Bhakti, Maitri, Prem & Co: Die verschiedenen Formen der Liebe im Hinduismus

“Nur die Liebe zählt” … aber die kann sehr verschiedene Formen annehmen. Im Yoga ist viel von Bhakti die Rede, der bedingungslosen, frommen Liebe. Unsere Autorin findet: zu Unrecht! Sie lädt dazu ein, sich über die verschiedenen Manifestationen des schönsten menschlichen Gefühls Gedanken zu machen.

Text: Rina Deshpande / Titelbild: Cloud 1902 via Canva

Hast du schon einmal überraschend ein kleines Geschenk bekommen, vielleicht von einem Kind oder einem lieben Wesen? Das muss gar nichts Materielles sein: Vielleicht hat sich dein Haustier von sich aus an dich gekuschelt, als du gerade Trost brauchtest. Oder ein Freund hat dir einfach so eine Karte geschickt und sich bei dir bedankt.

Als ich fünf Jahre alt war, habe ich auf ein aus einem Heft herausgerissenen Blatt Papier ein krakeliges Portrait meiner Tante Lalitha gemalt. Ich sehe es noch vor mir: Sie trug darauf ihren gewohnten Sari, ihre Brille und den Bindi zwischen den Augenbrauen. Ich schenkte ihr das Bild zum Abschied, als wir von Indien in die USA auswanderten – und noch jahrzehntelang, so lange Lalitha lebte, hing es unter einem kleinen Magneten am Metallschrank in ihrem Zimmer. Solche kleinen, liebevollen Gesten kosten nichts oder nur sehr wenig. Wir alle wissen: Die Größe oder der Aufwand eines Geschenks haben nichts mit seiner Bedeutung zu tun, das einzige, was zählt, ist die Liebe, die es enthält.

Im amerikanischen Englisch sagen wir: “It’s the thought that counts”, auf den Gedanken kommt es an. Und noch klarer drückt es Krishna in der Bhagavad Gita aus: Es ist die Liebe, die zählt. Leider geht die wunderbare Sprachmelodie des Sanskrit-Verses in der Übersetzung verloren, aber die Bedeutung steht dennoch für sich:

Die Bedeutung von Bhakti

Diese universelle, reine Liebe, die Krishna hier beschreibt, kennen wir im Yoga als Bhakti. Sie gilt als die höchste, hingebungsvolle Form der Liebe und wir erleben sie ganz besonders in der Liebe zu Gott oder der Schöpfung.

Bhakti ist an keine Bedingungen oder Erwartungen geknüpft, sondern immer getragen von Wertschätzung und Akzeptanz. Laut der Lehren von Paramahansa Yogananda besteht das Wesen von Bhakti Yoga darin, sich mit dem Göttlichen zu verbinden, indem man verschiedene Formen der Andacht praktiziert. Dazu gehört zum Beispiel gemeinsames Singen (Kirtan): Man drückt seine Liebe zu Gott (oder auch: zum Leben selbst) in Form von Gesängen aus. Auch beim Rezitieren von Mantras trainiert man den eigenen Geist darauf, sich immer wieder liebevoll dem Göttlichen zuzuwenden. Hindus verstehen auch das andächtige Gebet als Ausdruck von Bhakti: ein ruhiger, klarer Ort voller Reinheit und Wertschätzung für die Quelle unserer Existenz. All das macht deutlich, warum Bhakti in Sanskrit, Hinduismus und im klassischen Yoga als die höchste Form der Liebe gilt.

Die Vielfalt der Liebe

Nur die Liebe zählt
Foto: DS stories via Canva

Diese reine, bedingungslose und andächtige Liebe ist natürlich etwas sehr Schönes, aber wie steht es mit all den anderen Formen von Liebe, die wir empfinden können? Für mein Gefühl wird Yoga hier manchmal falsch verstanden: Als sei es ein Tool, um sich auf eine Art perfekte, erleuchtete Seligkeit hin zu entwickeln. Dabei sind die meisten von uns weit davon entfernt, jederzeit aus einer göttlichen, aus vollem Herzen kommenden Liebe heraus zu handeln.

Was ist zum Beispiel, wenn ich mich von einem Freund oder jemandem aus meiner Familie gekränkt fühle? Nur weil mein Gefühl nicht immer perfekt ist, heißt das noch lange nicht, dass es sich nicht um eine gültige Form von Liebe handelt. Im Sanskrit und in der Yogaphilosophie werden deshalb verschiedene Aspekte der Liebe mit verschiedenen Begriffen benannt – und diese Unterscheidung kann sehr hilfreich sein, wenn es darum geht, durch unsere ganz alltäglichen menschlichen Erfahrungen hindurch zu navigieren.

Auch die moderne Wissenschaft weiß: Unser biologisches Reaktionssystem – das limbische System – kennt viele Nuancen von Emotionen und dazu gehören auch verschiedene Formen von Liebe und Zuneigung. Manchmal verwenden wir das Wort Liebe, wenn es um Bewunderung geht: “Ich liebe” eine bestimmte Schauspielerin oder Yogalehrerin. Wenn ich zum Beispiel sage, “ich liebe” diese Eiscreme, dann geht es eher um Genuss. Auch meinen Bruder liebe ich, meine Katze oder meine Wohnung liebe ich, aber eben nicht auf dieselbe Weise. Je mehr ich mich mit Sprachen beschäftige – ich lerne neben meinen Muttersprachen Hindi und Englisch auch Spanisch, Französisch und Sanskrit – desto mehr berührt es mich, wie sehr es zu jedem Wort in jeder Sprache andere Bedeutungsnuancen gibt.

Liebe
Foto: Cloud 1902 via Canva

Sprache und Liebe

Aber bleiben wir hier mal bei Sanskrit und Hindi: In diesen beiden Sprachen unterscheiden wir sehr detailliert zwischen verschiedenen Manifestationen oder Formen von Liebe, indem wir verschiedene Begriffe verwenden. Nimm dir gerne etwas Zeit, dich mit ihnen zu beschäftigen und dir klar zu machen, wo es Überschneidungen zwischen ihren Bedeutungsnuancen gibt und wo sie sich jeweils zwischen dauerhafteren, bedingungsloseren Aspekten und den eher genussvollen, flüchtigeren bewegen.

Ich bin überzeugt: Als Yogi*ni geht es nicht in erster Linie darum, einen konstanten Zustand reiner Herzensliebe zu erreichen, sondern eher darum, unser Verständnis davon zu vertiefen, was die vielfältigen menschlichen Erfahrungen ausmacht, die wir alle miteinander teilen. Die untenstehende Liste der Sanskrit-Begriffe ist nicht vollständig, aber vielleicht weckt sie deine Neugier, tiefer in das Verständnis dieses schönsten aller menschlichen Gefühle einzusteigen.

Die Sprache der Liebe

Im Sanskrit werden verschiedene Manifestationen von Liebe mit verschiedenen Begriffen bezeichnet. Die Reflexion über die Nuancen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede kann dir helfen, deine Gefühle mit mehr Bewusstheit zu durchdringen.

Bhakti (भक्ति)
Bhakti ist die hingebungsvolle Liebe für die höchste Quelle unserer Existenz, eine bedingungslose, nichts erwartende, reine Form der Liebe. Viele Hindu-Gläubige widmen diese Liebe einer Ishta Devata, also einer bestimmten Verkörperung des Göttlichen, etwa Ganesha,
Krishna, Lakshmi oder vielen anderen. Um sich dieser reinen Liebe anzunähern und sie zu kultivieren, praktiziert man traditionellerweise Mantra, Kirtan, man betet oder man bringt der Gottheit in einer Zeremonie (Puja) Blumen oder andere Gaben dar.

Prem (प्रें)
Prem ist, ähnlich wie Bhakti, eine respektvolle, fromme Form der Liebe. Sie kann sich an eine Gottheit richten, aber auch in Form einer nicht-romantischen Liebe ausdrücken, zum Beispiel zwischen Geschwistern, gegenüber einem Lehrer oder einem Tier – so wie die reine Liebe, die ich für meine kürzlich verstorbene Katze empfinde. Auch Prem strebt der Bedingungslosigkeit entgegen. Eine besondere Form von Prem ist Aham-Prem, die Praxis der Selbstliebe, wie wir sie auch in den Praktiken der Liebenden Güte kennen.

Maitri (मैत्री)
Maitri kennen wir im Yoga als Liebende Güte, sie ist vor allem eine mitfühlende, freundliche, oder auch freundschaftliche Form der Liebe. In der Metta-Meditation, einer vom hinduistischen Konzept der Maitri abgeleiteten buddhistischen Praxis, kultiviert man zunächst mitfühlende Liebe für sich selbst und weitet sie dann schrittweise aus auf Menschen, die einem nahestehen, auf Fremde, auf Menschen, die man nicht mag oder mit denen man sogar verfeindet ist, und schließlich auf die ganze Welt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass diese Praxis helfen kann, Beziehungen zu heilen.

Priya (प्रिय)
Dieser Sanskrit-Begriff soll die etymologische Wurzel des gängigsten Hindi-Worts für Liebe sein: Pyaar. Priya bedeutet wörtlich “Geliebte”, “Geliebter” und ist auch ein ziemlich
verbreiteter Vorname für Mädchen und Frauen. Pyaar bezeichnet sowohl die romantische Liebe als auch die tief verbundene Liebe zu anderen Menschen, etwa die Liebe zwischen Eltern und Kind oder die zu einem Haustier, das einem sehr nahe ist.

Pranay (प्रणय)
Pranay bezieht sich hauptsächlich auf romantische Gefühle, also die Liebe, Achtung oder Zuneigung zwischen Liebenden oder Verliebten. Preetam bezeichnet dabei den männlichen Liebenden und Premika die weibliche Liebende – auch diese beiden Begriffe sind beliebte indische Vornamen.

Preethi (प्रीति)
Preethi bezeichnet vor allem die besonders angenehmen Aspekte von Liebe oder Gunst, häufig auch im Zusammenhang mit Pranay, der romantischen Liebe. Im Unterschied zu Bhakti verwendet man den Begriff nicht im Bezug auf die andächtige Gottesliebe, dennoch gilt sie als eine kostbare Manifestation von Liebe – weswegen viele Mädchen diesen Vornamen tragen.

Pasandh (पसंद)
Von Pasandh spricht man eher, wenn man jemanden oder etwas gerne mag, also eine Vorliebe dafür hat. Das kann sich nicht nur auf Menschen beziehen, sondern auch auf Dinge,
Erlebnisse oder Tätigkeiten, zum Beispiel auf dein Lieblingsessen oder deinen Lieblingsfilm.
Dahinter steht zwar eine Wertschätzung und Zuneigung, aber das Gefühl ist flüchtiger und darf sich auch immer wieder verändern. Etwa so, wie man Vergnügen von tiefer Freude unterscheiden würde.

Für mich ist Sanskrit reine Poesie – und das drückt sich auch hier aus: die Sprache ist eine Hommage an all die verschiedenen Formen und Facetten der Liebe, die wir kennen – seien sie nun rein und ewig oder eher genussvoll und flüchtig. Indem wir uns mit Bhakti in der bedingungslosen Liebe für die Quelle unserer Existenz verankern, öffnen wir uns auch dafür, all die anderen Formen der Liebe zu schätzen, die uns in diesem bunten, vielfältigen Leben begegnen.


Rina Deshpande lehrt, erforscht und schreibt seit über 15 Jahren über Yoga und Achtsamkeit. Ihre Artikel erschienen bei uns, Huffington Post, Self Magazine und vielen anderen. Außerdem hat sie 2022 ein Kinderbuch verfasst und selbst illustriert: “Yoga Nidra Lullaby“. Erfahre mehr über Rina und besuche sie auf ihrer Website oder ihrem Instagram-Account @rinathepoet.


Rina Deshpande macht die Yogaphilosophie alltagstauglich. Kennst du schon ihren Artikel über Hingabe im Alltag?

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