Wer sich im Yogakosmos bewegt, sollte das eigentlich drauf haben mit der Gelassenheit. Doch was tun, wenn Herz, Hirn und Nerven nicht so richtig mitmachen? Ein Erfahrungsbericht.
„Was tun bei Heißhunger auf Kartoffelchips? Greifen Sie einfach zu Rohkost-Sticks!“ Ein Tipp, den ich ungefähr so schon des Öfteren in Zeitschriften entdeckt habe und den ich als ähnlich hilfreich empfinde wie viele Ratschläge, die mir zum Thema „Gelassenheit“ entgegenspringen: „Lerne loszulassen!“ „Entspann dich!“ „Akzeptiere deine Fehler!“ „Lebe bewusster!“ Hm. Ja. Danke. Und was, wenn ich das einfach nicht hinkriege, verdammt?
Wir kennen sie alle – diese Menschen, die auch dem ärgsten Trubel mit stoischer Ruhe begegnen, lächelnd allen verzeihen, die ihnen Unrecht tun, und nie-nie-nie auf die Idee kämen, sich aus Frust den Bauch mit Sahnetorte vollzuschlagen. Weil Frust für sie ohnehin ein Fremdwort ist und sie sowieso nie Lust auf ungesunde Leckereien haben. Darauf ein kleines Stückchen Dattelkonfekt!
Und hey, nicht missverstehen – ich liebe Dattelkonfekt und Rohkost-Sticks. Aber eben nicht nur und nicht immer. Genauso begegne ich Problemen manchmal ganz schön unvernünftig, und darum fühle ich mich neben besagten tiefenentspannt-perfekten Wonderwomen und -men oft ganz schön klein. Was mich dann erst recht stresst. Und Stress ist Gift für eine gelassene Grundhaltung, so weit sind wir uns wahrscheinlich einig.
Energiequellen und -räuber
Aber gut, so kommen wir ja nicht weiter. Wir brauchen handfeste Tipps. Und tatsächlich bin ich schon ein bisschen weiter als noch vor einem halben Jahr, denn ich habe immerhin herausgefunden, wo meine Stressoren liegen, also die Ursachen meiner zeitweiligen Unentspanntheit. Möglich machte mir das eine zweimonatige Auszeit auf Bali und den Gili-Inseln mit viel Yoga und Meditation. Das ist eine ganz schöne Luxus-Position, aus der heraus ich jetzt schlau daherrede, schon klar. Doch vielleicht lässt sich der Aha-Effekt, der mich ereilte, ja auch anders herstellen. Mein Aufenthalt dort war nämlich geprägt davon, dass ich so ziemlich das Gegenteil von dem tat, was sonst mein Leben bestimmt, und dadurch feststellen konnte, was ich vermisse – und was nicht. Ein Vorgehen, das auch ohne Fernreise einen Versuch wert sein könnte.
Vielleicht genügt schon ein Zeitraum von ein oder zwei Wochen, um neue Erkenntnisse zu bringen. Hängen Sie zum Beispiel Abend für Abend auf der Couch und gucken Serien? Dann raus mit Ihnen ins Kino, zum Sport, zum Tanzen, einfach unter Menschen! Können Sie es nicht leiden, wenn in Ihrer Wohnung Dinge nicht an ihrem Platz stehen und räumen ständig auf, was andere Familienmitglieder liegen lassen? Zwingen Sie sich mal zum Nichtstun und gucken Sie, was passiert! Und dann seien Sie ehrlich zu sich. Was machen die neuen Eindrücke mit Ihnen? Geht es Ihnen gut damit oder gerade nicht? Unterbewusst ahnen Sie wahrscheinlich ohnehin schon, wo Ihre Energiequellen und -räuber liegen. Individuell kann das ganz verschieden sein.
Gelassen auf dem Sofa
In meinem Fall liegt der Fall ziemlich eindeutig, doch als ich endlich so weit war, zu meinem Wissen zu stehen, brachte das mein Selbstbild als offene, lebenslustige Menschenfreundin erst mal gehörig ins Wanken. Denn was ich in der Ferne mit am wenigsten vermisste, waren: andere Leute. In den ersten vier, fünf Wochen meiner Auszeit war ich mir selbst genug, erst dann hatte ich vereinzelt wieder Lust auf Begegnungen und konnte diese auch wirklich genießen. Ganz anders in meinem deutschen Alltag, in dem ich oft von der Yogastunde zur Vernissage und von dort ins Theater hüpfe, um schließlich noch erschöpft, leicht gereizt und viel zu spät auf einer Geburtstagsparty zu landen.
Würde ich auf meine eigenen Grenzen hören, dann würde ich merken: Eins oder auch keins davon täte mir häufig viel besser. Meine Lektion: Öfter mal Nein sagen und aushalten, dass ich eventuell das Event des Jahres verpasse. Für einen Abend, den ich dann ganz gelassen und zufrieden auf dem Sofa verbringen darf. Oder mit mir allein am See. Ein paarmal habe ich es schon geschafft. Es dürfte ruhig noch etwas öfter sein, aber ach … Von dem Gedanken lasse ich mich jetzt mal nicht stressen. Oder schon ein bisschen, wenn ich ehrlich bin. Aber wie war das? „Akzeptiere deine Fehler!“ Vielleicht ja doch kein so schlechter Tipp.
Alles Gute Ihnen!
CARMEN SCHNITZER kommt schnell mit Leuten ins Gespräch und „tanzt“ auf vielen „Hochzeiten“. Doch so langsam realisiert sie: Menschen sind für sie wie Schokolade – in Maßen ein Genuss, in Massen ungesund.