Eigentlich scheint die Sache ganz einfach: Freude ist angenehm, Ärger nicht. Lob ist schön, Kritik nicht. Anerkennung gut, Verachtung schlecht. Gewinne wollen wir mitnehmen, Verluste vermeiden … Die buddhistische Lehre von den “Acht weltlichen Winden” hilft, etwas mehr Gelassenheit in diese anstrengende Dynamik zu bringen.
Text: Ulrich Hoffmann / Titelbild: Agnieszka Ziomek via Unsplash
Mein erstes Buch hat sich über 50.000 Mal verkauft. Das war toll. Das nächste wollten nur 800 Menschen lesen. Sehr blöd. Und jetzt? Manchmal gehen unsere Pläne auf und Wünsche werden wahr. Eine Freundin zum Beispiel ist gerade mit der Familie ins Ausland gezogen, auf der Suche nach milderen Wintern. Möge ihr Projekt gelingen – aber was, wenn nicht? Ein Kollege von mir fuhr mit 30 Porsche und wurde mit 40 arbeitsunfähig. Inzwischen sind seine Ersparnisse vollständig aufgebraucht. Im Leben kann so viel schief gehen. Da ist es doch logisch und nachvollziehbar, das Scheitern zu fürchten und die guten Zeiten zu feiern. Wenn es nur nicht so anstrengend wäre. Und oftmals so beängstigend …
Die Wurzel des Leidens sei das Verlangen, soll der Buddha gesagt haben. Wir wollen behalten, was wir haben. Wir glauben, ein größeres Auto, eine Gehaltserhöhung oder eine anspruchsvollere Asana würden uns glücklich machen. Evolutionsbiologisch ist das durchaus sinnvoll: Indem wir Dinge wiederholen, die uns gutgetan haben, und Dinge meiden, die schädlich waren, verbessern wir unsere Überlebenschancen. Mehr von den leckeren Beeren, weniger Säbelzahntiger. Klar! Andererseits wäre in der Steinzeit vermutlich niemand darauf gekommen, sich bis zur Übelkeit mit Beeren vollzustopfen, nur weil sie gerade am Busch hängen. Besser Schluss für heute und morgen wieder. Wir aber haben scheinbar jedes Maß verloren. Nicht nur haben wir enorme Ansprüche an unser Leben, wir wollen auch umfassende Sicherheit und möglichst vollständige Kontrolle. Obwohl wir eigentlich wissen, dass es die nicht gibt.
Winds of Change
Wie wir sogar unter chaotischen Umständen unseren Platz in der Welt finden und wahren können, lehrt das buddhistische Konzept der “Acht weltlichen Winde”, das in Pali Lokavipatti Sutta heißt. Es besagt, dass es vor allem vier einander jeweils gegensätzliche Einflüsse sind, die uns aus dem Gleichgewicht bringen, also quasi “umwehen”: Freude und Schmerz, Gewinn und Verlust, Lob und Kritik, Ruhm und Verachtung.
Manchmal werden die “Acht weltlichen Winde” auch als “Acht Weltgesetze” übersetzt, dabei ist das Bild der acht Winde ja wunderbar treffend. Darin steckt nämlich die Weisheit, dass es nicht so sehr darauf ankommt, woher der Wind gerade weht, denn egal ob positiv oder unerfreulich: bei entsprechender Windstärke können sie uns alle zu Fall bringen. Viele Menschen sind bereit, für Freude, Gewinn, Anerkennung, Lob oder Ruhm sehr viel zu geben. Sie überarbeiten sich, beschädigen Beziehungen, werden egoistisch, gierig oder rücksichtslos. Mit ebenso großem Einsatz versuchen sie, Schmerz, Verlust, Kritik oder gar Verachtung zu vermeiden. Wir hängen also an bestimmten Zuständen, und wir hängen daran, andere Zustände zu vermeiden. Wir verlangen nach bestimmten Zuständen und verlangen danach, andere zu vermeiden.

Gelassenheit bei Wind und Wetter
Genau dieses “Anhaften” wird im Buddhismus kritisch gesehen. Und das gleich aus mehreren Gründen: Egal ob wir uns erst gut fühlen können, wenn ABC erreicht ist, oder ob wir uns nur gut fühlen können, wenn XYZ umschifft wurde – so oder so wird unser Ist-Zustand von irgendwelchen äußeren Bedingungen abhängig, die ebenso wechselhaft und unbeständig sind wie Wind und Wetter. Gleichzeitig führt unser dauerndes Haben-Wollen und Nicht-haben-Wollen dazu, dass wir nicht mehr wahrnehmen können, wie das Leben gerade jetzt tatsächlich ist. Wir sind permanent beschäftigt mit dem Planen der Zukunft, mit unseren Erwartungen und Befürchtungen – und währenddessen zieht das Jetzt an uns vorüber. Warum sollte zum Beispiel der eigene Geburtstag ein wichtigerer und irgendwie besserer Tag sein als die 364 anderen? Wäre es nicht klüger, zu versuchen, alle Tage gleichermaßen so anzunehmen, wie sie sich entfalten?
Wir können lernen zu beobachten, woher der Wind gerade weht, und dann unseren Platz in der Welt ruhig bewahren.
Diese buddhistische Haltung namens Upeksha wird oft als “Gleichmut” übersetzt. Das klingt leider sehr nach Gleichgültigkeit. So eine Alles-egal-Haltung. Dann schmerzt der Schmerz nicht, aber Freude freut auch nicht. Das ist aber mit Upeksha gar nicht gemeint. Das Ziel ist vielmehr die gelassene, wertfreie Akzeptanz des gegenwärtigen Moments. Mit anderen Worten: Dass wir mal mehr Geld haben, mal weniger, mal der Mittelpunkt der Party sind und auf eine andere nicht mal eingeladen werden, dass gute Nachrichten und schlechte Nachrichten sich abwechseln, dass auf Arbeit Urlaub folgt, und auf Urlaub Arbeit und dass manchmal das Unangemehme, Leidvolle sogar furchtbar dominant ist – das ist alles ganz normal.

Windfest werden
Dabei soll das Konzept der Acht weltlichen Winde keineswegs zur Passivität verleiten. Es weist nur darauf hin, dass wir Menschen uns manchmal allzu sehr von äußerlichen Reizen leiten lassen, unser Lebensfähnlein also gewissermaßen in den Wind hängen, der uns in der Welt gerade um die Nase streicht. Dabei können wir meistens nicht absehen, oder wollen es nicht wahrhaben, wohin er uns treibt.
Viel Eiscreme zu löffeln macht kurzfristig Freude, aber langfristig dick. Mit den Aktien von Öl- und Kohlefirmen das Ersparte zu verdoppeln, ist gut fürs Konto, aber schlecht für die Welt. Die Lehre von den Acht weltlichen Winden ruft uns nicht dazu auf, uns in stiller Askese in eine Höhle zurückzuziehen. Wir sollen unsere Nase weiterhin in den Wind halten. Wir können diese Einflüsse ja sowieso nie wirklich abstellen. Aber statt uns von den wilden Winden unserer Begierden und Ängste herumschubsen lassen, können wir lernen, sie aufmerksam wahrzunehmen, erkennen, woher der Wind gerade weht, und dabei unseren Platz in der Welt ruhig bewahren.
Gegen den Wind
Das geschieht natürlich nicht einfach so, weil wir es eingesehen haben und beschließen. Es bedarf schon einiger Aufmerksamkeit und Übung. Häufig werden Meditation, Yoga und andere spirituelle Praktiken als Rückzug ins Private gesehen – oder auch so gelehrt und genutzt. Aber das ist nicht ihr Ziel. Im Gegenteil: Wenn uns die weltlichen Winde unserer Begierden und Befürchtungen nicht dauernd vor sich hertreiben, können wir den eigenen Werten treu(er) bleiben. Wir wechseln die Position nicht mehr wie das sprichwörtliche Fähnlein im Wind, sondern lernen, inmitten der Unruhe und Unsicherheit ruhiger und klarer zu bleiben.
Ein Freund von mir zum Beispiel war mit seiner Beziehung nicht glücklich, gleichzeitig aber überzeugt, dass seine Partnerin ihn sowieso nicht versteht. Also schwieg er. Das erhielt den Alltagsfrieden und war insofern verlockend. Aber auf die Dauer wurde er immer unzufriedener. Deshalb lockten ihn auf einmal Dienstreisen, Überstunden, noch mehr Sport, Affären. Mit anderen Worten: Weil er Ablehnung fürchtete und sich nach Freude sehnte, wurde er noch anfälliger für Gewinn und Verlust, Lob und Kritik, Ruhm und Verachtung.
Das Windpferd reiten
Der Wind ist eine großartige Metapher für diese ganze Lektion. Er kann uns vor sich hertreiben, an uns zerren und manchmal sogar zu Fall bringen. Es ist nicht leicht, in einem ausgewachsenen Sturm still und aufrecht zu stehen, weil wechselnder Druck aus unterschiedlichen Richtungen kommt. Wir alle sind permanent nicht nur den weltlichen Winden unserer Sehnsüchte und Befürchtungen ausgesetzt, sondern auch den Windstößen der Lebensumstände die oft ebenso unerwartet kommen. Doch wir können lernen, uns nicht von ihnen herumschubsen zu lassen, sondern ihre Kraft zu nutzen. Indem wir unseren Geist ausrichten wie ein Segel. Oder indem wir sie reiten wie ein Windpferd. Die folgende Übung gibt dir dazu eine kleine Anregung.

Meditation für Mut, Mitgefühl und Menschlichkeit

Ulrich Hoffmann ist Meditations- und Yogalehrer, verheiratet und dreifacher Vater. Da kommen ein paar weltliche Winde zusammen. Er wünscht sich mehr Gelassenheit – von sich und allen anderen. Mehr Info auf ulrichhoffmann.de
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