Müde, lustlos, überfordert, krank: Manche Kinder zeigen bereits ähnliche Burnout-Symptome wie gestandene Manager-Typen. Kann man mit Yoga an Kitas und Schulen die Kids dabei unterstützen, Entspannung zu lernen? Das YOGA JOURNAL hat wir vier Experten zu dem Thema befragt. Über die Woche verteilt können Sie hier die ausführlichen Interviews lesen. Heute sprechen wir mit Ingrid und Wolfgang Seeman.
Schüler sitzen viel zu viel
YJ: Sie sind beide sowohl Gymnasial- als auch Yogalehrer. Haben Sie an Ihren jeweiligen Schulen auch Yoga unterrichtet?
Bis zu unserer Pensionierung 2016 haben wir Yoga an der Schule eher sporadisch unterrichtet. Yoga war nicht Teil des offiziellen Stundenplans, sondern fand statt während des Ganztagsunterrichts in der Mittagsbetreuung oder eher unregelmäßig im Klassenzimmer statt. Manchmal gingen wir auch in Sportstunden, weil Kollegen und Schüler neugierig waren und wissen wollten, was man denn im Yoga so macht. Vor Klassenarbeiten und Abiturprüfungen haben wir gerne Entspannungsübungen angeboten.
YJ: Ist innerhalb der vollen Lehrplänen überhaupt Platz für Yoga? Wie wird Yogaunterricht an Schulen integriert?
Eindeutig nein! Wegen der Schulzeitverkürzung an Gymnasien von 9 auf 8 Jahre ist der Stundenplan vollgestopft. Die Unterrichtsstunden der Sekundarstufe I umfassen 180 Wochenstunden, bei 6 Schuljahren (früher G9) waren das 30 Stunden pro Woche, bei dem heutigen G8 (5 Schuljahre in der Sekundarstufe I) sind das 36 Stunden pro Woche. An unseren Schulen haben die Schüler je nach Jahrgangsstufe an 3 Tagen in der Woche (gebundener Ganztag) jeweils 7 bis 9 Stunden Unterricht plus 60 Minuten Mittagspause, das heißt konkret, dass der Unterricht für sie an einigen Tagen erst um 15.30 zu Ende ist. Wenn wir nicht zufällig Yogalehrer gewesen wären, hätte es an unseren Schulen nie Yoga gegeben.
YJ: Was sind Ihrer Meinung nach die klaren Vorteile von Yoga für Kinder und Jugendliche?
Das Problem in der Schule ist, dass Schüler zu viel sitzen müssen. Hier wäre Yoga mit Asanas für Rücken und Wirbelsäule ideal. Positiv wäre Yoga an der Schule auch für Entspannung, Konzentration und richtiges Atmen.
YJ: Gibt es auch Kinder und Jugendliche, für die Yoga nicht geeignet ist?
Yoga ist so vielfältig von den Möglichkeiten und den Wirkungen, dass es für alle geeignet ist. Da Kinder und Jugendliche infolge des Notensystems an der Schule ständig auf das Vergleichen mit den Mitschülern programmiert sind, wird man allerdings für Yoga an der Schule nur solche Schüler bekommen, die schon gewisse gute körperliche Voraussetzungen mitbringen. Schüler, die eher unbeweglich sind, möchten sich nicht den kritischen Blicken ihrer Mitschüler aussetzen. Sie kommen dann nicht zum Yoga und entscheiden sich in der Mittagsbetreuung eher für ein anderes Angebot. Wenn man Yoga als Pflichtfach in den Stundenplan einbauen würde, müsste man sich überlegen, wie man diese Schüler integrieren könnte. Mit Schülern, die freiwillig kommen, motiviert sind und die die körperlichen Voraussetzungen erfüllen, kann man ziemlich schnell anspruchsvollere Übungen machen, was zu einer verstärkten Motivation beiträgt.
YJ: Wird der Yogaunterricht an Schulen als Wahlfach angeboten oder gibt es auch Schulen beziehungsweise Klassen, an denen Yoga Pflicht ist?
Es wäre schön, wenn es Yoga als Wahlfach gäbe. Schüler selbst haben an unseren Schulen den Wunsch geäußert, lieber Yoga als normalen Sportunterricht zu machen. Als Pflichtfach gibt es Yoga an weiterführenden Schulen meines Wissens nicht. So weit ich weiß, gab es in Berlin eine Grundschule, an der Yoga auch Pflichtfach war.
(Anm.d.Red.: Die Niederlausitz-Grundschule in Berlin-Kreuzberg war deutschlandweit die erste Schule, die Yoga zum Pflichtfach gemacht hat. Allerdings wurde die Schule mit dem Schuljahr 2012/2013 mit der Paul-Dohrmann-Grundschule zur Rosa-Parks-Grundschule fusioniert, an der Yoga als Wahlpflichtfach angeboten wird.)
YJ: Eine kritische Frage: Wird Yoga an Institutionen für junge Menschen zum Teil auch eingesetzt, um die Kinder wieder zum „Funktionieren“ zu bringen und sie fit zu machen für unser leistungsorientiertes System?
Genau das ist das Problem. Das möchten vor allem die Schulleiter, viele Lehrer und auch Eltern. Wir hören dann Sätze wie „Bringt die Kids mal ein bisschen zur Ruhe, die sind immer so aufgedreht!“ Aber das ist natürlich nicht im Sinne dessen, was ein Yoga-Lehrer bei Yoga Vidya gelernt hat, es entspricht nicht dem Selbstverständnis eines Yogalehrers. Yoga, so unser Verständnis, heißt ja, im Einklang mit sich selbst zu sein und nicht fit gemacht zu werden für eine möglichst effektive Bewältigung der Aufgaben in der Außenwelt. Die Gefahr der Instrumentalisierung von Yoga an Schulen ist immer gegeben, das sollte jedem Yogalehrer bewusst sein.
YJ: Kann Yoga wirklich dazu beitragen, die ständige Reizüberflutung, der Kinder und Jugendliche heute ausgesetzt sind, auszugleichen und ihr etwas Positives entgegenzusetzen?
Yoga könnte mit Sicherheit dazu beitragen, wenn es an den Schulen fest im Stundenablauf verankert wäre. Das müsste schulpolitisch auf höchster Ebene entschieden werden. Die Schulen erhalten vom Schul- und Bildungsministerium des jeweiligen Bundeslandes die Auflagen, welche Fächer mit welchem Stundenumfang in welchen Jahrgangsstufen zu unterrichten sind. Ein neues Fach wie Yoga im Fächerkanon würde entweder die Unterrichtsstundenzahl erhöhen, was unter den derzeitigen Bedingungen von G8 unmöglich ist oder es müssten bestimmte Fächer im Stundenumfang zugunsten von Yoga reduziert werden, was aus meiner Sicht kaum möglich, aber nicht ausgeschlossen ist. Es gibt ja auch Überlegungen, ein Fach wie Ernährungslehre einzuführen, weil viele Schüler nicht mehr wissen, wie man sich richtig ernährt und dies auch in ihrer Familie nicht mehr lernen. Warum also nicht auch Yoga?
YJ: Wie ist die Tendenz momentan: Haben Schulen von sich aus ein gesteigertes Interesse an Yoga für ihre Schüler oder muss man als Yogalehrer eher „Klinken putzen“ gehen, um den Schulleitern und Lehrern die Vorteile schmackhaft zu machen?
Unserer Erfahrung nach eher die zweite Variante! Also Klinken putzen! Lehrerkollegien und Schulleitungen sind überaltert, nur wenige Lehrer haben sich mit Yoga befasst, haben vielleicht mal gehört oder gelesen, dass es da um Entspannung geht und um irgendwelche Verrenkungen, deren Sinn sie nicht verstehen. Ich habe leider Zweifel, ob die jüngere Lehrergeneration in dieser Hinsicht den großen Wandel an den Schulen bringen wird. Lehrer von heute sind mit sehr vielen zusätzlichen Aufgaben belastet, so dass sie wenig Zeit haben, eine Yoga-Ausbildung zu absolvieren oder selbst intensiv Yoga zu praktizieren, was mit Sicherheit ihrer Gesundheit und ihrer Lebenszufriedenheit entgegen käme. Außer uns gab es an unseren Schulen keine ausgebildeten Yogalehrer, wohl aber die eine oder andere Lehrerin – also keine Männer – die einmal in der Woche an einem Yogakurs an der Volkshochschule teilgenommen haben.
Ingrid und Wolfgang Seemann leben als Yoga Vidya Shanti Vasi im Bad Meinberger Ashram von Yoga Vidya. Unter anderem waren sie 2017 für das Thema „Kinderyoga in der Schule – was ist möglich?“ beim 9. Kinderyoga-Kongress als Referenten tätig.
Illustration: Melanie Beutel