Spirituelle Entwicklung – nur für Mönche?

Nein, sagt Shri Yogi Hari: Auch und gerade im Familienleben liege der Schlüssel zum inneren Wachstum. Der Begründer von Sampoorna Yoga, der sieben Jahre lang zurückgezogen nur für seine Yogapraxis lebte, spricht im Interview über Spiritualität und die Fülle des Lebens.

YOGA JOURNAL: Guruji, was verstehst du unter „spirituellem Wachstum“?
Shri Yogi Hari: Spirituelles Wachstum ist ein Prozess der Veränderung vom Groben zum Feinen. Meine Definition von Yoga ist „das Gewahrwerden deiner Göttlichkeit.“ Das passiert, wenn der Geist ruhig und friedvoll wird, ohne Gedankenwellen. Jegliche Selbstanstrengung, die du unternimmst, um dich von Faulheit und Trägheit zu befreien und von der Unwissenheit ins Licht des Wissens zu führen, ist Spiritualität.

Siehst du darin ein Streben nach Vollkommenheit?
Ich bin 67 Jahre alt. Seit meiner Kindheit verspürte ich den intuitiven Antrieb, mich zu vervollkommnen. Du bist, was dein tiefstes Verlangen ist, denn deine Gedanken und Handlungen werden in diese Richtung gehen. Warum also nicht nach dem Höchsten verlangen? Welchen Weg hast du in deinem Leben in diese Richtung eingeschlagen? Und wie bist du mit Hindernissen umgegangen? In der Oberstufe war meine größte Herausforderung, die Aufmerksamkeit des schönsten Mädchens zu gewinnen. Sie war der großartigste und moralisch aufrichtigste Mensch, den ich je kannte. Sie wurde meine Inspiration und ich strebte immer danach, ihr ebenbürtig zu sein. Sie, meine spätere Frau, war es, die mir ein kleines Buch mit dem Titel „Yoga und Gesundheit“ schenkte. Als ich es las, wusste ich, dass es die Wahrheit war. Ich sehnte mich nach mehr Wissen und Führung. Swami Vishnudevananda lud mich ein, seiner Organisation beizutreten. Ich war 30 Jahre alt, hatte einen verantwortungsvollen, gut bezahlten Beruf, vier Kinder und meine Schwiegermutter lebte mit uns. Doch all das war kein Hindernis für mich. Sobald ich etwas für mein Wachstum und meine Entwicklung erkenne, sehe ich keine Hindernisse, sondern nur Möglichkeiten. Meine Familie und ich zogen in den Ashram, wo ich sieben Jahre lang vollkommen ins Yoga und die Lehren meines Gurus eintauchte. Ich ließ meinen Geist von nichts anderem ablenken. Yoga wurde zu meinem Leben.

Wie war es für dich und deine Familie, so zu leben?
In der indischen Gesellschaft aufgewachsen, glaubte ich, dass es die Aufgabe des Vaters sei, für die Familie zu sorgen und die der Mutter, sich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern. Gleichzeitig wurde im Ashram, der von einem Swami geleitet wurde, fortwährend gepredigt, dass ein Leben als Mönch der einzige Weg sei, um ein spirituelles Leben zu führen. Das Familienleben komme eher einem „Hundeleben“ gleich und sei der spirituellen Entwicklung nicht förderlich. Zu dieser Zeit war ich voll damit beschäftigt, ein Yogi zu sein. Aber obwohl es mir gewaltig in meiner Entwicklung half, herrschten dort ein Ungleichgewicht und ein Mangel, die ich aufgrund meiner Unwissenheit und Konditionierung nicht sehen konnte. Ich verpasste einen großen Teil des Familienlebens und meine Kinder vermissten die gemeinsame Zeit mit ihrem Vater.

Welche Schlüsse hast du daraus für dich gezogen?
Ich erkannte, dass man gerade als Familienmensch eine große Gelegenheit und Herausforderung für spirituelles Wachstum bekommt. Spirituelles Leben bedeutet, in den Qualitäten der Liebe, des Mitgefühls, der Selbstlosigkeit, Toleranz und Geduld zu wachsen. Ein Familienleben bietet die ideale Chance, diese Qualitäten zu kultivieren – solange man das angemessene Unterscheidungsvermögen und eine Führung hat.

Du lebst mittlerweile mit der zweiten Familie. Gibt es Unterschiede zu deiner ersten Erfahrung?
Wenn du ernsthaft auf der Suche nach Wachstum bist, öffnet Gott dir die Tür, um das zu erleben, was du für deine Entwicklung brauchst. Ich wurde erneut mit der Gelegenheit eines Familienlebens gesegnet. An diesem Leben Gefallen findend, erlebe ich mehr Fülle in meinem Leben. Der Weg führt zum höchsten Ziel der Erleuchtung, Befreiung und Freiheit. Nach meiner Erfahrung sollte sich ein spiritueller Weg in Freudigkeit, Glück und Frieden widerspiegeln.

Wie kombinierst du spirituelles Leben mit dem Familienleben?
Familienleben ist spirituelles Leben. Das ist es, was Sampoorna Yoga lehrt. Jeder Moment deines Lebens kann spirituell sein, wenn du es mit Bewusstheit und richtiger Führung lebst. Sampoorna Yoga fördert den entsprechenden Entwicklungsprozess und bringt Fülle ins menschliche Leben. Es ist ein sensibler, logischer und dynamischer Weg des Lebens.

Wie sieht dies im konkreten Alltag aus?
Du brauchst einen gewissen Plan und Routine. Früh morgens stehst du auf und praktizierst einige Atemübungen, verbunden mit Yogapositionen. Anschließend meditierst und singst du und liest inspirierende Texte wie die Bhagavad Gita. Über den Tag hinweg lebst du ein Leben in Wertschätzung und Dankbarkeit für das, was du hast, und verrichtest deine Aufgaben im Sinne des Karma Yoga, dem selbstlosen Dienen. Dinge wie erhebende Musik, ausgewogene Ernährung, Gesundheit und Zufriedenheit werden dir helfen, deinen Geist in einem positiven Zustand zu halten. Wenn du so lebst, wirst du mit weniger Spannungen und Stress nach Hause kommen, hast Zeit für deine Familie, kannst konzentriert mit deinen Kindern spielen und wirst fähig sein, friedvoll zu schlafen. ✤

Rama Bernhard Dökel ist seit über zehn Jahren Schüler von Shri Yogi Hari und leitet das
Sampoorna Yoga Zentrum in Oldenburg.

 

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