalige Redakteurin weniger fremdbestimmt sein und ihr Leben mehr selbst gestalten. Sie machte sich selbstständig, verdient ihr Geld zwar unter anderem weiter mit Schreiben, widmet sich aber mehr und mehr auch ihrer zweiten Leidenschaft, der Spiritualität. In ihren Beratungen und Coachings unterstützt sie Menschen auf ihrem Weg und hilft ihnen, sich energetisch so abzugrenzen und für sich selbst einzustehen, dass sie gestärkt, freudig und dankbar durchs Leben gehen können, mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten inklusive.
Wenn man so will, ist Sarah eine „typische“ Hochsensible – offen und herzlich, aber tendenziell introvertiert mit einem hohen Bedürfnis nach Rückzug. Es gibt aber auch andere Fälle. Am Rande sei hier erwähnt, dass die meisten Menschen „ambivertiert“ sind, also sowohl intro- als auch extrovertierte Anteile haben. (Der Deutlichkeit halber benutzen wir an dieser Stelle aber die klare Zweiteilung.) Allein schon die geschätzte, relativ hohe Anzahl von Betroffenen deutet darauf hin, dass es eine große Bandbreite an Persön- lichkeiten gibt, die als Hochsensible gelten, darunter auch solche, denen man es zunächst kaum anmerkt, weil sie eben extrem kommunikativ sind, oft gute Entertainer und ebensolche Zuhörer. Doch so sehr sie die Interaktion mit anderen lieben und brauchen, so sehr erschöpft sie diese auch. Extrovertierte Hochsensible (Elaine Aron zufolge etwa ein Drittel der Betroffenen) laufen besonders schnell Gefahr, „auszubrennen“, unter anderem weil sie sich ihrer Veranlagung oft selbst nicht bewusst sind und in ihrer Sehnsucht nach Begegnung ihr Bedürfnis nach Ruhe und Erholung übersehen – oder überspielen, nach dem Motto „Da stimmt etwas nicht mit mir, andere Kontaktfreudige kriegen das doch auch alles hin.“ Wichtig ist, dass sie die Balance finden zwischen Austausch und Rückzug, was ihnen häufig noch schwerer fällt als introvertierten Hochsensiblen.
„Droht im Yoga der Gefühlskollaps vor lauter Spüren, Spüren, Spüren?“
Balance und Erdung
Und hier kommt wieder Yoga ins Spiel – das für Betroffene, den eingangs genannten Zweifeln zum Trotz, eine große Hilfe sein kann. Nicht so sehr, um feineres Fühlen zu lernen, wohl aber, um mit eben jener in allen Farben schillernden, intensiven Gefühlswelt zurechtzukommen, sie dankbar anzunehmen und in ruhigere Bahnen zu lenken. Wie Yoga generell helfen kann, die eigene Balance zu finden, dazu finden Sie in dieser Ausgabe ganz verschiedene Tipps und Ansätze. Das Thema betrifft bei weitem nicht nur Hochsensible, nicht umsonst haben wir ihm den Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe gewidmet. Sarah erwähnt im Gespräch noch einen weiteren Begriff: Erdung. „Als Hochsensible grüble ich sehr viel, beschäftige mich viel mit meinem Innenleben und dem von anderen, da ist es wichtig, sich regelmäßig auch wieder mit dem eigenen Körper zu verbinden, ein Bewusstsein für ihn zu entwickeln, eben wieder ,in ihm anzukommen‘.“
Und hier schließt sich auch der Kreis zu dem eingangs erwähnten „Ich bin falsch“-Gefühl, das viele Hochsensible kennen, gerade wenn sie sich ihrer eigenen erhöhten Empfindsamkeit noch nicht bewusst sind: Im Yoga gibt es keine „falschen“ Körper oder „falschen“ Seelen. Grenzen wollen erfahren und ausgetestet werden, auch mal ausgereizt und erweitert, aber niemals überschrit- ten. Denn jeder Mensch in seiner Individualität ist ein einzigartiges Wunder, das es zu erfahren gilt – im Miteinander mit anderen, aber immer wieder auch ganz still für sich selbst. Ob Sie nun hochsensibel sind oder nicht, eins ist gewiss: Sie sind richtig und sie sind genug – so, wie Sie sind.
„Yoga hilft, die intensive Gefühlswelt in ruhigere Bahnen zu lenken.“
Als spiritueller Coach und Mentorin unterstützt SARAH OLLROG Menschen, insbesondere Hochsensible, bei der Selbstfindung und steht ihnen in komplizierten Lebenssituationen beratend zur Seite.
sarah-ollrog.de
Carmen Schnitzer hat einen Hang zur Extrovertiertheit und hätte sich selbst daher nie
als hochsensibel bezeichnet. Dann machten sie unabhängig voneinander zwei Freunde auf
den HSP-Test auf zartbesaitet.net aufmerksam: „Könnte dich betreffen.“ Tatsächlich: 212 von 300 Punkten – Hochsensibilität beginnt bei 163.