Im Einklang mit der Gesellschaft

Wenn wir eine bessere Welt wollen – hilft es dann, gegen die bestehende zu kämpfen? Wenn wir die Gesellschaft, in der wir leben, ablehnen, sind wir noch nicht so weit, wirklichen Frieden zu bringen.

In den vergangenen Monaten habe ich in meinem Bekanntenkreis häufig folgenden Satz gehört: „Wir sind auf dem Weg in eine neue Gemeinschaft der Liebe und der Freiheit.“ Was mich daran stutzig macht, ist, dass diese Worte oft als Begründung benutzt werden, um sich sowohl von traditionellen als auch modernen Schemata wie der Ehe oder den Grundgesetzen zu verabschieden. Manche dieser Menschen sehen sich als „spirituelle Krieger“. Ich habe da so meine Zweifel…

In den alten indischen Schriften wird beschrieben, dass sich Vishnu immer wieder hier auf Erden inkarniert, wenn es ihm bei uns zu bunt wird: „Immer wenn die Rechtschaffenheit verfällt, Oh Arjuna, und das Unrecht wächst, manifestiere ich mich.“ (Bhagavad Gita, 4.7.) Das tut er in verschiedenen Formen. Mal ist er halb Mensch, mal halb Löwe, mal kommt er als Prinz Rama, um den Dämon Ravana in seine Schranken zu weisen. In einer seiner berühmtesten Inkarnationen – als Krishna – ist er nicht nur ein großartiger Flötenspieler und Lehrer, sondern auch ein ambitionierter Politiker.

Als seine Heimat Mathura angegriffen wurde, zog Krishna nicht in die Schlacht. Stattdessen wanderte er mit seinem Stamm der Yadavas nach Westen, um die Menschen zu beschützen. Er suchte nach einem Platz für den perfekten Staat, in dem es keine Kriege mehr geben sollte – und er fand ihn an der Küste. Es war ein Ort, wo Magnolien blühten und sich der Duft von Eisenhölzern (aus denen die Nag-Champa-Räucherstäbchen gemacht werden) mit dem Geruch von frischen Früchten und Kokosnüssen vermischte. Alles war paradiesisch und Krishna wartete nur noch auf einen astrologisch günstigen Tag, um die neue Stadt Dvaraka zu gründen. Es hätte so schön sein können.

Aber wie uns der altindische Epos Mahabharata in achtzehn Bänden überliefert, kam es plötzlich zu Geschwisterstreitigkeiten, die in einen schrecklichen Krieg zwischen den Pandavas und den Kauravas mündeten. Krishna beteiligte sich als Wagenlenker an den Kämpfen. Dabei wollten doch alle nur Frieden. Wie kann es trotz hehrer Beweggründe immer wieder zum Streit kommen? Es lohnt sich, die Motive, die uns zum Handeln bewegen, genauer zu betrachten.

Ein „spirituelle Krieger“ geht davon aus, dass er nur das Beste für alle will und sein Denken die ganze Welt einschließt. Deshalb singen wir „Lokah Samastah Sukhino Bhavantu“ – „Mögen alle Lebewesen glücklich und frei sein“. Aber meinen wir wirklich immer alle Wesen? Oder meinen wir nicht manchmal vor allem uns selbst? Als in den 1960er-Jahren viele Menschen gegen den Vietnamkrieg protestierten, beriefen sich alle darauf, dass Krieg unmoralisch sei. Als Motive der Protestierenden genauer untersucht wurden, zeigte sich, dass tatsächlich viele von ihnen weltzentrisch dachten. Genau so viele Demonstranten waren aber darunter, deren Beweggründe schlicht egozentrisch waren: „Mir sagt keiner, was ich zu tun habe“. Unter dem Deckmantel des post-konventionellen Denkens blühte also das kindliche Ego-Schema. Ken Wilber nennt das die „Prä-/Trans-Verwechslung“. Und die erwischt viele Yogis auch während der Meditation. Wir denken, wir hätten transpersonale Erfahrungen, während wir in Wirklichkeit „nur“ ein kindliches Einheitsgefühl erleben.

Wenn sich ein „spiritueller“ Mensch von der Gesellschaft unverstanden denkt (hier darf nicht „fühlt“ stehen, denn das Wort „unverstanden“ ist an sich schon eine Interpretation), dann befindet er sich im Widerstand, egal wie sehr er betont, dass er „voller Liebe“ sei. Durch dieses Denken schließt er nämlich viele andere aus. Die Lösung wäre vielleicht, das, was uns stört, einzubeziehen in eine Vision von einer anderen (größeren, aber nicht besseren) Welt.

Wenn die Geschichte wahr ist, dann hatte Krishna damals keine Chance. Fünfhundert Jahre vor Christi Geburt war das postkonventionelle Denken noch nicht sehr weit verbreitet. So ließ er seinen perfekten Staat dann auch nach seinem Tod untergehen. Heute sind wir ein bisschen weiter. Wir haben nicht nur gelernt, uns von alten Werten und Leistungszwängen zu lösen; wir können sie auch in unser Leben integrieren, wenn es sinnvoll ist. Es ist gut, wenn wir uns politisch engagieren. Es ist gut, wenn wir uns spirituell engagieren. Wichtig ist nur, dass wir genau hinschauen, warum wir das tun. Wenn Sie jemand dazu aufruft, gegen etwas – ganz egal, was es ist – zu sein, schauen Sie erst einmal ganz genau, wie sich das für Sie anfühlt.

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