Musik versteht sich wie Yoga als universelle und all gemeinverständliche Sprache. Auch deshalb passt beides besonders gut zusammen: Es macht nicht nur Spaß, sondern auch Sinn, Musik zum festen Bestandteil des eigenen Yoga zu machen.
Was dem Musiker das tägliche Musizieren, ist dem Yogi seine tägliche Praxis auf der Matte: Die Erfahrungen durch die intensive Beschäftigung mit Musik oder Yoga ähneln sich. Der weltberühmte Cellist Pablo Casals schreibt in seinen Erinnerungen: „Die letzten achtzig Jahre (sic!) habe ich jeden Morgen auf dieselbe Weise begonnen, nicht etwa mechanisch, aus bloßer Routine, sondern weil es wesentlich ist für meinen Alltag: Ich gehe ans Klavier und spiele zwei Präludien und zwei Fugen von Bach. (…) Es ist so etwas wie ein Haussegen, aber es bedeutet mir noch mehr: Die immer neue Wiederentdeckung einer Welt, der anzugehören ich mich freue. Durchdrungen von dem Bewusstsein, hier dem Wunder des Lebens selbst zu begegnen, erlebe ich staunend das schier Unglaubliche: Ein Mensch zu sein.“ Genau das will Mark Whitwell mit seiner Aufforderung „Feiere das Leben“ („Celebrate Life“) sagen, die er zu Recht als Essenz des Yoga versteht. Jeden Tag aufs Neue ein Bewusstsein für das Wunder des Lebens zu schaffen und sich darüber zu freuen, ist der Ausgangspunkt und die Basis aller yogischen Bemühungen, von denen in dieser Kolumne die Rede ist.
In allen Yogatraditionen wird beständiges Üben betont. Der Fachbegriff im Yoga-Sutra (1.12) lautet „Abhyasa“. Herbert von Karajan sagt dazu: Das Neue entsteht durch Wiederholung. Und der aktuelle Shooting-Star der Klassikszene, Igor Levit, erklärt zu den späten Beethoven-Klaviersonaten, die er gerade aufgenommen hat: „Ich habe sie 1000 Mal gespielt, 2000 Mal gehört und 5000 Mal durchdacht.“ „Der Geist muss im Yoga schwitzen wie der Körper“, sagt wiederum B. K. S. Iyengar. Bei Musik und Yoga geht es um unbedingte Konzentration und Ausrichtung, auch um Versenkung und Auflösung. Herbie Hancock beschreibt das Entstehen seiner Musik als das „auf sein Inneres Hören und Lernen“. Wichtig ist ihm dabei die größtmögliche Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, wie er in einem Interview sagte. Exakt das gleiche Ziel hat der Yogaweg.
Die Improvisation (oder die Intuition) spielt hierbei für Yogis und Musiker eine besondere Rolle. Der Jazzmusiker Keith Jarrett sagt, wenn er ans Klavier gehe, müsse er völlig nackt sein, womit er das völlige Fehlen vorfabrizierter Ideen meinte. „Der Yogi soll ein leeres Gefäß sein“ („Come like an empty cup“), empfiehlt auch Sharon Gannon, die Gründerin der Jivamukti-Methode. Charlie Haden, ebenfalls ein Jazzmusiker, spricht von der Spiritualität der Improvisation, von der Sensibilität und Demut, die sie ihn lehre. Mit seiner Musik will er eine höhere Bewusstseinsebene erreichen und er empfindet das Unterrichten von Musik als Mittel, dem Eigennutz und der Selbstsucht der Menschen Bescheidenheit entgegenzusetzen. Die Geschichte des amerikanischen Folkmusikers Sixto Rodriguez, dokumentiert im Film „Searching for Sugar Man“, macht dies überdeutlich: Erst als alter Mann erfährt er von seinem Ruhm und gibt plötzlich große Konzerte. Aber er bleibt derselbe. Man muss das gesehen haben, um diesen Aspekt yogischer Bescheidenheit von jemandem
zu lernen, der gar kein Yoga übt.
Für mich ist es verblüffend, wie sehr die Auskünfte und die Lebenswege der zitierten Musiker meinem Verständnis von Yoga entsprechen. Die Gemeinsamkeit besteht offenbar einerseits in der intimen Selbsterforschung und andererseits in der intensiven Kommunikation mit anderen – Empathie und Verbundenheit. Musik ist ein „Herzöffner“ wie ein früherer YOGA JOURNAL -Titel lautete. Insofern hat Musik, genau wie Yoga, eine starke ethische Dimension: Wir lernen, anderen Menschen (aber auch Tieren oder Pflanzen) genau zuzuhören, uns in sie hineinzuversetzen und mit ihnen zu fühlen. Zum Schluss noch einmal Pablo Casals: „Manchmal schaue ich mich um und habe das Gefühl einer tiefen Bestürzung. In all der Verwirrung, die in der heutigen Welt ausgebrochen ist, sehe ich mangelnde Ehrfurcht vor den wahren Werten des Lebens. Überall um uns ist Schönheit, aber wie viele sind blind für sie. Sie sehen die Wunder dieser Erde und scheinen nichts zu erblicken. Die Menschen sind in hektischer Bewegung, aber wohin die Reise führt, bedenken sie kaum. Sie suchen Erregung um jeden Preis, als ob sie hoffnungslos verloren wären. Die natürlichen, ruhigen und einfachen Dinge des Lebens machen ihnen wenig Freude. Jede Sekunde, die wir in diesem Universum verbringen, ist neu und einzigartig. Dieser Augenblick war zuvor nicht und wird nie wiederkehren.“ Das hätte kein Yogalehrer besser sagen können.
Michi Kern ist einer der Mitbegründer der Jivamukti- Yogaschulen in München, wo er auch unterrichtet. Er betreibt diverse Clubs sowie Restaurants und studiert Philosophie.