Drogen, Kriminalität und Gewalt prägten seine Vergangenheit. Schließlich beging Dieter Gurkasch sogar einen Mord und sass 25 Jahre lang im Knast. In der Mai/Juni-Ausgabe 2010 berichtete YOGA JOURNAL darüber, wie er in der JVA Fuhlsbüttel eine Yogagruppe ins Leben rief. Jetzt ist er wieder frei.
Als unsere Redakteurin Monique Opetz 2010 nach Hamburg fuhr, um mit Dieter Gurkasch über seine Praxis zu sprechen, hatte der Häftling mit Yoga einen Weg zu innerem Frieden gefunden. Heute, mehr als drei Jahre später, trifft YOGA JOURNAL ihn zum Interview unter einem freien Sylter Himmel. Er ist zu einem tief gläubigen Menschen und überzeugtem Yogi geworden. Ein Dialog über die hart erkämpfte Freiheit – und die Erlösung von der Schuld.
YOGA JOURNAL: Wie fühlt es sich an, wenn man nach 25 Jahren – teilweise in Sicherheitsverwahrung und mehr als sieben Jahre in Isolation – das Gefängnis hinter sich lässt und in die Freiheit zurückkehrt?
DIETER GURKASCH: Gut (lacht). Zunächst ist der Schritt in die Freiheit nach so langer Haft natürlich verunsichernd. Es lässt sich kaum anders beschreiben, als dass ich mich wie ein Außerirdischer gefühlt habe. Ich gehörte nicht zu der Gemeinschaft draußen. Vielleicht kennst du das Gefühl, fremd in einer anderen Stadt zu sein: Die Bewohner merken dir das an. Deine Energie ist anders. Der Kick kommt von der Entlassung: Plötzlich bist du frei – die Mauern fallen! Durch diese Euphorie wird die Umwelt mit all ihren Herausforderungen wahrgenommen. Es war ein Teil meines Freiheitsgefühls, Neues zu lernen: skypen, chatten, mailen, twittern – ich hatte von alledem keine Ahnung und kam mir erst einmal unglaublich blöde vor. Aber ich hatte einen roten Faden, der mich zuverlässig durch diese Phase navigiert hat: meine Yogapraxis. Davon ausgehend konnte ich mein neues Dasein in Freiheit aufbauen.
Du hast dich quasi bereits im Gefängnis selbst befreit, so dass du den Weg in die Freiheit „draußen“ angstfrei gehen konntest?
Die Freiheit ist mir regelrecht auf dem Fuße nachgefolgt. Angstgefühle hatte ich nie: Ich war keinen Moment verunsichert in dem, was ich tue. Die spontane, unangekündigte Entlassung war für mich ein klarer Beweis, dass mein Leben von der Liebe geführt wird und ich heute nahezu sorglos und wirklich befreit durchs Leben gehen kann. Zuvor war das ganz anders – ich habe mit Gott und dem ganzen Universum gehadert. Ich sollte ja bereits 2006 in Vollzugslockerung kommen, um 2007 entlassen zu werden. Doch die Justizanstalt sah das anders und ich saß länger, als meine Haftstrafe dauerte. Ich war total verzweifelt, weil ich nicht wusste, ob ich je wieder aus dem Knast komme: Warum wurde ich nochmals diesem Zweifel und der Unsicherheit ausgesetzt? Heute verstehe ich diese Prüfung und bin dankbar dafür: Hätte ich einen geregelten Übergang durchlaufen – mit Freigang, Job und Entlassung auf Bewährung etc. –, wäre ich niemals auf meinen Weg gekommen. Ich hätte einen Job gesucht und wäre ganz konventionell ins Leben zurückgekehrt. So aber bin ich quasi aus dem Knast geschmissen worden: Am 30.11.2011 erhielt ich um 15 Uhr die Nachricht meiner Entlassung. Und um 17 Uhr stand ich mit zehn Müllsäcken voller Kram, der mein Leben bedeutet hatte, vor den Toren von Santa Fu. Diesem Umstand verdanke ich die Möglichkeit, mich voll und ganz auf meine große Aufgabe zu konzentrieren, dass sich immer mehr Menschen dafür begeistern und engagieren, Yoga ins Gefängnis zu bringen.
Du hast im Drogenrausch einen Menschen umgebracht. Kann man von der Last solch einer Schuld je wieder frei werden?
Ja, wenn man allen Wesen, die an einem selbst schuldig geworden sind, vergibt – aus ganzem Herzen. Dann wird auch alle eigene Schuld vergeben. Das ist der Grund, warum Jesus in die Welt gekommen ist: um alle Schuld zu vergeben. Diese Stricke, mit denen wir uns über Schuld – Karma – aneinander binden, müssen wir durchtrennen und durch Vergebung auflösen. Wir sind immer sowohl Opfer als auch Täter, das ist der karmische Weg durchs Leben. Du bist aus dem Knast ausgebrochen – es gab mehrere Fluchtversuche und einmal hat es geklappt. Hätte dich eine gelungene Flucht, die gestohlene Freiheit, das Leben gekostet? Eindeutig ja, denn eine Flucht hätte das potenziert, was ich nach meiner ersten Entlassung gelebt habe: Ich wäre ein Gangster auf der Flucht gewesen. Ein potenziell gewaltbereiter Mensch, der den Kick sucht und den Stress braucht. Bereit, zu töten und getötet zu werden. So ist es ja dann auch tatsächlich fast gekommen: Ich bin auf offener Straße angeschossen worden.
Dann hast du dich bewusst für die andere Seite entschieden.
Ja. Ich habe mich früher – verblendet durch Schmerz – der dunklen Seite der Macht zugewandt. Diese Entscheidung habe ich rückgängig gemacht. Das ist es ja, was mich umtreibt. Ich möchte den Menschen sagen: Ihr könnt das auch – jederzeit! Egal, was ihr getan habt, egal, wer oder wo ihr seid: Ihr könnt euch umentscheiden. Du kannst dich in dieser Sekunde für ein Nein entscheiden, das keinen destruktiven Gedanken mehr Raum gibt. Dann kannst du beginnen, etwas zu verändern. Vielleicht wird die Veränderung nicht in ihrem ganzen Umfang gleich heute kommen. Aber wenn du ernsthaft daran arbeitest, wird sich der Wandel früher oder später vollziehen.
Deine spätere Ehefrau Fee hast du während deiner Gefangenschaft kennengelernt: Was hat euch zusammengeführt und verbunden?
Unser Konsens war, dass wir beide wussten und genau artikulierten, was und wie wir nicht leben wollten. Nachdem ich 1988 aus dem Knast ausgebrochen bin, wurde ich im selben Haus in Altona verhaftet, in dem sie damals wohnte. So bin ich in ihr Blickfeld geraten. Sie fand das alles sehr spannend: Ich war ein Abenteurer. Ein wilder Mann und Rebell, der sich gegen das System auflehnte. Das hat sie, eine junge Frau Anfang zwanzig, beeindruckt. Wir lehnten die Konsumgesellschaft im vollen Umfang ab, wollten keinen der stereotypen Wege durchlaufen. Fee und ich haben damals zueinander gefunden, egal wie viele Mauern dazwischen waren.
Wie konnte eure Beziehung – in der zweiten Etappe – bestehen:sie in Freiheit, du im Knast?
Anfangs war die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft unser Motor und wir setzten auf den gemeinsamen Spaß, als Krücke für den fehlenden Sinn. Die zweite Etappe – die Knaststrecke nach dem Ausbruch und meiner Verletzung – verband uns noch stärker: Fee hat mich angenommen, obwohl plötzlich all meine Stärke weg war. Ich lag mit meiner Schussverletzung in der Isolation und jedem war klar, dass mit mir nichts mehr los war und ich in Zukunft auf andere angewiesen sein würde, um halbwegs leben zu können. Mit dieser Demonstration ihrer Liebe hat sie mich von dem Trugschluss erlöst, dass ich stark sein muss, um geliebt zu werden. Unsere Beziehung erreichte eine neue Ebene in einer parallel verlaufenden spirituellen Entwicklung, die durch Yoga und Meditation initiiert wurde. Yoga hat uns die Kraft für den Kurswechsel gegeben, denn es stärkt die Lebensenergie.
Du hast insgesamt 25 Jahre und 38 Tage in Gefangenschaft verbracht …
Nach fünf Jahren Haft und dem Ausbruch 1988 kam ich für sieben Monate in Isolationshaft. Anschließend habe ich eine Gefangenenrevolte mit angezettelt und durchgezogen, wofür ich nochmals vier Jahre in Isolation kassierte, und bin dann über den offenen Vollzug in die Freiheit entlassen worden. Ich war einige Zeit draußen, stürzte wieder auf Drogen ab. Dann gab es eine Schießerei mit der Polizei – aufgrund dessen bin ich zu zwölf Jahren und einem Bewährungswiderruf von zwei Jahren und drei Monaten mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt worden.
Wie hast du auf das zweite Urteil reagiert?
Ich wäre während der Schießerei beinahe gestorben. Eine Kugel traf mich im Rücken und trat knapp über dem Herzen wieder aus – und ich habe das Gefühl, dass mich dadurch der Hass verlassen hat. Als ich nach dem Krankenhausaufenthalt wieder im Knast landete, hatte sich jedenfalls etwas in mir verändert: Meine Kraft war geschwächt und dadurch wurde ich durchlässiger, konnte mein eigenes Bollwerk nicht mehr aufrechterhalten. Mein Therapeut erklärte mir, dass mein System – wie ein Computer – durch den Sterbeprozess, den ich durchlaufen habe, neu gestartet wurde: ein Reboot sozusagen. Das Gehirn wurde quasi neu verschaltet, alte Muster teilweise gelöscht. Ich war am Boden zerstört, denn mein gesamtes Lebenskonzept war ausgelöscht. Das nun fehlende Muster, diese von Wut gespeiste Hasswelle, nötigte mich zum Umdenken. Ich konnte plötzlich meine große Angst wahrnehmen, die ich mit jenen Mustern überschrieben hatte, und lernte, sie zuzulassen. Und damit setzte die Heilung und der spirituelle Prozess ein – bedingt auch durch Selbstreflektion in der Meditation.
Warum ist es dir wichtig, Yoga in die Gefängnisse zu bringen?
Yoga ist ein therapeutischer Ansatz, der die Menschen da abholt, wo sie sind – es ist die älteste und fundierteste psychotherapeutische Maßnahme, die es gibt. Und Yoga ist eine Technik, die über körperliche Übungen psychologische Energien kanalisiert und zutiefst reinigend wirkt. Zudem verfügt diese Technik über eine mindestens 3000-jährige Erfahrung. Der bundesdeutsche Strafvollzug soll auf Therapie ausgerichtet sein, das ist die oberste Anweisung vom Bundesverfassungsgericht. Was spricht also dafür, dass die Justiz das erfolgreichste, älteste und dazu kostengünstigste Therapieangebot ausschlägt? Ich gebe dem Knast noch zehn Jahre – und dann gibt es in jedem Gefängnis Yoga. Letztendlich haben sie keine Chance, denn die Yogawelle in der Gesellschaft baut sich immer weiter auf und wird auch vor den Gefängnismauern keinen Halt machen. Alle Krankenkassen haben Yoga als Therapieform anerkannt. Das hilft enorm bei der Argumentation. Das Besondere an Yoga ist, dass du ein ungeheures Maß an Kraft für den Prozess der Wandlung erhältst. Das ist der vorrangige Grund, Yoga in die Gefängnisse zu bringen. Denn auch die Gesellschaft wird davon profitieren, wenn wir Gefängnisse in Orte echter Rehabilitation verwandeln, statt weiterhin Lager bestrafender Sühne zu unterhalten. Eine Strafe, die den Menschen nicht verbessert oder ändert, ist nichts als Rache. Wenn 70 Prozent aller ehemaligen Gefangenen wieder straffällig werden, dann bewirkt die Strafe rein gar nichts.
Steht hinter der Freiheit immer der Glaube?
Auf jeden Fall basiert Freiheit immer auf Vertrauen – Vertrauen in das Leben. Um frei zu sein, musst du die Angst loslassen. Und um die Angst zu verlieren, musst du glauben.
Von Barbara Decker