Vom Freiwerden der Gefühle
„Größte Freude und echter Schmerz“: Die Dreharbeiten zum Spielfilm „Flucht aus Tibet – Wie zwischen Himmel und Erde“ stellten die Schauspielerin Hannah Herzsprung nicht nur vor äußere Herausforderungen. In den Bergwelten Ladakhs und der Schweiz entstand das bewegende Drama der jungen Medizinstudentin Johanna, die eigentlich zum Bergsteigen nach Tibet kommt, aber durch faszinierende Begegnungen mit den Menschen des Landes tiefe Einblicke in ihre – teilweise widersprüchliche – Kultur und Spiritualität erhält.
YOGA JOURNAL: In „Flucht aus Tibet – Wie zwischen Himmel und Erde“ spielen Sie eine junge Frau, die durch extreme äußere Bedingungen eine innere Wandlung erlebt: Aus der Touristin wird eine mitfühlende Aktivistin.
Hannah Herzsprung: Ich würde den Prozess, durch den Johanna geht, mit dem Freisetzen ihrer Gefühle beschreiben. Johanna ist ein sehr aufgeschlossener Mensch, sie ist selbstbewusst und steht für ihre Überzeugung ein. Dass sie sich den Problemen der Tibeter durch ihren Einsatz so bedingungslos hingibt und für Gerechtigkeit kämpft, ist nicht zuletzt auch durch ihre Familiengeschichte begründet: Ihre Mutter reiste als Bergsteigerin viele Male nach Tibet.
Können Sie diese Entwicklung an Extremen auch als Künstlerin nachvollziehen?
Ich hatte gar keine andere Wahl. Schon in Deutschland bin ich an meine Grenzen gekommen, habe wahnsinnig viel Sport gemacht, da mir alle sagten, was für eine physische Belastung insbesondere die Höhe von bis zu 3.500 Metern, auf der wir arbeiteten, darstellt. Die physische Belastung vor Ort setzte dem Ganzen dann die Krone auf: Ich konnte mich tagelang nur minimal bewegen, bis sich mein Organismus auf die Höhe umgestellt hat. Wie bei einem Hochleistungssportler bleibt es bei so einer Anstrengung nicht bei der physischen Belastung. Man gerät in einen Sog, will immer mehr Grenzerfahrungen sammeln, ist niedergeschlagen, wenn es nicht weiter geht, und euphorisiert, wenn man den nächsten Abschnitt erreicht hat. Ich glaube, dass der Körper immer im Einklang mit den Emotionen sein muss, nur dann ist er zu Höchstleistungen in der Lage. Diesen Sog kenne ich vom Spielen meiner Rollen – nur wenn ich so tief in einem Charakter bin, dass es größte Freude oder echten Schmerz auslöst, nur dann habe ich das Gefühl, wirklich mein Bestes zu geben.
Welchen Stellenwert nimmt die Rolle der Johanna in Ihrer bisherigen Filmografie ein? Was waren Ihre ganz speziellen Herausforderungen?
Johanna hat mich beim ersten Lesen des Drehbuchs in ihren Bann gezogen. Mich hat fasziniert, wie furchtlos sie eine Reise in eine ihr völlig unbekannte Welt antritt und diesen Schritt alleine wagt, um eine Veränderung in ihrem Leben zu spüren. Als dann die Geschichte einen Wandel nimmt, sie sich auf einmal inmitten einer menschlichen wie auch politischen Tragödie befindet und sich mit einer solchen Überzeugung für andere stark macht, war ich von der Stärke dieses Charakters beeindruckt. Ich bewundere Menschen, die sich so bedingungslos zurücknehmen, um nicht nur darüber zu reden, dass sich Dinge ändern müssen. Eine solch starke Frauenrolle in einer so ausweglosen Situation zu spielen, die sich dabei nicht aufgibt, waren für mich die spannendsten Facetten in der Rollenerarbeitung.
Welche Balance zwischen der Distanz zu einer Rolle und dem Aufgehen in einer Figur hat sich generell für Sie bewährt?
Ich muss abends nach einem Dreh als Hannah ins Bett gehen können und den Tag reflektieren. Ich glaube nicht, dass es das Spiel oder die Wirkung der Rolle besser macht, wenn man sich komplett in der Rolle verliert. Meine Erfahrung ist, dass eine gesunde Distanz zur Rolle die eigentliche Arbeit ausmacht, sich ständig mit ihr auseinanderzusetzen und es nicht einfach geschehen zu lassen.
Welchen Bezug hatten Sie vor dieser Produktion zum tibetischen Buddhismus, der „Flucht aus Tibet – Wie zwischen Himmel und Erde“ prägt?
Ich bin nicht religiös, zumindest nicht in dem Sinne, einer bestimmten Religion zu folgen. Müsste ich mich aber auf eine festlegen, wäre es sicherlich der Buddhismus, da dieser Glaube für mich am meisten mit Güte und Nächstenliebe zu tun hat. Während unserer Dreharbeiten in Ladakh hat sich dies täglich bestätigt. Die Menschen dort scheinen immer glücklich zu sein, auch wenn sie nach unseren westlichen Maßstäben ein sehr einfaches Leben führen.
Auch der Tod hat in diesem System eine andere Bedeutung als im Westen. Im Film fällt es Johanna schwer, dies zu akzeptieren. Können Sie das verstehen?
Natürlich. Johanna ist in einer Wertegesellschaft aufgewachsen, die dem genauen Gegenteil entspricht. Wir leben im Jetzt und Hier und tun alles dafür, dass es uns heute gut geht. Im Buddhismus bemüht man sich für ein besseres Leben nach dem jetzigen.
Viele Menschen reisen in buddhistische Länder, um Techniken wie Meditation etc. zu lernen und zu üben. Sie empfinden die dortige Kultur „spiritueller“ als die, mit der sie im Westen aufgewachsen sind. Haben Sie in Ladakh ähnliche Erfahrungen gemacht?
Gewissermaßen, ja. Doch für mich sind es nicht die Länder, die eine Spiritualität ausstrahlen, sondern eine Kombination verschiedener Gegebenheiten: Die Menschen, das meist gute Wetter, die Gerüche in der Luft, die Landschaften. Das alles ist natürlich viel befreiender als ein Yoga-Studio in Berlin Mitte. Während der Dreharbeiten in Ladakh waren wir in den Bergen dem Himmel sehr nah, natürlich befreit das die Seele und den Geist. Natürlich fühle ich mich in einem Bergdorf voller unbekannter Gerüche und freundlicher Gesichter animiert, mich einem Glücksgefühl hinzugeben. Es klingt pathetisch, aber ich kann jedem, der eine innere Unruhe verspürt, nur wärmstens empfehlen, diese Reise auf sich zu nehmen. Die Menschen dort leben kein materielles Leben. Alles, was zählt, ist der innere Frieden und jeder, dem man dort begegnet, vermittelt einem diesen Frieden.
Würden Sie sich als spirituellen Menschen bezeichnen?
Das kommt auf die Definition von „Spiritualität“ an. Ich glaube nicht an Geister und Riten, bin aber ein Mensch, der „Schwingungen“ oder wie auch immer man das bezeichnen mag, gern in sich aufnimmt. Ich lasse es gern zu, mich in den Bann einer Landschaft oder von der Offenherzigkeit der Menschen berühren zu lassen. Und wie schon gesagt: Allein durch die Höhe, die Nähe zum Himmel, fühlte sich in Indien alles etwas freier und gelöster an.
Interessieren Sie sich für Yoga oder Meditation? Haben sie es schon einmal ausprobiert?
Ich habe viele Yoga-Studios kennen gelernt, muss aber ehrlich gestehen, dass ich es leider nie wirklich lange geschafft habe, am Ball zu bleiben. Mir sagt die Form der Bewegung und das Bewusstsein dem Körper gegenüber sehr zu – ich werde es sicherlich wieder probieren…
Von Christina Raftery
INFO: Die mit vielen Film- und Fernsehpreisen ausgezeichnete Schauspielerin Hannah Herzsprung überzeugte durch ihr intensives, fokussiertes Spiel unter anderem in Produktionen wie „Vier Minuten“, „Das wahre Leben“, „Der Baader Meinhof Komplex“ , „Der Vorleser“ und „Weissensee“. Ihr jüngster Film „Flucht aus Tibet – Wie zwischen Himmel und Erde“ (Regie: Maria Blumencron) ist seit Dezember 2012 als DVD erhältlich.
Fotocredit: Prokino