Shakti ist die allen Formen des Lebens innewohnende schöpferische Urkraft. Jene Lebensenergie, die den Fluss erst fließen lässt, die dich atmen lässt, dein Herz zum Schlagen bringt, deine Muskeln formt und deine Neuronen befeuert. Mit diesen vier Übungen von Sally Kempton lernst du die Shakti-Präsenz wahrzunehmen.
Text: Sally Kempton / Titelbild: Content Pixie via Unsplash
Shakti bedeutet Kraft, Macht oder Energie. In der indischen Mythologie wird Shakti grundsätzlich als weiblich beschrieben, häufig ist sie als Devi (Göttin) personifiziert, meist als weibliches Gegenüber zum männlichen Gott Shiva. Auf einer tieferen Ebene aber transzendiert Shakti das Geschlecht. Im metaphysischen Sinn ist sie – in der indischen Tradition ebenso wie im Taoismus, wo Shakti als Qi bezeichnet wird – der Inbegriff jener grundlegenden schöpferischen Dynamik, die das gesamte Universum hervorbringt. Sie wird als die Quelle sowohl der Materie als auch der physikalischen Energie, im Grunde also jeglicher Erscheinung, angesehen. Ihr Tanz ist der Tanz des Kosmos.
Gleiche Kraft für alle
In letzter Zeit wurde die Shakti stark von der weiblichen Spiritualität in Beschlag genommen. Das hatte den unseligen Nebeneffekt, dass männliche Yogis das Gefühl bekamen, in ihnen sei keine Shakti. Dabei ist diese Energie in Männern genauso präsent wie in Frauen. Ganz unabhängig vom Geschlecht wird ein Mensch, der bewusst Yoga übt, in seiner Praxis sehr wahrscheinlich Qualitäten wie Feuereifer, Vitalität, Achtsamkeit, Gefühl und Flow (völliges Aufgehen im Tun) an den Tag legen. Ebenso gut kann sich Shakti aber auch als tiefe Ruhe manifestieren oder als die Wahrnehmung eines inneren Zeugen, der wertfrei das eigene Leben betrachtet. Die Shakti erwacht auf ganz verschiedene Weise: durch Pranayama (Atemarbeit), Chakra-Übungen, Mantras, Meditation oder im Kontakt mit einem Menschen, dessen Shakti schon erweckt ist. Es kann aber auch sein, dass sie mehr oder minder spontan aktiviert wird, als natürlicher Bestandteil im Prozess inneren Wachstums.
4 Übungen zur Wahrnehmung von Shakti
1. Spüre die Energie
Halte die Handflächen in einem Abstand von 5 bis 8 Zentimetern zueinander und spüre die Energie dazwischen. Dann vergrößere den Abstand um einige Zentimeter, halte das Gespür für die verbindende Kraft aber aufrecht. Sobald du die Verbindung verlierst, nähere die Hände einander wieder an und nimm den Kontakt erneut auf.
2. Richte die Aufmerksamkeit auf dein Herz
Atme tief ein und aus und stelle dir vor, dass der Atem durch das Herz hindurchströmt und auf der Körperrückseite wieder austritt. Dann mache dir die subtile Energie hinter dir bewusst. Sie stützt dich wie eine Rückenlehne. Nimm diese energetische Stütze an, als ob du dich daran anlehnen würdest. Spüre, wie die Energie um dich herum fließt und dich von allen Seiten umhüllt. Atme langsam und tief ein und lenke diese Energie an Stellen in deinem Körper, die sich verspannt oder blockiert anfühlen. Erkenne, dass du pure Shakti atmest.
3. Mache dir die Gegend um das untere Ende der Wirbelsäule bewusst
Spüre die Präsenz eines subtilen Energiekanals, der von dieser Basis aus durch die Körpermitte bis zur Krone an der Schädeldecke verläuft. Nutze den Atem, um die Aufmerksamkeit von der Wurzel zum Herz hinauf steigen zu lassen, dann vom Herzen zur Schädeldecke und wieder zurück. Mache dir bewusst, dass es sich um eine sich bündelnde Wahrnehmung von Energie handelt, die sich in diesem inneren Kanal bewegt. Du kannst diese Energie als eine Art Ausdehnung empfinden, als Kribbeln oder als ein feines Gefühl von Elektrizität. Es handelt sich in jedem Fall um Shakti.
4. Richte während der Asana-Praxis die Aufmerksamkeit auf den Fluss des Atems
Lenke den Fokus sanft in die Mitte des Körpers, zu dem subtilen Energiekanal, der vom unteren Ende der Wirbelsäule zum Herzen verläuft. Während der weiteren Übungen wirst du dort vielleicht feine körperliche oder energetische Empfindungen wahrnehmen können, zum Beispiel Schauer, ein Gefühl von Ausdehnung, Hitze, Leichtigkeit oder Schwere, vielleicht sogar den Herzschlag. Auch zum Ende deiner Praxis, bei der Entspannung in Shavasana (Totenstellung), treten diese Empfindungen nicht selten auf, denn die subtile Wahrnehmung fällt leichter, wenn der Körper ruht.
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Sally Kempton schrieb regelmäßig für das amerikanische YOGA JOURNAL, veröffentlichte mehrere Bücher (z.B. “Awakening Shakti”) und unterrichtete weltweit Workshops und Retreats. Mehr Info auf sallykempton.com
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