Wer die Wahl hat…

Jnana Yoga ist das „Yoga der Erkenntnis“. Was ist genau zu erkennen – und was bedeutet es für unsere Entscheidungen? Würde sich Krishna im 21. Jahrhundert vegan ernähren?

Philosophie verwirrt manchmal zunächst mehr, als sie uns im Alltag dient. Das scheint beim ersten Lesen der Bhagavad Gita auch nicht anders. Denn nachdem Krishna bereits Karma Yoga und Bhakti Yoga als die jeweils besten Wege zur Selbstverwirklichung bezeichnet hat, beginnt er auch noch Jnana Yoga, den „Weg der Erkenntnis“, als die höchste Disziplin zu preisen:

Ich will dir jetzt dasjenige Wissen vollständig mitteilen, nach dessen Erkenntnis nichts Weiteres mehr zu erkennen übrig ist. (Bhagavad Gita, VII.2.)

Und er spricht zu seinem Schüler, und damit zu allen Lesern:

Ich bin der Ursprung von allem; aus mir entwickelt sich die ganze Schöpfung. (X.8.)

Ich habe mich oft gefragt, was es mir persönlich hilft, dass alles, was ich in meiner Welt erlebe, aus dem Göttlichen heraus kommt. In Zeiten von großen Belastungen fällt es mir leider manchmal schwer mich, daran zu erinnern, dass alles nur ein Konzept des Verstandes ist. Es geht mir wie den meisten Menschen. Wir nehmen die Welt der Erscheinungen sehr persönlich, und vergessen die Wahrheit, die uns eigentlich beruhigen könnte. Eine lange Zeit unseres Lebens haben wir nicht besonders wach verbracht, sondern nur die Oberfläche des kosmischen Spiels betrachtet. Dabei haben wir das Wunderbarste zunächst verpasst, denn:

Ich bin verborgen durch meinen Schleier der Maya, und die irregeführten Menschen der Welt kennen mich nicht, den Anfangslosen, den Ewigen. (VII.25.)

Es gibt demnach etwas, auf das wir uns verlassen können. Eine Kraft, die nicht aufhört. Ein Licht so hell wie tausend Sonnen. Aber wie entfernen wir diesen Schleier, der die ganze Sache so kompliziert macht?

Obwohl alles, was existiert, göttlichen Ursprungs ist, können wir auf der materiellen Ebene immer noch unterschiedliche Qualitäten erkennen. Im Yoga spricht man von den drei Eigenschaften: Sattva – „das reine Seiende“, Rajas – „das leidenschaftlich Bewegte“ und Tamas – „das schwere Dunkle“. Und jetzt wird es kurz paradox. Obwohl wir im Yoga früher oder später den Weg einer nicht-dualen Sicht der Welt beschreiten wollen, obwohl wir keine Unterscheidung in Gut und Böse treffen wollen, hilft es uns zum Zustand der Einheit zu gelangen, wenn wir möglichst oft die unterschiedlichen Qualitäten anerkennen. Je weniger wir uns selbst etwas vormachen und uns mit falsch angewandtem philosophischen Halbwissen einreden: „Es ist eh’ alles Yoga!“, desto leichter wird es langfristig – durch die Kraft der Gewohnheit – gute Entscheidungen für uns zu treffen. Das stärkt unsere Wurzeln auf der Erde und hilft uns, den Himmel zu erreichen.

Yoga ist also zunächst nicht einfach Laissez-faire. Je mehr wir besonnen wählen, wie wir unser Leben gestalten, desto mehr nähern wir uns der Möglichkeit, auch ohne weitere Hilfsmittel in den Zustand der Wonne zu gelangen. Die Bhagavad Gita beschreibt, wie wir vielen Tätigkeiten in unserem Alltag eine Qualität geben können, mit der wir den Grund für unsere Existenz besser verstehen können. Da Krishna nebenbei ein Liebhaber guter Ernährung ist, gibt er sogar auf diesem praktischen Gebiet ein paar Tipps:

Speisen, die Leben, Reinheit, Stärke, Gesundheit, Freude und Heiterkeit steigern, die schmackhaft, wohlriechend, kräftig und angenehm sind, schmecken dem reinen Menschen. (XVII.8.)

Bei den Vorbereitungen zu diesem Text musste ich ein paar Mal über das Thema Nahrung nachdenken. In den alten Kommentaren zur Bhagavad Gita wurden stets mehrere Milchprodukte als besonders sattvig empfohlen. Ich erinnere mich an einen Urlaub im Himalaya, wo wir auch einer fröhlichen Kuh vor der Haustür begegneten. Der möglicherweise zweitausendfünfhundert Jahre alte Text hatte vielleicht ein ähnliches Bild von der Gewinnung von Milch. Bei der heutzutage vorherrschenden Massentierhaltung wäre Krishna aber möglicherweise ein Advokat veganer Ernährung geworden. Wir können uns unsere eigene Auswahl der physischen und seelischen Nahrung, die wir uns gönnen – und der wir uns aussetzen – selber betrachten und unterscheiden, was uns langfristig wirklich stärkt.

Bei all der Weisheit gilt letztendlich immer wieder: Gott hat mit uns keine Eile. Wir bestimmen selbst, wie lange wir manche Illusionen aufrecht erhalten wollen. Jeder auf seine eigene Art und Weise, in seinem eigenen Rhythmus. Denn mit diesem großzügigen und zutiefst entspannenden Satz kommt das achtzehnte und letzte Kapitel der Bhagavad Gita zum Ende:

So ist dir von mir die Weisheit mitgeteilt worden, die geheimer ist, als das Geheimnis selbst. Nachdem Du all dies überlegt hast, handle, wie es dein Wunsch ist. (XVIII.63.)

Wir haben alle schon den ersten Schritt getan. Ein Freund von mir hat es einmal so ausgedrückt: „Diese zwei Quadratmeter Matte haben mein Leben verändert“. Wer einmal auf den Geschmack von Freiheit gekommen ist, beschenkt sich in der Regel immer mehr mit Entscheidungen, die ihm gut tun. Und:

Selbst der, der lediglich den Wunsch hat, Yoga zu lernen, geht über das Wort hinaus …und erreicht, sich bemühend, das höchste Ziel. (VI.44/45.)

Das sind gute Aussichten. Schon die Sehnsucht nach Befreiung hilft uns auf dem Weg der Erkenntnis. Es ist schon ein Schritt in die Freiheit, allein dieses Heft in der Hand zu halten. Noch besser ist es natürlich, sich nach dem Lesen dieser Ausgabe auf die Yogamatte oder aufs Meditationskissen zu begeben. Und dann guten Appetit, was immer Sie anschließend zur Mahlzeit wählen.


RALF STURM leitet mit Katharina Middendorf die Yogalehrer-Ausbildung zum „Teacher of Stillness“. Gemeinsam führen sie eine Praxis für Yogatherapie und Paarberatung in Berlin.

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