“Die Wirklichkeit ist weit mehr, als das, was du gelernt hast.”
Eine Kriegerin, die das Leben liebt: Ana Forrest hatte eine schwere Jugend und doch hat sie sich nie aufgegeben – heute ist sie eine international anerkannte Yogalehrerin. Durch ihren zutiefst kraftvollen und mutigen Heilungsweg, hinaus aus einem Teufelskreis voller Gewalt, Missbrauch und Drogen, inspiriert sie Menschen mit traumatischen Erfahrungen, auch „ihren Shit in Dünger zu verwandeln“. YOGA JOURNAL-Autorin Julia Pritzel wurde in einem Workshop der renommierten Lehrerin mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert und sprach mit ihr über die Möglichkeit, durch Yoga die alten Wunden zu heilen.
YOGA JOURNAL: Ana, du sagtest, dass in den USA jede dritte bis vierte Frau und jeder siebte bis achte Mann bis zum 16. Lebensjahr Opfer sexueller Gewalt wird. Aus Angst, Schmerz und Scham kommt es oft nicht dazu, dass überhaupt irgendjemand davon erfährt. Ich selbst habe das in Zusammenhang mit einem Bekannten meiner Eltern erlebt. Gerade in deinem Workshop ist in mir der Schmerz des missbrauchten kleinen Mädchens wieder hochgekommen. Wie gehst Du damit um – mit all den Emotionen, die im Körper gespeichert sind und die sich beim Yoga lösen können, wenn man tiefer geht? Schickst Du die Leute hinterher zum Therapeuten?
ANA FORREST: Die Emotionen kommen im Yoga auf eine andere Weise hoch als in einem therapeutischen Gespräch. Anschließend ist es aber sicher sehr sinnvoll, mit einem Therapeuten zusammenzuarbeiten. Wie gehst du mit der Geschichte um? Wie spiegelt sich das, was du als traumatisch erlebt hast, heute noch in deinen Entscheidungen wider? Ein Therapeut kann dir helfen, herauszuarbeiten, welche aus dem Trauma entstandenen Glaubenssätze dein Leben noch immer beeinflussen. Du brauchst eine weise Person, die dir hilft, da sicher hindurch zu gehen, damit du nicht alleine in diesen schrecklichen Gefühlen sitzt und dich fragst: „Und jetzt? Wofür habe ich das getan?“ Tatsächlich kannst du jetzt etwas tun und das verändert alles. Hole dir Hilfe! Sprich darüber! Wenn wir es endlich wagen, den Spieß umzudrehen, denken wir oft, wir müssten alles alleine schaffen. Nein! Das ist einer dieser dummen Glaubenssätze. Nutze alle Möglichkeiten: Sprich mit jemandem, der dich mag, nutze die Weisheit deines Therapeuten und erweitere deine Realität über den Schock und das Trauma hinaus. Es gibt natürlich trotzdem noch eine Menge Arbeit für dich alleine, denn du bist die Einzige, die deine Gefühle fühlen und sie aussprechen kann, damit die Menschen um dich herum auf dich eingehen können. Um dich ausdrücken zu können, hilft etwa Brahmari-Pranayama (auch „Hummel-Atmung“, da beim Ausatmen ein Summton erzeigt wird, Anm. d. Red.) mit der Intention, im fünften Chakra die eigene Wahrheit zu sprechen. Das sät die Samen für ein anderes Leben. Du kannst auch bewusst in den Bereich atmen, der den Schmerz festhält. Das kann dein Herz sein. Wenn du eine Vergewaltigung erlebt hast, ist es vielleicht deine Hüfte, deine Vagina, dein Anus – oder es sind deine Schultern, weil du versucht hast, den Täter wegzudrücken. Versuche, das Erlebte noch einmal vollständig zu fühlen, anstatt in einen Schock zu verfallen oder es abzuwehren. Lasse es hochkommen. Es braucht viel Mut, das zu tun. Und während diese Dinge in dir auftauchen, achte darauf, was deine innere Stimme sagt. Oft lügt sie, denn alle Arten von Selbst-Sabotage kommen hoch. Es kann sein, dass du zum Beispiel denkst, dass du deinen Liebsten wegstoßen musst, weil er böse ist. Eigentlich ist er dir einfach nur am nächsten, stimmt’s? Umarme ihn lieber und du zerreisst damit die Ketten. Erzähle jemandem, dem du vertraust, was du erlebt hast. Schreibe es auf, so detailliert wie du nur kannst und verbrenne den Zettel anschließend. Es ist, als ob du daraus eine Zeremonie machen würdest: du bringst es hoch, fühlst es, sprichst es aus und wirst gehört. Das ist wirklich wichtig. Du musst stark genug werden, es auszusprechen und jemanden haben, der dir zuhört und nicht versucht, es dir auszureden. Das Aufgeschriebene zu verbrennen schenkt dir die Möglichkeit, es aus deinem Leben zu werfen. Aber dafür musst du es vorher noch einmal gefühlt haben. Würdest du es weiterhin von dir wegschieben, würdest du die Teile deines Körpers einfrieren, in denen du das Trauma festhältst. Dann wählst du Anspannung statt Lebendigkeit – dadurch fühlst du zwar den Schmerz nicht mehr, aber auch nichts anderes. Das ist keine gute Art zu leben. Jedes Mal, wenn der „Shit“ hochkommt, hast du die Chance, etwas anderes zu tun, als das, was das Trauma von dir verlangt, um dich zu schützen. Und je öfter du das tust, desto schwächer wird seine Macht über dich und die Ketten lösen sich nach und nach. Das ist ein Teil deiner Arbeit. Heute hat sich in der Praxis eine Erinnerung in deinen Zellen gelöst und die Bilder und der Schmerz kommen hoch. Jetzt, da es da ist, untersuche es. Wie beeinflusst dich diese Erfahrung heute noch?
Es fühlt sich manchmal noch immer so an, als ob alle Männer böse wären.
Interessanterweise sitzen in diesem Moment neben Dir, Julia, zu beiden Seiten gute Männer. Auf der einen sitzt dein Ehemann, auf der anderen mein Geliebter. Sie sehen dich jetzt. Du hast die Konditionierung „Alle Männer sind böse“, weil böse Männer dir wehgetan haben. Aber jetzt und hier ist die Wahrheit, dass neben dir zwei gute Männer sind, die gerade gehört haben, was du gesagt hast. Das ist, was wirklich zählt, und Teil der Heilung. Du hast viel Mut gezeigt, diesen Satz vor zwei Männern zu sagen. Sieh sie dir genau an und frage dich: Stimmt das, was ich aus der damaligen Erfahrung gelernt habe, jetzt auch?
Nein!
Das ist kraftvoll. Aus deiner damaligen Wahrheit heraus fühlt es sich vielleicht wahr an, aber tatsächlich hast du hier zwei Menschen, die dir zeigen, dass es eine größere Wahrheit gibt. Es ist wahr, dass dir jemand Böses wehgetan hat. Aber: Nicht alle Männer sind so.
Meine Geschichte ist, dass mich zuerst meine Mutter missbraucht hat, also verband ich Missbrauch zuerst mit Frauen. Aber kurze Zeit später bin ich von Männern vergewaltigt worden. Also habe ich grundsätzlich jeden Menschen gehasst. Und ich habe sehr lange gebraucht, um zu verstehen, dass nicht jede Frau, die mir begegnet, böse ist. Meine Mutter war böse. Es braucht die Sehnsucht nach Heilung, die es möglich macht, dich wieder in den Schmerz zu begeben und ihn zu untersuchen, wie du es gerade gemacht hast. Und dann muss man herausfinden, was wahr ist und was nicht.
Deine Situation ist das perfekte Beispiel: Etwas in dir ist vorhin aufgebrochen und wir haben es besprochen, diese beiden großartigen Männer haben es bezeugt und du konntest ein Stück der alten Geschichte heilen. Aber du musstest den Mut haben, es auszusprechen – keiner von uns kann für dich sprechen. Jedes Mal, wenn alte Verletzungen berührt werden, hast du vermutlich den Gedanken, dass es besser wäre, wenn das alles ganz tief vergraben bliebe. Aber es muss an die Oberfläche kommen, damit du es aus deinem Blut und deiner Seele waschen kannst. Lass es also da sein und prüfe, ob es mit der Realität heute übereinstimmt: Die Wirklichkeit ist weit mehr, als das, was du gelernt hast.
Von Julia Pritzel
Mehr lesen Sie in unserer Ausgabe 05/12!