Eine Welt auf Probe: Über Verbundenheit und Verbindlichkeit

Schafft Verbindlichkeit einen Raum, in dem Verbundenheit überhaupt erst möglich wird? Oder ist es vielmehr so, dass die (gerade im yogischen Denken oft mitschwingende) “Verbundenheit allen Seins” Verbindlichkeit sogar verhindert? Unsere Autorin plädiert dafür, sich viel öfter festzulegen.

Text: Andrea Goffart / Titelbild: R_Tee/Getty Images via Canva

“Du, ich weiß noch nicht genau, ob ich heute Abend komme. Können wir später noch mal telefonieren?”, sage ich zu meiner Freundin und ärgere mich einige Stunden später über Teilnehmer*innen meiner Schreib-Räume, die 10 Minuten vor Start absagen. Wenn überhaupt. Auch in Yogastudios wird es immer schwieriger, einen 10-wöchigen Kurs anzubieten. So lange festlegen? Unmöglich.

Inzwischen geht der Trend von der flexiblen 10er-Karte längst zum online gebuchten Drop-in. Last-minute ist die Devise und es wird uns sehr einfach gemacht, nach diesem Prinzip unser Leben zu gestalten. Wenn alles immer und jederzeit verfügbar ist, dann reservieren wir halt für einen schönen Abend einen Zweiertisch (“bitte am Fenster”) in drei verschiedenen Restaurants. Man weiß ja schließlich heute noch nicht, ob man am Freitag mehr Lust auf Veggie, Indisch oder Burger hat.

Es ist nie genug

Immer mehr Verbindung wird unverbindlich, erscheint das nur mir so? Beziehungen enden nach wenigen Monaten, Arbeitsverträge sind befristet, gewohnt wird heute hier, morgen dort. Wir testen und schnuppern, erweitern stetig unseren Horizont – was ja toll ist – und bleiben nie stehen. Wir leben, so scheint es, in einer Welt auf Probe und zögern, zaudern, winden uns, wenn es darum geht, ein klares Ja zu verkünden.

Was hält uns davon ab, verbindlich zu sein? Individualismus im Sinne einer umfassenden Gewinnmaximierung für das Ego? Mangelerleben? Es reicht nie – immer ist etwas anderes besser. Gerade habe ich den Kurzurlaub in Kapstadt gebucht, da sehe ich ein Special über Baku. Da will ich hin – ist doch viel geiler. Denn auch ich werde irgendwie besser sein, wenn ich mehr habe und aus der großen Auswahl schlau das Beste für mich sichere. Unser Konsumverhalten geht weit über Grundbedürfnisse hinaus. Vielmehr scheint es essenziell, richtig zu wählen.

Und dieses Richtig schließt von Jahr zu Jahr mehr Parameter ein: Erziehung, Bildung, Umfeld, Werte, finanzielle Möglichkeiten? Klar, aber auch Aspekte wie Umwelt, Klima und natürlich in den letzten Jahren massiv die Gesundheit sowie unzählige weitere Bedenken und Begierden spielen in unsere Entscheidungen hinein. Wenn ich mit der Bahn zum Seminar fahre, dann bin ich nachhaltig, aber vielleicht zu spät, wie unangenehm. Fahre ich mit dem Auto, finde ich keinen Parkplatz. Vielleicht besser eine Fahrgemeinschaft? Puh, dann bleibt die ganze Orga an mir hängen …

Wir jonglieren gefühlt ständig mit 1000 Bällen. Und jetzt noch einen zusätzlichen Ball aufnehmen und das auch noch verbindlich? Lieber nicht. Und überhaupt – so wichtig ist das Seminar eigentlich nicht, geh’ ich halt nicht hin. Komplexität, letztlich also die Erkenntnis der Verbundenheit unendlich vieler Entscheidungsfaktoren, verursacht ein wachsendes Unvermögen, sich zu entscheiden. Und eine immer weiter sinkende Aufmerksamkeitsspanne macht Verbindlichkeit auch nicht einfacher.

Verbindlichkeit:
Was ist das eigentlich?

Für mich drückt die Formel “Walk the talk” es sehr gut aus: Ich tue, was ich sage. Ich lasse Worten Taten folgen und überlege bewusst, was ich zusage und warum. So gesehen, ist Verbindlichkeit mehr als ein Pflichtgefühl im Außen, es ist auch eine Verneigung vor dem eigenen Dharma, der eigenen Klarheit und Ausrichtung. Wenn wir Verbindlichkeit ernst nehmen, entsteht aus ihr ein solides Vertrauen, das Beziehungen tragfähig macht – auch und gerade mitten im Chaos.

Drum prüfe, wer…

Viele von euch werden das Silvesterphänomen kennen. Die Eingeladenen melden sich auf den letzten Drücker, wenn etwas noch Besseres für die “Nacht der Nächte” definitiv nicht in Aussicht steht – na gut, dann halt zum Fondue bei Ute. Woher kommt diese Last Minute-Mentalität – welche Glaubenssätze, Mechanismen oder Ängste liegen dahinter? Warum ist es für viele von uns so schwierig, sich zu entscheiden? Bevor du weiterliest – frage dich vielleicht einmal selbst – (warum) ist es für dich schwierig?

Zum einen besteht bei einer verbindlichen Entscheidung immer die Gefahr, enttäuscht zu werden. Hinter jeder Verbindlichkeit lauert eine Fehlentscheidung. Das ist nicht schön, wir fühlen uns unwohl, unsicher. Ein Verhalten, das Verbindlichkeit – generell Bindung – vermeidet, ist also immer Selbstschutz. Etablierte Bindungstheoretiker*innen wie John Bolby und Mary Ainsworth halten uns den Spiegel vor unsere unsicheren, vermeidenden Verhaltensweisen – die eben nicht nur in der Partnerschaft wirken und dazu führen, dass wir in einem permanenten Zustand der Selbst-Unsicherheit feststecken.

Verbindung und Verbindlichkeit
Foto: Cocoparisienne via Pixabay

Dort werden wir vermutlich so lange bleiben, bis wir verstehen, dass der Anspruch, alles richtig entscheiden zu müssen, zum Scheitern verurteilt ist. Die Angst vor dem Entscheidungs-GAU hat sogar einen schicken Namen: FOMO – Fear of missing out. Aber was können wir eigentlich wirklich verpassen? Wenn wir verbindlich sind, wenn wir klar unsere Meinung sagen, wenn wir Entscheidungen treffen und zu ihnen stehen, dann werden wir ab und zu falsch liegen. Wir werden scheitern. Immer wieder. Immer neu. Wir könnten es lustvoll tun? Und, ja, dann kann es auch passieren, dass wir die Chance unseres Lebens verpassen, wenn wir bei Utes Fondue zu früh zusagen. Und vielleicht trotzdem einen netten Abend verbringen, während das Leben die nächste “einmalige” Chance schon genüsslich aus der Schublade zieht.

Verbindlich verbunden

Wenn ich mich entscheide, werde ich verbindlich. Ich mache eine verbindliche Zusage und stelle damit eine Verbundenheit her – und wenn es nur die Verbundenheit von zwei Terminkalendern ist. Nehme ich die Verabredung nicht ernst oder nicht wahr, dann hinterlasse ich eine Leerstelle – sowohl im Kalender als auch im Leben des Gegenüber. So weit – so banal. Und gleichzeitig ist Verbindlichkeit auch etwas, das wir mit Interesse, mit Offenheit und mit einem weitergehenden Verweben von Schicksalen konnotieren. Wir sind verbunden – wenn ich mich bewege, bewege ich dich mit, bewegst du dich mit.

Und hier kommen wir meines Erachtens am Kern an, nämlich bei der Erkenntnis, dass Verbindlichkeit und Verbundenheit in ihrer wechselseitigen Bezogenheit der Dualität von Yin und Yang gleichen. Gemäß der goldenen Regel, die sich als ein “Behandele andere so, wie du selbst behandelt werden möchtest” in fast allen Weisheitstraditionen wiederfindet, sprechen wir von Verantwortung für das eigene Verhalten. Es geht um Empathie oder – weitergefasst – um die Fähigkeit, das eigene Tun in all seinen Auswirkungen beurteilen zu können (und zu wollen).

Wie beeinflusst mein Handeln mein Gegenüber, meine Familie, Kolleg*innen, die Nachbarschaft – letztlich die Welt? Ausgehend von einem tantrischen Netz, in dem alles Leben miteinander verbunden ist, hat jede meiner Bewegungen eine Auswirkung auf das Ganze. Jedes Tun wirkt sich aus – auch das Nicht-Tun.

Unverbundenheit und Unverbindlichkeit

Verbindung und Verbindlichkeit
Foto: Jasmina007/Getty Images Signature via Canva

Die Art von Verbundenheit, wie ich sie hier beschreibe, ist unsere Ursehnsucht. Sie ist eine Sehnsucht der Seele. Wir möchten zu einer Existenzebene zurückkehren, die wir tief in uns zeitlos erfüllt erleben – im Inneren sind wir verbunden. Wir sind eins – immer schon. Trotzdem leben wir die Trennung auf so vielen Ebenen: Zum einen die Trennung von dem, was wir Umwelt nennen. Hier ich – dort Welt. Dazwischen ganz viel (dicke) Luft. Dann die Trennung von Menschen, die meist “die anderen” sind. Über Urteile, Meinungen und alles, was unser Denken so produziert, halten wir sie fern von uns. Und wünschen uns zugleich verzweifelt Nähe. Und zuletzt die Trennung in und von uns selbst – von Verstand und Herz, von Ego und Selbst, von Körper und Geist.

Es ist diese Trennung, aus der Unverbindlichkeit entsteht, denn sie verhindert, dass wir uns einlassen können. Wir bleiben getrennt vom großen Ganzen und flüchten uns ins denkende Wollen, Vergleichen, Erwarten, weil unsere innere Stimme irgendwann verstummt ist. Wir haben nicht nur das Vertrauen in uns selbst verloren, sondern auch in vieles, was Generationen vor uns noch Halt gab – zum Beispiel in die Autorität von Eltern, Lehrer*innen, Ärzt*innen, einer Religion oder den Medien.

Dann wäre es also im Umkehrschluss diese innere Stimme, die wir benötigen, um ein klares, sattes Ja zu sagen? Aus einem kraftvollen Selbstmitgefühl heraus und durch eine fühlende Wahrnehmung der Verbundenheit könnten wir unseren Verbindlichkeitsmuskel stärken – vielleicht über Yoga. Als achtfacher Pfad hilft uns Yoga, die Verbindung zur eigenen Wahrnehmung einzugehen. Yoga heißt Verbindung, bringt uns in Verbindung mit der eigenen Wahrheit, aus der heraus unsere Sprache klar und deutlich werden kann. Verbindlich.

Du, das fühlt sich gerade falsch an…

Andererseits entsteht aus dem ausschließlichen und/oder “zwanghaften” Lauschen auf die innere Stimme, wie es in der spürenden Selbstwahrnehmung gerade modern ist, wiederum Unverbindlichkeit. Oft bekomme ich im spirituell erfahrenen Umfeld zu hören: “Du, es fühlt sich gerade nicht richtig an, heute mit dir ins Kino zu gehen, ich möchte lieber im Wald sein, mich mit der Natur verbinden.” Absage. Leerstelle in meinem Kalender. Dieser Gegensatz ist spannend, oder?

Du handelst vielleicht aus der Verbundenheit allen Seins heraus. Du nimmst deine innere Stimme in diesem Augenblick wahr und du nimmst sie ernst, damit du dich weiter verbunden fühlen kannst. Das ist tatsächlich wichtig, aus all den oben genannten Gründen. Ich möchte aber mit dir ins Kino gehen, weil wir verabredet waren und ich mich darauf gefreut habe. Ich möchte mich über das gemeinsame Tun mit dir verbunden fühlen und mich auf dich verlassen können. Auch das ist wichtig. Wie lösen wir das auf? Wie priorisieren wir die “Verbundenheit allen Seins”, die dich inspiriert, unsere Pläne zu ändern?

In Verbindung bleiben

Verbindung und Verbindlichkeit-Andrea Goffart
Foto: Brothers91/Getty Images via Canva

Hier gibt es tatsächlich ein Paradox, das wir nur situativ und mitfühlend auflösen können, indem wir unbedingt weiter miteinander verbunden bleiben und uns nicht im Groll abwenden. Aus der Verbindung heraus zeige ich dir, dass ich enttäuscht bin, mich auf unser “Wir” gefreut hatte, und ich zeige dir zugleich, dass ich dein Bedürfnis verstehen kann. Aus der ganz konkreten Verbundenheit heraus – wenn wir sie nicht verkürzt als spirituelle Rettungsinsel wahrnehmen – können wir den Konflikt gemeinsam lösen, indem wir uns zeigen, uns öffnen und auch mal Dinge ansprechen, die nicht angenehm sind, sondern als problematisch oder peinlich wahrgenommen werden.

Auch das ist Verbindlichkeit – sich nicht abzuwenden und ins Schneckenhaus zurückzuziehen, weil mich mal wieder niemand versteht. Ich bleibe stehen und habe einen Standpunkt und du hast deinen und wenn wir unsere Bedürfnisse (an-)erkennen, dann können wir uns festlegen – vielleicht heute auf einen gemeinsamen Waldspaziergang?

Wenn wir auf diese Art aus der Verbundenheit agieren, könnte es dann geschehen, dass gerade aus dem gemeinsamen Auflösen einer konkreten Verbindlichkeit etwas Größeres entsteht? Könnte aus diesem gegenseitigen Mit-Teilen nicht eine tiefere Verbindung entstehen, gegründet auf der Gewissheit, gemeinsam Teil der lebendigen Wirklichkeit zu sein?


Autorin Andrea Goffart

Andrea Goffart freut sich, wenn sie Abgabetermine für Artikel einhält und pünktlich zu Verabredungen erscheint. Als Autorin und Schreibcoach unterstützt sie Menschen dabei, ihre Geschichten zu erzählen und macht die verbindende Kraft des Schreibens erlebbar. Mehr über die Autorin findest du auf ihrer Website.


Auch unsere Redaktion hat sich mit dem Thema Verbundenheit auseinandergesetzt, hier kommst du direkt zum Gespräch:

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