Philosophieprofessor und Jesuit Michael Bordt über Sehnsucht und Spiritualität

Christentum, Buddhismus, Hinduismus, Yoga- oder klassische Philosophie: Die Suche nach einem tieferen Sinn beschäftigt Menschen immer und überall. Was uns alle eint – und was Spiritualität gerade in der gegenwärtigen Zeit ausmacht –, erklärt hier der Philosophieprofessor und Jesuit Michael Bordt im Interview mit YOGA JOURNAL Chefredakteurin Stephanie Schauenburg.

Text: Stephanie Schauenburg / Fotos: Niko Schmid-Burgk

Wir reden heute ständig über Spiritualität, aber der Begriff bleibt oft seltsam diffus. Wie würden Sie Spiritualität definieren?
Natürlich hat jeder das Recht, unter Spiritualität alles Mögliche zu verstehen. Aber was ich schon hilfreich finde, ist der Hinweis darauf, dass der Begriff vom Ursprung her in den Religionen seinen Platz hat: Er bezeichnet die Erfahrung Gottes oder des Göttlichen – was immer man darunter dann verstehen mag.

Um was geht es konkret?
Im Wesentlichen um zwei Elemente: Zum einen haben alle großen Religionen Übungen entwickelt, die Menschen helfen, sich Gott, diesem Göttlichen, dem Ursprung, dem Universum zu nähern. Zum zweiten gibt es in den Religionen jeweils einen bestimmten Deutungsrahmen für diese Erfahrung. Sie versuchen, Antwort zu geben auf die großen, existenziellen Fragen des Menschen: Warum lebe ich, warum sterbe ich, was kommt nach dem Tod, was hat das Leben für einen Sinn?

Fragen, die sich eigentlich alle Menschen stellen, auch außerhalb von Religion.
Natürlich. Menschen beschäftigen sich auf ganz vielfältige Weise mit diesen Fragen. Das fängt in der abendländischen Philosophie schon mit Platon und Sokrates an und kann ganz unabhängig sein von einem religiösen Rahmen – dann allerdings auch unabhängig von deren praktischen Übungswegen: Dinge wie Meditation oder eben auch Yoga sind traditionell eher charakteristisch für Religionen. Yoga zum Beispiel steht ja ursprünglich im Kontext des Hinduismus.

Hinter diesen großen Fragen scheint eine tiefe Sehnsucht zu stehen. Was ist das?
Wir haben das sichere Gefühl, dass etwas fehlt zum erfüllten, glücklichen Leben. Oder eine Ahnung davon, wie es sein könnte, wenn das Leben gut wäre. Und wir haben den Eindruck, wir wissen gar nicht, wie wir das erreichen sollen – und was genau uns eigentlich fehlt.

Das klingt, als läge hier der Ausgangspunkt jeder spirituellen Suche?
Ja, alles beginnt mit dieser Sehnsucht. Sie ist etwas ganz anderes als ein Wunsch oder ein Begehren: Wenn wir das Gewünschte haben, ist der Wunsch erst mal weg. Wenn wir dagegen etwas erleben, was diese existenzielle Sehnsucht berührt, dann gibt ihr das neue Nahrung: Die Erfüllung der Sehnsucht ist wie ein Motor, der uns nur noch stärker antreibt.

In der modernen Spiritualität hört man oft Sätze wie: “Alles, was du suchst, ist schon in dir. Du bist verbunden mit dem Alleinen. Du bist vollkommen.” Würgt man damit nicht auch diesen spirituellen Motor ab: die Sehnsucht?
Das ist ein guter Punkt. Für mich ist der entscheidende Reifeprozess einer Spiritualität die Bereitschaft und Fähigkeit im Umgang mit Leid, Schmerz und Mangel – der spirituelle Weg führt genau da hindurch. Was ich an dieser “YouTube- Light-Spiritualität” so anstrengend finde, ist, dass suggeriert wird, man könne die Einheitserfahrungen machen, ohne auch die “dunkle Nacht der Seele” zu erleben, wie es bei den Mystikern heißt.

Andererseits kennen wir ja alle diese Momente, in denen auch ganz unabhängig von jeder Praxis auf einmal alles gut ist und wir eine tiefe Verbundenheit mit allem erleben.
Schon, aber Spiritualität dreht sich nicht darum, diese flüchtigen Momente zu suchen und sein Leben danach einzurichten, dass sie sich vielleicht häufiger einstellen. Das würde schnell ganz krampfig.

Worum geht es dann?
An seiner Sehnsucht dranzubleiben, denn sie ist die beste Führerin. Wer bei seiner Suche nach einer authentischen Spiritualität nicht bei der eigenen Sehnsucht ansetzt und sich von ihr leiten lässt, der gerät in Gefahr auf halbem Weg stecken zu bleiben. Dann wird die Praxis mechanisch. Oder eine Mode, die man wechselt, wenn eine neue angesagt ist.

Aber was, wenn man überhaupt keine Sehnsucht spürt? Vielleicht weil man in seinem Alltag unglaublich gefordert ist, oder weil man gewohnt ist, sich ständig abzulenken?
Dann gibt es immer noch etwas, das Ignatius von Loyola “Sehnsucht nach der Sehnsucht” genannt hat: Man spürt die Sehnsucht nicht, aber man merkt: Es wäre gut, wenn ich wieder an so etwas dran wäre. Das ist dann kein Gefühl, sondern eher ein Bewusstsein der eigenen Verfassung. Das kann schon genügen, um sich, modern gesprochen, auf einen spirituellen Weg zu begeben.

:PROF. MICHAEL BORDT SJ ist Jesuit, Philosoph, Theologe, Meditationslehrer – Foto: Niko Schmid-Burgk

Ihr Buch “Die Kunst, unserer Sehnsucht zu folgen” trägt den Untertitel: “Spiritualität in Zeiten des Umbruchs”. Wie wirkt sich diese Umbruchsstimmung aus?
Gesellschaftlicher Umbruch führt immer zu Polarisierungen und die wiederum führen in die Moralisierung: Man teilt nicht nur die Welt ein in die Guten und die Schlechten, sondern oft genug auch sich selbst. Damit droht sehr viel von dem verloren zu gehen, was für unser inneres Leben so bedeutungsvoll ist: genaue Wahrnehmung, Sensibilität, Empathie, Zuhören und Verstehenwollen.

Es passiert also das genaue Gegenteil von dem, wonach wir uns in der spirituellen Praxis eigentlich sehnen: Verbundenheit, Frieden …
Ja. Wobei, das möchte ich auch sagen, eine Meditation ja nicht dann erst gut ist, wenn ich besonders viel Ruhe und Frieden spüre. Sondern eher, wenn ich immer wieder treu, sanft, aber bestimmt den Versuch mache, zum Anker, zum Atem, zurückzukehren. Natürlich ist es angenehmer, wenn ich Ruhe spüre, und unangenehmer, wenn mein Geist wild herumspringt. Aber auch da, wo es um die Spiritualität selbst geht, ist unser Hang zu Bewertungen eben problematisch.

Aber es ist doch nur menschlich, dass ich einen Zustand vorziehe, in dem es mir gut geht, in dem ich in Resonanz mit meiner Umgebung bin?
Natürlich. Aber dann kann es eben passieren, dass Menschen, nur weil ihre Meditation unruhig ist, das Gefühl haben: Ich mache es nicht richtig. Ich komme nicht weiter. Das bringt mir nichts. Ich lasse es wieder sein.

Was wäre da Ihr Rat?
Auf den Alltag zu schauen. Die Meditation kann über lange Strecken anstrengend sein, die Frage ist, ob man dadurch Veränderungen im Alltag bemerkt: Nimmt man andere Menschen, sich selbst oder Situationen anders wahr? Wird man emphatischer? Bereichert sich das emotionale Erleben?

Alles Qualitäten, die in diesen Zeiten eine große Hilfe sein können – aber es ist eben auch schwieriger, inmitten all dieser Reibungen und Konflikte überhaupt da hinzukommen …
Viel schwieriger.

Ich frage mich da oft: Wie kann ich in dieser gereizten, polarisierenden Stimmung mein Herz offen halten?
Da gibt es einen schönen Satz von Oscar Wilde, den er aus dem Gefängnis heraus an seinen Geliebten geschrieben hat: “Herzen sind dazu gemacht, gebrochen zu werden. Sie dürfen nur nie zu Stein werden.” Das finde ich so schön: Die Fähigkeit, mit den Dunkelheiten im Innen und Außen auf eine andere Art und Weise umzugehen.

Das Ziel unserer Sehnsucht wäre demnach …
… die umfassende Liebe, ja. Was einem das Leben oft so schwer macht, ist, dass man so vieles ablehnt, so viele Menschen schwer erträgt. Wenn es dagegen so wäre, dass man nichts und niemanden aus dem Weg gehen müsste, weil man die Liebe allem gegenüber hat – das wäre tatsächlich ein glückliches Leben.

Klingt nach einer sehr fortgeschrittenen Form von Spiritualität.
Ja, aber ich finde wichtig, dass man weiß: Da geht es hin. Das ist auch eines der großen Dramen des Christentums heute, dass dieser Gedanke entweder zu kurz kommt, oder er wird in moralisierender Form vermittelt. Aber dass es praktische Übungswege gibt, die helfen, sich in jemand transformieren zu lassen, der mehr und mehr so lebt, das kommt nicht ausreichend vor.

Vielleicht sind deswegen die Yogastudios voll und die Kirchen leer.
Die spirituelle Sehnsucht der Menschen ist kaum noch ein Thema der Kirchen – und dann sucht man völlig zu Recht woanders. Das finde ich sogar sehr positiv, dass da so viel Sehnsucht und Suche ist. Es ist nur schade, wenn dann irgendwelche Säuselstimmen auf YouTube suggerieren, dass alles sowieso schon gut ist.

In ihrem Buch sprechen Sie davon “Menschen von ihren Verwundungen her verstehen zu können”. Vielleicht gilt das im übertragenen Sinn auch für unsere Welt, für diese Zeit?
Ja. Bei Paulus im Römerbrief gibt es dazu ein schönes Bild: Dass die ganze Schöpfung in den Wehen liegt. Alles muss erlöst werden und alle Menschen, die gesamte Natur sind in diesen spirituellen Prozess eingeschlossen.

Uns Yogi*nis wird da gerne mal vorgeworfen, wir säßen auf unseren Kissen und meditierten uns in eine rosarote Seifenblase hinein, anstatt diese wichtigen Aufgaben in der Welt mit anzupacken.
Aber es stimmt ja nicht, dass die Praxis dazu führt, dass man alles rosarot sieht und sich nicht mehr einmischt. Mir gefällt da sehr gut das Motto von Frère Roger, dem Gründer der Gemeinschaft von Taizé: Mit versöhntem Herzen kämpfen. In einer reifen Spiritualität steigt auch die Sensibilität für das Leiden anderer – und das führt dazu, dass man etwas tun möchte. Der Unterschied zu vielen anderen Aktivisten besteht aber darin, dass man mit diesem versöhnten Herzen aktiv wird und nicht, weil man es alles nicht mehr aushält.

Also raus aus der spirituellen Bubble und mitten hinein in die Zeit des Umbruchs?
Für mich ist das sogar ein Kriterium für eine reife Spiritualität: Führt sie in einen privaten Rückzug, wo man nichts mehr an sich herankommen lässt, was die innere Ruhe angeblich stört – oder führt es zu einer größeren Empathiefähigkeit, die einen auch dazu drängt, etwas zu tun.

Da schließt sich eigentlich wieder der Kreis zur Sehnsucht: Hier ist es die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Wobei der Weg dorthin ja für jeden und jede sehr verschieden sein kann. Wie finde ich meinen eigenen, persönlichen spirituellen Weg?
Indem ich mich immer wieder frage: Wo spüre ich Resonanz? In dieser Selbstwahrnehmung wird die Sehnsucht zu einer Führerin und zu einem Motor, der mich mit jeder Erfahrung weiter in Bewegung setzt.

Als heutige Menschen können wir unglaublich viele spirituelle Traditionen anzapfen und überall etwas herauspicken, das uns anspricht. Wird es da nicht beliebig?
Mir ist das ziemlich egal, wo jemand sich etwas hernimmt, ob das jetzt Yoga ist, die christliche Mystik, der tibetische Buddhismus oder was auch immer. Hauptsache, man nimmt es ernst und übt es von Herzen. Solange es nicht dazu führt, dass man einfach zur nächsten Tradition, zur nächsten Praxis springt, wenn es auf dem Übungsweg schwierig wird. Mich interessieren da eher die strukturellen Parallelen. Der Kern der Spiritualität ist ja überall derselbe: Es geht immer um die Liebe.


PROF. MICHAEL BORDT SJ ist Jesuit, Philosoph, Theologe, Meditationslehrer – und er beginnt jeden Morgen mit ein paar Yogaübungen. In seinem sehr empfehlenswerten Buch “Die Kunst, unserer Sehnsucht zu folgen. Spiritualität in Zeiten des Umbruchs” (Elisabeth Sandmann Verlag) schlägt er den Bogen von der spirituellen Suche moderner Menschen zu den großen philosophischen und religiösen Traditionen. Er zeigt: Ruhe, Frieden, Verbundenheit, all das wonach wir uns sehnen, findet sich, wenn wir “unserer spirituellen Identität Zeit und Raum geben, sich in uns zu entfalten.”


Dieser Artikel ist aus dem YOGA JOURNAL Nr. 78. Mehr Beiträge zum Titelthema “Sehnsucht nach Sinn” findet ihr im Heft.

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