Als Meditationslehrer werde ich häufig um Rat gefragt, wenn Menschen ihr Leben verändern wollen und das Gefühl haben, dabei zu scheitern. Jede Geschichte ist natürlich anders, aber was fast Allen hilft, ist die Praxis, immer wieder genau Jetzt neu zu beginnen.
Den Satz „Beginne einfach von vorn” hörte ich zum ersten Mal vor etwa 20 Jahren von der buddhistischen Meditationslehrerin Sharon Salzburg. Während eines Mindfulness-Meditation-Retreats erzählte Sharon von ihrem Kampf, meditieren zu lernen – wie sie sich verlor, abgelenkt und schließlich entmutigt wurde. Sie stellte sich selbst und ihre Lehrer in Frage. Nach und nach lernte sie jedoch, das mentale und emotionale Geplapper zu ignorieren und immer wieder neu zu beginnen, indem sie über ihren Atem meditierte. „Beginne einfach von vorn“ wurde zu ihrem Mantra. Es bedeutet eine radikale Änderung der Einstellung, wenn man sich dafür entscheidet, sofort wieder aktiv zu werden, sobald man vom Weg abgekommen ist. Wann immer man entdeckt, dass man seinen Fokus aus den Augen verloren hat, kann man einfach von vorn anfangen – ohne sich in emotionalen Verstrickungen zu verlieren. Man muss sich nicht fragen, weshalb man nicht fähig ist, sein Ziel zu erreichen, oder darüber urteilen, wie minderwertig man ist oder wie unerreichbar das Ziel erscheint. Sharon wurde zu meiner Inspiration und der Satz „Beginne noch einmal von vorn“ zu meiner täglichen Lebenspraxis.
Falls Sie jemals versucht haben zu meditieren, werden Sie vermutlich wissen, dass der Geist ständig von Körperempfindungen oder mentalen Aktivitäten in seiner Konzentration auf ein Objekt gestört wird. Dadurch verliert man das Gewahrsein für den gegenwärtigen Moment. Stattdessen überfluten alle möglichen alten Geschichten den Geist, gepaart mit den obligatorischen Selbstvorwürfen, mit Entmutigung und Frustration. Im täglichen Leben geschieht das ganz genauso. Wenn starke Emotionen auftauchen, wird man sehr leicht einfach mitgerissen, hinein in die mit den Gefühlen assoziierten Geschichten. Dadurch verliert man die Achtsamkeit, die so notwendig ist, um gelassen zu bleiben und verantwortungsvoll auf Ereignisse reagieren zu können.
Vielleicht meinen Sie, man müsse wissen, weshalb man ein bestimmtes Problem hat, bevor man auf positivere Weise agieren kann. In der westlichen Psychologie gilt diese Art der Selbstreflexion als Voraussetzung für Heilung und Veränderung. Aber stimmt das überhaupt? Buddha betonte die Notwendigkeit, sich auf den gegenwärtigen Augenblick zu fokussieren und gemäß seiner eigenen Werte zu reagieren – reine Spekulation lehnte er ab. Er soll einmal das Gleichnis eines Mannes erzählt haben, der von einem Pfeil angeschossen wurde: Wenn dieser nun darauf bestünde, zuerst Name, Familie, Dorf und Herkunft des Schützen zu kennen, bevor er den Pfeil entfernt und sich um seine Wunde kümmert – wie sinnvoll wäre das in Bezug auf die Verletzung? Die Situation, die durch den Pfeil entstanden ist, bedarf sofortiger Aufmerksamkeit. Genauso verhält es sich mit der Praxis des Neubeginnens: Sie betrachten so aufmerksam wie möglich die aktuelle Herausforderung und bleiben dabei völlig in der Gegenwart verwurzelt. Sie lenken Ihren Fokus weg von den Bedingungen und Umständen, die Sie einschränken, und hin zu Ihren Stärken, Ihrem Potenzial.
Verpflichten Sie sich zur Veränderung
Jeder Mensch besitzt natürlich die Fähigkeit, von vorne zu beginnen. Doch selbst wenn man das Konzept begreift und sicher schon mehrere tausend Mal neu begonnen hat, heißt das noch lange nicht, dass man daraus mit Hilfe von Achtsamkeit und Intention auch eine gewohnte Praxis gemacht hat. Bevor das aber nicht geschehen ist, werden einen die teilweise stürmischen Wellen des Lebens auf dem Weg der Transformation immer wieder aus der Bahn werfen. Sollten Sie glauben, dass Sie die Technik des Neubeginnens bereits beherrschen, dann versuchen Sie einmal, Ihren Geist 30 Minuten lang auf den Atem auszurichten. Beobachten Sie, ob Sie fähig sind, ganz ohne Kommentar oder weitere Ablenkung zu Ihrem Atem zurückzukehren und ihm Ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen – nicht ein- oder zweimal, sondern immer wieder während der kompletten halben Stunde. So gut wie niemand schafft das auf Anhieb. Aber mit der Zeit und der richtigen inneren Ausrichtung kann sich daraus eine Praxis entwickeln, die ich bei mir selbst und meinen Schülern als ein machtvolles Instrument der Veränderung erlebt habe.
Für einen 45-jährigen, der ständig unter plötzlich auftretenden Gesundheitsproblemen litt, bedeutete diese Technik, an jedem einzelnen Tag neu auf veränderte Lebensbedingungen reagieren zu können. Nach Jahren des hilflosen Ausgeliefertseins entdeckte er, dass er durchaus ein reiches inneres und äußeres Leben haben konnte, indem er sich trotz aller gesundheitlichen Probleme auf das Jetzt konzentrierte.
Eine 42-jährige Schülerin fühlte sich von ihren Kollegen ausgegrenzt, als ihre Karriere aufgrund einer Reihe traumatischer Ereignisse bedroht war. Sie lernte, wie sie tagtäglich den Anschluss wiederfinden konnte, indem sie ihr Gefühl der Entfremdung und Unzulänglichkeit akzeptierte und im selben Moment einfach von Vorne begann. Sie spürte, dass ihre Gefühle nur noch schlimmer wurden, wenn sie sich mit den dazu gehörigen Geschichten beschäftigte. Ich riet ihr, sofort den Kontakt zu den Kollegen zu suchen, wenn sie sich ausgeschlossen fühlte – und zwar ohne darüber nachzudenken, wie sie sich dabei fühlte. Während des folgenden Jahres erlebte sie zwar immer noch Gefühle der Entfremdung und Unzulänglichkeit, doch sie kontrollierten nicht mehr ihr Leben. Auch einer 29-jährigen Frau, die in ihrer Jugend an Magersucht gelitten hatte, kam die Methode zur Hilfe: Sie fand sich nach wie vor zu dick, lernte jedoch, ihre zerstörerischen Essgewohnheiten zu durchbrechen, indem sie die spezifischen Angstgefühle erkannte, sobald sie auftauchten. Sie begriff, dass das Auftreten dieser Gefühle sie dazu aufforderte, nun Achtsamkeit und Mitgefühl sich selbst gegenüber aufzubringen und jegliche Selbstkritik zu unterlassen. Stattdessen verlagerte sie ihren Fokus auf eine Reihe von Aufgaben, die sie inspirierten. Auf diese Weise verlor sie sich nicht in der gewohnten Spirale.
Den Fokus verlagern
Aber wie genau übt man es, von vorne zu beginnen? Indem Sie nicht länger den Fokus darauf richten, die Ergebnisse und Auswirkungen Ihres Handelns kontrollieren zu wollen. Und indem Sie ihre gewohnten Reaktionen auf ungute Erlebnisse aufgeben, also nicht länger Kritik üben, urteilen, klagen und lamentieren, wenn es mal nicht gut läuft. Damit verleugnen Sie Ihre Gedanken und Gefühle nicht und Sie versuchen auch nicht, sie zu vertreiben. Statt dessen erkennen Sie sie wertfrei an und empfinden Mitgefühl angesichts der Schwierigkeiten dieses Moments. Diesem Anerkennen lassen Sie eine Methode folgen, die ich die „Und-Technik“ nenne. Dabei sagt man sich selbst: „Ja, ich bin grade aus der Spur geraten – und jetzt beginne ich wieder von neuem.“ Zum Beispiel so: „Ich fühle mich fremd und habe den Eindruck, dass meine Mitmenschen mich nicht mögen – und jetzt werde ich mit dem Typen da drüben sprechen, mit dem ich eigentlich ganz gut auskomme.“ Sie erkennen also Ihre Gedanken und Gefühle an, aber dann geben Sie der Sache eine neue Wendung und kehren in die Gegenwart zurück. Das bedeutet nicht, dass Sie Ihr Ziel, eine grundlegende Veränderung herbeizuführen, aus den Augen verlieren. Sie konzentrieren sich einfach nur darauf, den jetzigen Moment zu verändern, und das immer wieder aufs Neue.
Selbstverständlich sollten Sie in regelmäßigen abständen überprüfen, ob diese Art, einen Wandel herbeizuführen, für Sie funktioniert oder ob Sie vielleicht lieber etwas anderes versuchen wollen. Genauso empfiehlt es sich, gelegentlich zu überlegen, ob das gewählte Ziel Ihnen überhaupt noch wichtig ist, oder ob sich in der Zwischenzeit vielleicht etwas verändert hat. Die meiste Zeit aber bleiben Sie nur beharrlich am Ball. Dabei entwickeln Sie allmählich immer mehr Kraft für jeden Neubeginn, denn Sie spüren, dass es darum geht, sich auf ein Ziel zu zu bewegen, und nicht darum, dort angekommen zu sein.
Ziele sind natürlich wichtig, denn Sie geben dem Leben eine Richtung, aber das eigentliche Leben geschieht nicht durch das erreichen eines Zieles, sondern jetzt und immer wieder jetzt, während des endlosen Stromes an einzelnen Momenten. Wenn Ihr Fokus auf dem Weg liegt anstatt auf dem Ziel, dann werden Sie auch die Willenskraft und die Inspiration finden, immer wieder neu zu beginnen. Indem Sie in Beziehung treten zum Leben, wie es ist, anstatt darauf zu bestehen, dass es genau so zu sein hat, wie Sie sich das vorstellen, geschieht etwas sehr Bedeutungsvolles: Ihre Chancen, die Dinge wirklich zu beeinflussen, steigen, weil Sie nicht länger in Angst und Verlangen gefangen sind.
Geduld üben
Paradoxerweise ist die Praxis des Neubeginnens ein viel effektiverer Weg, Ziele zu erreichen, als die konstante Fixierung auf diese Ziele. Wenn Sie zum Beispiel versuchen abzunehmen oder Ihr Temperament zu zügeln, dann wissen Sie theoretisch ganz genau, was zu tun wäre, Sie tun es aber nicht. Die Erinnerung an frühere Frustrationen und die Befürchtungen einer schlimmen Zukunft saugen sämtliche Energie auf und lassen Sie scheitern. Wenn Sie dagegen genau in diesem Moment aufmerksam sein können und wahrnehmen, dass Sie gerade zu viel essen in sich hineinschaufeln, dann ist es Ihnen möglich, einfach aufzuhören. Und wenn Sie bemerken, dass Sie jetzt gleich ausrasten werden, dann rasten Sie eben nicht aus. Stopp. Kein Drama. Sie kehren zurück auf ihren gewählten Pfad und beginnen von Neuem.
Klingt ziemlich einfach, oder? Ist es natürlich nicht. Die Praxis des Neubeginnens erfordert viel Geduld und Entschlossenheit. Im Buddhismus zählen diese Eigenschaften zu den Paramita, den essenziellen Tugenden für spirituelles Wachstum: Mit Geduld kann man zulassen, dass man neu zu beginnen. Entschlossenheit schenkt einem die Energie, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was gerade jetzt getan werden muss. Diese beiden Eigenschaften werden unterstützt von einer dritten: liebevoller Güte sich selbst gegenüber. Sie erlaubt es Ihnen, anzuerkennen, wie hart es manchmal ist, inmitten des Wandels auf Kurs zu bleiben.
Wenn Sie an einer bestimmten Stelle Ihres Lebens einen Wandel herbeiführen möchten und Schwierigkeiten damit haben, dann sollten Sie sich vor allem Folgendes zu Herzen nehmen: lassen Sie sich von niemandem einreden, Sie könnten sich nicht ändern. Kämpfen Sie entschlossen gegen den inneren Impuls an, sich bei auftauchenden Schwierigkeiten abzulenken. Lassen Sie nicht zu, dass die zweifelnde, kritische Stimme in Ihrem Kopf Ihr Leben bestimmt. Und wenn Sie bemerken, dass Sie von einem dieser Leitsätze abgekommen sind – dann beginnen Sie einfach von vorn!
Einen praktischen Übungsteil finden Sie in unserer Ausgabe März/April 2014!
Der Autor Philipp Moffitt unterrichtet Vipassana-Meditation und Mindful Movement Yoga an verschiedenen Meditationszentren in den USA und Kanada.