Alles, was man tut, erzeugt Karma. Jeder Gedanke, jedes Wort und jede Handlung, die an einer Seele vorüberziehen, hinterlassen dort ihre Bilder. Beim Karma Yoga, einem der vier klassischen Yogawege, übt sich der Yogi darin, selbstlos und nach einem höheren Willen zu handeln und zu dienen. Von anusch lehmann
Der Roh-Diamant meiner Persönlichkeit erhielt bereits durch verschiedene Gesellschaftssysteme seinen Schliff. Während meiner Kindheit in der DDR wurde tief in meinem Inneren der hohe Wert von Arbeit eingebrannt. In meiner Jugend nach der Wende lieferten neue, schillernde Möglichkeiten den Stoff für Zukunftsträume. Der Begriff „Arbeit“ fächerte sich in neue Berufsbilder auf und die Berufswahl sollte unbedingt identitätsstiftend sein. Der so genannten „Selbstverwirklichung“ zielstrebig auf den Fersen folgten mein Abitur, eine Ausbildung, ein Studium und diverse Weiterbildungen. Doch sobald ein Vorhaben erreicht war, ratterte mein forscher Geist auch schon zum nächsten Fernziel mit vermeintlicher Zufriedenheitsgarantie. Nun möchte ich aus diesem Kreislauf aussteigen. Dafür habe ich mir sechs Wochen freigenommen, die ich auf der Fin- ca Argayall verbringe, einem spirituellen Retreat- und Meditationscenter auf der kanarischen Aussteigerinsel La Gomera. Urlaub in der Hängematte? Keineswegs. Da mein Denkapparat ohnehin zur Rastlosigkeit verdammt ist und das Tätigsein gewissermaßen zu meiner Vata-Routine gehört, möchte ich Karma Yoga üben wie die täglichen Asanas. Die Entsagung Ich-hafter Zwecke und ein einfaches Leben sollen Raum schaffen für Erkenntnis und inneres Wachstum.
Arbeiten und Dienen
Aus meiner romantischen Vorstellung vom selbstlosen Dienen in relaxter Umgebung reißt mich der Wecker am ersten Arbeitstag bereits um sieben Uhr. OM steht auf dem Plan, was nicht heißt, dass ich die Morgenmeditation einleite. OM als Abkürzung für Outside-Morning bedeutet für mich, die Plaza der Finca für das Frühstück zu reinigen. Das vollwertige Biobuffet, zum Teil aus dem hauseigenen Garten, belohnt alsgleich und lässt mein Yogiherz höher schlagen. Nach nettem Small Talk am Frühstückstisch geht es direkt weiter mit dem Putzen der Toiletten. Für die kleinen Mülleimer in den Bädern werden biologisch abbaubare Abfalltüten verwendet. Diese weichen Gummibeutel kenne ich aus dem heimischen Biomarkt, wo ich mich schon des Öfteren fragte, wie schnell sich das Material wohl zersetzt. Die Antwort fällt mir beim Entleeren des ersten Toiletten- papier-Eimers direkt vor die Füße. Das braun gefleckte Dilemma ist der schlecht ausgebauten Insel-Kanalisation zu verdanken. Eine Kollegin versucht mich aufzumuntern, indem sie mir die Geschichte von einem großen Sturm erzählt, der den gesamten Garten mit Klopapier und dessen Anhaftungen schmückte. Ich streife mir die Gummihandschuhe über, um mit Abhyasa (Beharrlichkeit) und Vairagya (Leidenschaftslosigkeit) das Klopapier einzusammeln. Vairagya, das Nichtverhaftetsein, als große Tugend des Yogis kann eintreten, wenn man die Identifizierung mit der Rolle, in der man handelt, aufgeben kann. Wenn man also alle an die Situation gekoppelten Gefühle und Gedanken als etwas Vorübergehendes betrachtet, ohne sie mit dem wah- ren Selbst zu verwechseln.
Gerade ist die Gruppe für das Five Elements Dance & Yoga Retreat angekommen – eine tolle Gelegenheit für mich, Menschen auf ihrer spirituellen Reise zu unterstützen, ihnen freudvoll Bett und Bad herzurichten und dem Pfad des Karma Yoga zu folgen. Das größte Opfer, das ich bringe, ist die Entsagung selbstbestimmten Tätigseins: Was wann zu tun ist, sagt mir Chefin Clara. Die ehemalige Oberschwester einer Klinik für psychisch Kranke zeigt kein Verständnis für die Ölflecken auf den Laken der Thaimassage-Gruppe. Clara ist Outsideworkerin, das heißt, sie wohnt nicht in der Gemeinschaft. Sie finanziert ihr Leben mit dem 25-Stunden-Job auf der Finca.
Ich dagegen arbeite für Kost und Logis 33 Stunden wöchentlich und versuche nicht zu rechnen. Schnell entpuppt sich der vermeintliche Halbtags- als gefühlter Ganztagsjob. Ich habe nur anderthalb Tage pro Woche am Stück frei. Die Waschmaschinen laufen nur, wenn es der Generator auch tut und vor den Mahlzeiten muss immer gewischt werden. Derart zerstückelt sind sowohl meine Arbeits- als auch die Freizeit fest mit dem regelmäßigen Blick auf die Uhr sowie einem stets offenen Ohr für Fragen der Finca-Gäste verbunden. In den drei Stunden Siesta-Zeit am Nachmittag aale ich mich auf einem etwas versteckten Felsvorsprung, um dringend nötiges Vitamin D zu tanken.
Die abgelegene Finca-Bucht zwischen Vulkanfelsen und türkisblauem Atlantik entdeckten ursprünglich einmal Sannyasins für sich, Osho-Anhänger, die dem weltlichen Leben entsagen wollten. Mittlerweile zählt der direkt ans Meer grenzende Platz mit seinen hochgewachsenen Gummibäumen, hübschen Gartenhütten und türkisfarbenen Pools trotz beschwerlicher Anreise als Geheimtipp für naturliebende Individualtouristen. Als solcher kam auch ich vor einigen Jahren zum ersten Mal, um meine weiße Tapete gegen den Anblick der Verschmelzung von Meer und Horizont zu tauschen. „Das Yogasutra des Patanjali“ ließ sich mit weitem Blick fabelhaft studieren. Schnell hatte ich den Wunsch, an diesem magischen Ort einmal nicht nur zu Besuch zu sein.
Nun bin ich Teil der 20-köpfigen internationalen Finca-Crew, wasche Wäsche, hänge sie blinzelnd in die Sonne, um sie danach zu falten und wieder in die Zimmer zu bringen, die ich für die anreisenden Gäste herrichte. Langsam stellt sich eine Routine ein, die mir den Arbeitsalltag erleichtert. Doch die überschüssige Energie wandert ins Gehirn. Dort kämpft das kleine Ich mit seinem Ego. Der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung wird lauter.
Erste Zweifel
Das Schrubben der Liegestühle mit Blick aufs Meer erinnert mich an eine Art Strafarbeit – nicht unbedingt nötig, lediglich dienlich um die volle Zahl an Arbeitsstunden zu erreichen. Ständig die entspannten Gäste mit Buch und Hut vor der Linse zu haben, hilft mir nicht gerade weiter. Im Gegenteil: der vergleichende Geist neidet. Irgendwann platzt mein Schädel durch den Druck all der selbstmitleidigen Gedanken in tausend Tränen. Schnell greife ich zur Sonnenbrille: Sie tarnt diesen zutiefst persönlichen Prozess. Natürlich stellt mein Geist die gesamte karma-yogische Unternehmung sofort in Frage: Ist MEIN Bedürfnis nach Freiheit nicht auch das höchste Ziel des Yogis? ICH bin finanziell nicht abhängig von der Arbeit auf der Finca. Warum schmeiße ICH nicht alles hin und nehme mir MEINE Freiheit?
Weil dieses ICH und MEIN Ursache des Elends sind. Weil dies bedeuten würde, selbstsüchtig zu handeln und jeder selbstsüchtige Gedanke uns an etwas bindet und augenblicklich zum Sklaven macht.
Die Bettlektüre von Swami Vivekanda über Karma Yoga besänftigt mich wieder. Doch hinter dem idealisierten yogischen Selbstbild geht meine innere Qual weiter. Wie Fieber vergiftet das Philosophieren über Pflicht und Rechtschaffenheit meine Gedanken am nächsten Tag. Mein Geist lässt sich nur schwer auf Eimer und Lappen fokussieren. Stattdessen rebelliert er mit waghalsigen Assoziationen von Arbeit und Freiheit unter faschistischer Herrschaft. Mutet das Ziel des Karma Yogi, den Eigennutz zu überwinden, demnach nicht auch höchst naiv und gefährlich an? Könnte es nicht auch bedeuten, zum Erfüllungsgehilfen anderer zu werden? Wer tätig ist, ohne etwas dafür zu erwarten, kann immerhin nicht enttäuscht werden. Doch opfert man sich durch unermüdliches Tun für andere nicht auf?
Swami Vivekandanda macht den entscheidenden Unterschied im Pflichtbegriff. Pflicht, wie sie gewöhnlich aufgefasst wird, gehöre nicht zu den Begriffen einer höheren Lebenseinstellung. Stellt sich mir nur die Frage, ob es je einen Konsens über eine höhere Lebenseinstellung geben kann. Existiert auf der Finca eine kollektive Über- einkunft zum Pflichtbegriff? Fühle ich mich tatsächlich als gleichberechtigter Teil von etwas Größerem? In erster Linie ist es doch ein Gästebetrieb?
Die Vision der Crew ist ein alternatives, gleichberechtigtes, naturverbundenes und erfahrungsorientiertes Leben in der Gemeinschaft. Dabei hat jedes Crewmitglied, auch die Besitzer der Finca, offiziell die gleiche Anzahl an Arbeitsstunden. Die Gehälter liegen offen und im wöchentlichen Meeting wird jeder gehört. Es gibt gemeinsame Meditationen und einen regen Austausch beim Kochen. Traumhafte Bedingungen, um sich in der Gemeinschaft selbst zu erkennen. Für ein Einzelkind wie mich, das aus der urbanen Individualgesellschaft kommt, ist es jedoch auch im Paradies nicht immer leicht. Beziehungen brauchen wie überall Zeit, um in die Tiefe zu wachsen. Die schnelle und freundliche In- tegration der oft wechselnden Crewmitglieder ist für die Altansässigen Routine. Einige Neulinge sind dennoch über Nacht wieder abgehauen, erzählt mir die Chefin. Sie spürt, dass ich mich nicht ganz wohl fühle in meinem Job. Aber Abhauen käme für mich nicht in Frage.
Arjuna, der Held aus der Bhagavad Gita, wurde zum Feigling angesichts des mächtigen gegnerischen Heeres. Seine sich selbst vorgetäuschte Liebe verführte ihn, der Pflicht gegen König und Land nicht nachzukommen. Das war der Grund, warum ihn Sri Krishna einen Heuchler nannte: „Du sprichst wie ein Weiser, aber deine Taten verraten dich und zeigen dich als Feigling. Deshalb stehe auf und kämpfe!“ Sich seinem Dharma, dem Gesetz der Seele, nicht zu widersetzen, das ist der zentrale Gedanke der Gita.
Einsicht
Ob nun aus anerzogenem, selbst auferlegtem oder göttlichem Pflichtgefühl heraus, ich arrangiere mich weiterhin und gebe mir Mühe, die störenden Gedanken zu transformieren. Meine spärliche Freizeit nutze ich, um Ausflüge zum angrenzenden Ort Valle Gran Rey und zum Rainbow-Festival am Playa del Trigo zu machen. Neue Aussichten beflügeln meine Sehnsucht und am Ende der dritten Arbeitswoche erkenne ich, dass ich mich übernommen habe. Die Vorstellung, sechs Wochen lang zu putzen und nebenbei Zeit für Selbstreflektion und Erholung zu finden, war einfach utopisch. Die fast vollendete Lektüre von Swami Vivekananda bringt mich zudem an die entscheidende Stelle: „Nichtwiderstreben als das höchste Ideal offenbart die höchste Macht. Solange man aber dieses höchste Ideal nicht erreicht hat, ist es Pflicht und Gebot, sich dem Übel zu widersetzen. Möge der Mensch wirken und kämpfen und sich mit voller Kraft verteidigen. Dann erst wenn er in sich die Kraft zum Widerstand hat, wird Nichtwiderstreben zur Tugend.“
Entsagung vollzieht sich beim Karma-Yogi also langsam und allmählich. Sie führt über Kennenlernen und Freude an den Dingen zur Erfahrung und Erkenntnis des Wesens der Dinge, bis der Geist schließlich aller Dinge ledig und frei werden kann. Ich sehe plötzlich ein, dass konsequente Entsagung großer Geistigkeit und Willenskraft bedarf und dass es noch vieles zu erkunden und begreifen gibt, bevor meine Seele von ihren Sehnsüchten befreit werden kann. Als ich mir erlaube, aus dem selbst auferlegten Gefängnis und Gedankenkarussell auszusteigen, findet sich plötzlich ganz schnell ein für alle Seiten tragbarer Kompromiss. Die restlichen zwei Arbeitswochen teilen sich die Outsiteworkerinnen, die zusätzliche Arbeitsstunden gut gebrauchen können. In der letzten Gartenhütte, die ich für Neuankömmlinge herrichte, wurde Trinkgeld für mich hinterlegt. Nie habe ich mich über Anerkennung in Form von Geld so gefreut, denn ich fühle mich in meinem Handeln bestätigt. An diesem magischen Ort wurde mir klarer als sonst, dass ich selbst die Ursache meiner Verstimmungen und negativen Gedanken bin. Hier wurde ich mit meinen inner- sten Verstrickungen und Fehldeutungen konfrontiert. Auf dem Weg des Short-Term-Karma-Yogis durfte ich erkennen, wie stark ich von Ego, Lust und mit Freiheit verwechselter Unverbindlichkeit getrieben bin. Ich kann durchaus sagen, dass Sehnsucht und Selbstmitleid mir in den sechs Wochen die größten Lehrmeister waren und mir gezeigt haben, dass ich noch lange nicht am Ende meiner Reise des Bewusstseins bin, deren Ziel wahrhafte innere Freiheit ist.
In der Sprache der Guanchen, der Ureinwohner der Kanaren, bedeutet Argayall „Platz des Lichts“. Auf einer 1,4 Hektar großen Farm in einer abgeschiedenen und wilden Bucht leben und arbeiten die rund 25 festen Crewmitglieder. Mehr Infos unter www.argayall.com